Entnazifizierung

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Verfasst von Peter Longerich

Von den Besatzungsmächten nach 1945 initiierte Maßnahmen zur Befreiung der deutschen Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und anderer Institutionen von allen nationalsozialistischen Einflüssen

Entnazifizierugsfragebogen der US-Militärregierung (erste Seite) | NS-Dokumentationszentrum München, Sammlung

Die Vernichtung des deutschen „Militarismus“ und „Nazismus“ gehörte zu den zentralen Zielen der vier alliierten Mächte im Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland. Neben der Auflösung von Wehrmacht und NSDAP, der Aufhebung nationalsozialistischer Rechtsvorschriften sowie der Beseitigung nationalsozialistischer Symbole aus der Öffentlichkeit bildete die personelle Säuberung von öffentlichem Dienst und Wirtschaft von Nationalsozialisten den eigentlichen Kern der „Entnazifizierung“. Wie sich herausstellen sollte, handelte es sich um ein schwieriges, in der deutschen Gesellschaft heftig umstrittenes Projekt, das letztlich weitgehend scheiterte. Als ersten Schritt der Entnazifizierung nahmen die Besatzungsmächte unmittelbar nach dem Ende der Kampfhandlungen Massenverhaftungen ehemaliger Nationalsozialisten vor und entließen einen erheblichen Teil der Angehörigen des öffentlichen Dienstes.

So wurden in der amerikanischen Zone bis Anfang August 80.000 Personen verhaftet und weitere 70.000 entlassen. Im Juli 1945 wurde hier der große „Fragebogen“ mit 131 Positionen eingeführt und im September 1945 die Entnazifizierung auf die gesamte Wirtschaft ausgedehnt. Im März 1946 waren in der amerikanischen Zone fast 337.000 Personen von Entlassungen bzw. Ablehnung einer Einstellung betroffen, wobei der Schwerpunkt der Säuberung eindeutig auf dem öffentlichen Dienst lag, dessen Personal in einem erheblichen Umfang ausgewechselt wurde. In Hessen waren zum Beispiel bis zum 1.5.1946 57 Prozent aller Beamten entlassen worden. Die amerikanische Militärregierung nahm seit 1946, nicht zuletzt unter innenpolitischem Druck, eine Vorreiterrolle bei der Entnazifizierung ein.

Grundlage bildete das Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5.3.1946, das in Verhandlungen zwischen der Militärregierung und den drei Landesregierungen der amerikanischen Zone – Hessen, Württemberg-Baden und Bayern – formuliert wurde und daher einen problematischen Kompromiss zwischen den schematischen Säuberungsvorstellungen der Amerikaner und dem Wunsch der Deutschen nach einem rechtskonformen, die individuellen Schicksale berücksichtigenden Verfahren darstellte. Wesentliche Elemente der auf der Grundlage des Gesetzes durchgeführten Entnazifizierung waren die Ausdehnung der Pflicht zur Ausfüllung des Fragebogens auf die gesamte Bevölkerung über 18 Jahren, die Durchführung der Entnazifizierung durch deutsche Organe, die sogenannten Spruchkammern, die nach dem Prinzip des richterlichen Ermessens arbeiteten, sowie die Einteilung der betroffenen Personen in fünf Kategorien: I. Hauptschuldige, II. Belastete, III. Minderbelastete, IV. Mitläufer, V. Entlastete. Die Sühnemaßahmen, die die Spruchkammern verhängen konnten, bestanden unter anderem in der Inhaftierung in Arbeitslagern (bis zu zehn Jahren für Hauptschuldige), Vermögenseinziehung, Ausschluss von öffentlichen Ämtern, Entzug des Wahlrechts und der Wählbarkeit sowie dem Verbot der Tätigkeit in freien Berufen oder selbständiger Stellung.

In der Praxis zeigte sich schnell die geringe Praktikabilität dieses umfassenden Entnazifizierungsansatzes: Die Spruchkammern waren mit der Masse von Bagatellfällen überlastet und mussten die Behandlung der schwerwiegenden Fälle häufig zurückstellen. Großzügige Amnestien und verschiedene Verfahrenserleichterungen, mit denen man die Kammern wieder arbeitsfähig machen wollte, weichten die gesamte Prozedur auf. Ein gewisses Ausmaß an Korruption und die inflationäre Praxis der Betroffenen, sich gegenseitig großzügig Zeugnisse für ihre Ablehnung des NS-Regimes auszustellen (sogenannte „Persilscheine“) trugen nicht unerheblich dazu bei, die Verfahren als Farce erscheinen zu lassen. Die Ausdehnung des schematischen Vorgehens auf breite Mittelschichten führte fatalerweise zu einer kaum verhohlenen Solidarisierung mit den eigentlichen NS-Tätern. Die Entnazifizierung verlor rasch ihre anfangs durchaus vorhandene Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung und stieß zunehmend auf Widerstand.

Im Mai 1948 gab die amerikanische Militärregierung die Überwachung der Entnazifizierungsverfahren auf, die zu diesem Zeitpunkt nur noch gegen Schwerbelastete geführt werden sollte. In 950.000 Verfahren wurden schließlich in der US-Zone 1654 Hauptschuldige, 22.122 Belastete sowie 106.422 Minderbelastete (Gruppe III) festgestellt, wobei diese letzte Gruppe nur noch mit Bewährungsfristen von maximal drei Jahren zu rechnen hatte. Im Ergebnis war aus der ursprünglichen Idee der Säuberung vom „Nazismus“ ein Verfahren zur Rehabilitierung ehemaliger Parteimitglieder geworden. So befanden sich Ende 1948 unter den Beamten in der bayerischen Staatsverwaltung 41,5 Prozent ehemalige Nationalsozialisten, von denen wiederum mehr als zwei Drittel zunächst im Zuge der Entnazifizierung entlassen, dann aber wiedereingestellt worden waren.

Das Befreiungsgesetz trat Mitte 1947 auch in der französischen Besatzungszone in Kraft und wurde zum Vorbild einer neuen Regelung in der britischen Zone Ende 1947, doch nahm in diesen beiden Zonen die Entnazifizierung in der Praxis einen etwas anderen Verlauf. Die britische Besatzungsmacht ging an die Entnazifizierung weit weniger rigoros heran als die amerikanische. Die Briten wollten die Effizienz des deutschen Beamtenapparates und die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft nicht ernsthaft gefährden und verfolgten daher einen eher pragmatischen Kurs: So wurden bestimmte Wirtschaftszweige von vorneherein von der Entnazifizierung ausgenommen. Deutsche „Entnazifizierungsausschüsse“ bearbeiteten in der britischen Zone bis zum Februar 1950 über zwei Millionen Fälle: 27.177 Personen wurden in die Gruppe III eingestuft; die Gesamtzahl der Personen in den Gruppen I und II, deren Bearbeitung sich die Militärregierung selbst vorbehalten hatte, ist nicht bekannt, in Nordrhein-Westfalen waren es aber lediglich 90.

Die französische Militärregierung folgte der amerikanischen Entnazifizierungsinitiative von Anfang an nur halbherzig. Zunächst wurden noch 1945 mit deutschen NS-Gegner*innen besetzte Säuberungskommissionen tätig; die erst im Herbst 1947 eingerichteten deutschen Spruchkammern konzentrierten sich dann darauf, die Berufungen gegen die früher ausgesprochenen Entlassungen abzuarbeiten, meist mit einem positiven Ergebnis für die Betroffenen. Im Ergebnis wurden in der französischen Zone von insgesamt 669.000 durch die Spruchkammern bearbeiteten Fällen 13 als Hauptschuldige, 918 als Belastete sowie 16.826 als Minderbelastet eingestuft. 52 Prozent der Verfahren wurden eingestellt.

In der sowjetischen Zone wurde die Entnazifizierung von vorneherein als ein Instrument einer fundamentalen Umgestaltung der Gesellschaft begriffen und konsequenter betrieben als in den Westzonen. Sie erfolgte zunächst in Eigenregie der Länderregierungen und führte dazu, dass freiwerdende Posten zügig meist mit Parteigänger*innen der KPD bzw. SED besetzt wurden. Eine zweite, diesmal zentral koordinierte Entnazifizierungswelle setzte Ende 1946 ein; dabei wurden zahlreiche, früher erteilte Genehmigungen zur Weiterbeschäftigung erneut überprüft und widerrufen. Nicht zuletzt, um die Funktionsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft zu sichern, verfügte die sowjetische Militäradministration im August 1947 jedoch einen schnellen Abschluss der Entnazifizierung, der insbesondere eine Rehabilitierung der nominellen Parteimitglieder einschloss. Das offizielle Ende der Entnazifizierung verhängte die Besatzungsmacht im Februar 1948.

Quellen

Vollnhals, Clemens (Hg.): Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945-1949, München 1991.
Hoser, Paul: Entnazifizierung, publiziert am 05.02.2013 (Aktualisierte Version 15.02.2023); in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Entnazifizierung (zuletzt aufgerufen am 22.6.2023).
Niethammer, Lutz: Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin/Bonn 1982.

Empfohlene Zitierweise

Peter Longerich: Entnazifizierung (publiziert am 06.11.2023), in: nsdoku.lexikon, hrsg. vom NS-Dokumentationszentrum München, URL: https://www.nsdoku.de/en/lexikon/artikel?tx_nsdlexikon_pi3%5Baction%5D=show&tx_nsdlexikon_pi3%5Bcontroller%5D=Entry&tx_nsdlexikon_pi3%5Bentry%5D=191&cHash=b559a7c561c615b8713662cff9957ce6