Antiziganismus / Die Verfolgung der Sinti*zze und Rom*nja

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Verfasst von Joachim Schröder

Rassistische Vorurteile und Diskriminierung einer ethnischen Minderheit in Bayern seit dem 19. Jahrhundert

Angehörige der aufgrund ihrer ethnischen Herkunft als Sinti*zze verfolgten Höllenreiner, Ende der 1920er-Jahre | Privatbesitz

Sinti*zze und Rom*nja wurden, nicht nur in Bayern, schon vor 1933 als ‚Zigeuner‘ diskriminiert und verfolgt. Ihre Anwesenheit wurde damals in erster Linie als eine kriminal- und sicherheitspolizeiliche Herausforderung betrachtet. Dies war einerseits auf verbreitete rassistische Vorurteile zurückzuführen, andererseits auf tradierte Lebens- und Arbeitsformen, denen allerdings gar nicht alle Sinti*zze und Rom*nja anhingen. Der in den Augen der Behörden typische ‚Zigeuner‘ betätigte sich im Wandergewerbe und zog als „Landfahrer“ umher, was regelmäßig zu Konflikten und Konkurrenzsituationen mit der eingesessenen Bevölkerung führen konnte. Dass ein beachtlicher Teil der in Deutschland lebenden Sinti*zze sesshaft war und sich in die Mehrheitsgesellschaft längst integriert hatte, ignorierten die Behörden.

Eine eigene Polizeidienststelle bemühte sich schon seit 1899 um eine effiziente Kontrolle der „Zigeuner“. Die Münchner Dienststelle war seit Ende der 1920er-Jahre auch bayerische „Nachrichtenzentrale“ und agierte aufgrund ihres stetig wachsenden Datenbestandes zudem als reichsweite Informations-Sammelstelle. Die Vorreiterrolle Bayerns zeigte sich auch in dem reichsweit ersten Gesetz, das sich explizit mit dem ‚Problem‘ der Sinti*zze und Rom*nja befasste und den Begriff ‚Zigeuner‘ rassistisch definierte (Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz, 1926). In München sorgten scharfe Zulassungsvorschriften dafür, dass vergleichsweise wenige Sinti*zze und Rom*nja in der Stadt lebten. Im Frühjahr 1933 waren es rund 200.

Die Verfolgung der Sinti*zze und Rom*nja während der NS-Herrschaft
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten trat zu der sozialen Diskriminierung der Sinti*zze und Rom*nja schon bald immer mehr die rassistisch motivierte Verfolgung. Rassenbiologische Vorstellungen, die davon ausgingen, dass Kriminalität und ‚Asozialität‘ vererbbar seien, hatte es innerhalb der Kriminalpolizei schon vor 1933 gegeben. Nun flossen solche Vorstellungen unmittelbar in neue Gesetze ein und bestimmten zunehmend die Ausrichtung der Polizeiarbeit. In der Annahme, Sinti*zze und Rom*nja würden vererbungsbedingt zu ‚Asozialität‘ und Kriminalität neigen, waren sie verstärkt von den Maßnahmen gegen „Asoziale“ und „Arbeitsscheue“ betroffen und mussten vielfach Zwangsarbeit im Arbeitshaus Rebdorf oder im KZ Dachau leisten.

Die ‚Nürnberger Rassengesetze‘ von 1935 stuften auch Sinti*zze und Rom*nja als ‚Artfremde‘ und somit als Bürger zweiter Klasse ein. In der Folge ergab sich für die Behörden die Notwendigkeit zu bestimmen, wer eigentlich ‚Zigeuner‘ oder ‚Zigeunermischling‘ sei. Dies sollte nun die Rassenbiologische Forschungsstelle“ beim Reichsgesundheitsamt in Berlin entscheiden, die ab 1937 Mitarbeiter in das ganze Reichsgebiet entsandte, um alle Sinti*zze und Rom*nja zu kategorisieren. Diese Untersuchungen boten neben der Auswertung des polizeilichen Aktenmaterials die Grundlage für den Völkermord während des Zweiten Weltkriegs. Erforderlich für diese rassistische Kategorisierung war die vollständige Erfassung aller in Frage kommenden Menschen. Die Voraussetzung hierfür hatte der Runderlass des Reichsinnenministers Wilhelm Frick zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ vom 6.6.1936 geschaffen, der zugleich auf die Sesshaftmachung der ‚Zigeuner‘ abzielte (Eiber, S. 46 f., 57 ff.).

Nachdem Heinrich Himmler 1936 Chef der gesamten deutschen Polizei geworden war, strebte er ein entschlossenes, zentral koordiniertes Vorgehen gegen die ‚Zigeuner‘ an. Die Münchner Dienststelle wirkte hierbei nicht nur an dem im Dezember 1938 ergangenen „Runderlass zur Bekämpfung der Zigeunerplage“ mit. Sie diente sich auch als zukünftige ‚Reichszentrale‘ an, indem sie in einem Bericht an das Reichskriminalpolizeiamt vom 25.4.1938 darauf verwies, dass bis zu 90 Prozent „aller in Deutschland seßhaften als auch umherziehenden Zigeuner, Mischlinge und den übrigen nach Zigeunerart umherziehenden Personen aktenmäßig und erkennungsdienstlich“ von ihr erfasst seien – insgesamt über 33.000 Menschen. Im Oktober 1938 zog ein Teil der Dienststelle mitsamt des Aktenmaterials nach Berlin und bildete dort die neue ‚Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens‘.

Himmlers Runderlass kündigte offen an, die „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus in Angriff zu nehmen“, mit dem Ziel einer „endgültigen Lösung der Zigeunerfrage“. Unterschieden wurde zwischen den (nur wenigen) „reinrassigen Zigeunern“ und den „Zigeunermischlingen“, deren kriminelle Veranlagung besonders hoch eingeschätzt wurde. Nach Beginn des Krieges verschärfte sich die Situation der Sinti und Roma. Bei geringsten Verstößen gegen die strengen Meldeauflagen und andere Verordnungen drohte Einweisung in ein KZ. Bis zu ihrer geplanten Deportation in das ‚Generalgouvernement‘ sollten sie in Sammellager eingewiesen werden. Anders als in anderen Städten wurde in München für die etwa 200 hier lebenden Sinti*zze aber kein ‚Zigeunerlager‘ errichtet.

In seinem ‚Auschwitz-Erlass‘ vom 16.12.1942 ordnete Himmler an, die Sinti*zze und Rom*nja zu deportieren. Ausgenommen waren „sozial Angepasste“, soweit sie bereit waren, sich sterilisieren zu lassen. Die Münchner Kriminalpolizei ließ am 8.3.1943 knapp 140 Sinti*zze und Rom*nja aus München und Umgebung verhaften, pferchte sie am 13.3.1943 in Güterwaggons und verschleppte sie in das ‚Zigeunerlager Auschwitz-Birkenau‘. Im ‚Zigeunerlager‘ herrschten katastrophale Lebens- und Arbeitsbedingungen, die die meisten der Deportierten nicht überlebten; viele wurden Opfer medizinischer Experimente des KZ-Arztes Josef Mengele. Als das Lager im August 1944 aufgelöst wurde, ermordete die SS fast 3000 Sinti*zze und Rom*nja in den Gaskammern.

Vom ‚Zigeuner‘ zum ‚Landfahrer‘
Die rassistisch begründete Erfassung und Diskriminierung waren für Sinti*zze und Rom*nja nach 1945 nicht beendet; noch 1947 gab es eine ‚Zigeunerpolizei‘ im Münchner Polizeipräsidium. Im neuen Bayerischen Landeskriminalamt (BLKA) betrieb dann die ‚Landfahrerzentrale‘ die Totalerfassung der in Deutschland lebenden Sinti*zze und Rom*nja und fungierte erneut als Nachrichten- und Auskunftsstelle für ganz Deutschland mit Beamten, die schon als Angehörige der Berliner ‚Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens‘ den Völkermord organisiert hatten. Gegen zwei von ihnen, Wilhelm Supp und Josef Eichberger, ermittelte Anfang der 1960er-Jahre die Münchner Staatsanwaltschaft wegen Beihilfe zum Mord. Das Verfahren wurde jedoch eingestellt.

Die Überlebenden des Völkermords standen 1945 vor dem Nichts. Dennoch wurde den meisten eine angemessene Entschädigung mit der Begründung verweigert, sie seien bis 1943 nicht ‚rassisch‘ verfolgt worden, sondern als ‚Asoziale‘ oder ‚Kriminelle‘. Der Bundesgerichtshof korrigierte 1963 diese Sichtweise, doch bewirkte dies wenig. In Wiedergutmachungsverfahren traten Beamte des BLKA als Gutachter auf, um Kriminalität oder ‚Asozialität‘ der Betroffenen nachweisen. Sie stützten sich auf eben jene ‚Zigeuner‘-Personenakten“ aus der NS-Zeit, die unkritisch weiterverwendet wurden.

Die ‚Landfahrerzentrale‘ wurde 1965 aufgelöst, ihre Aufgaben aber teils von anderen Abteilungen der Kripo übernommen. Die bayerische ‚Landfahrerordnung‘ von 1953 bestand bis 1970. Die NS-Akten wurden 1974 offiziell vernichtet. Diskriminierung und Kriminalisierung waren damit allerdings noch nicht beendet, wie die ab Ende der 1970er-Jahre aktive Bürgerrechtsbewegung der Sinti*zze und Rom*nja aufzeigte.

Angehörige der aufgrund ihrer ethnischen Herkunft als Sinti*zze verfolgten Familie Fischer, nach 1945 | Privatbesitz Familie Schmidt-Fischer

Quellen

Bellaire, Felix: Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus, publiziert am 17.1.2024; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/:Verfolgung_der_Sinti_und_Roma_im_Nationalsozialismus (zuletzt aufgerufen am 30.1.2024).
Eiber, Ludwig: „Ich wußte, es wird schlimm.“ Die Verfolgung der Sinti und Roma in München 1933-1945, München 1993.Fings, Karola: Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit, 2. Auflage, München 2019.
Nerdinger Winfried (Hg.): Die Verfolgung der Sinti und Roma in München und Bayern 1933–1945.
Schröder, Joachim: Die „Dienststelle für Zigeunerfragen“ der Münchner Kriminalpolizei und die Verfolgung der Sinti und Roma, in: Bahr, Matthias / Poth, Peter (Hg.): Hugo Höllenreiner – ein Leben. Das Zeugnis eines überlebenden Sinto: bildungspolitische Aspekte, Stuttgart 2014, S. 141-152.
Tuckermann, Anja: "Denk nicht, wir bleiben hier!" Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner, München 2008.
Zimmermann, Michael: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische "Lösung der Zigeunerfrage", Hamburg 1996.



Empfohlene Zitierweise

Joachim Schröder: Antiziganismus / Die Verfolgung der Sinti*zze und Rom*nja (publiziert am 08.02.2024), in: nsdoku.lexikon, hrsg. vom NS-Dokumentationszentrum München, URL: https://www.nsdoku.de/en/lexikon/artikel?tx_nsdlexikon_pi3%5Baction%5D=show&tx_nsdlexikon_pi3%5Bcontroller%5D=Entry&tx_nsdlexikon_pi3%5Bentry%5D=31&cHash=26f83118e69994242061d508c1d7d4ca