Arisierung

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Verfasst von Peter Longerich

Ausplünderung und Verdrängung der Juden*Jüdinnen zugunsten nichtjüdischer (‚arischer‘) Profiteur*innen

Unter dem Begriff ‚Arisierung‘, einem ursprünglich durch völkische bzw. nationalsozialistische Kreise geprägten Schlagwort, wird im allgemeinen der gesamte Prozess der materiellen Enteignung der Juden*Jüdinnen zur Zeit des Nationalsozialismus zugunsten nichtjüdischer (‚arischer‘) Profiteur*innen verstanden. In der Forschung wird der Begriff darüber hinaus, jedoch nicht einheitlich, auch auf die gesamte Verdrängung der Juden*Jüdinnen aus dem Wirtschaftsleben angewandt. Die antijüdische Politik der Nationalsozialist*innen sowie insbesondere die verschiedenen Maßnahmen zur Verdrängung der Jüdinnen*Juden aus dem Wirtschaftsleben, wie etwa der Boykott jüdischer Geschäfte, Berufsverbote sowie Diskriminierungen auf verschiedensten Gebieten, führten dazu, dass sich zahlreiche jüdische Menschen gezwungen sahen, ihren Besitz weit unterhalb des Marktwerts zu verkaufen. Während so zahlreiche nichtjüdische Deutsche unmittelbar von der antisemitischen Politik des NS-Staats profitierten, schöpfte der Staat zusätzlich durch die – bei der Emigration zu entrichtende – ‚Reichsfluchtsteuer‘ sowie durch Devisenkontrollmaßnahmen erhebliche Teile der durch die jüdischen Verkäufer*innen erzielten Verkaufserlöse ab. Durch diese ‚freiwillige‘, gesetzlich nicht geregelte ‚Arisierung‘ war bis Anfang 1938 bereits der überwiegende Teil der jüdischen Betriebe veräußert beziehungsweise aufgelöst worden.

Nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs bemächtigten sich durch die NSDAP eingesetzte oder selbstermächtigte ‚Kommissare‘ jüdischer Unternehmen, außerdem kam es zu einer massiven Plünderungswelle. Während der folgenden Monate gelang es jedoch staatlichen Stellen, diese ‚wilde Arisierung‘ unter Kontrolle zu bekommen und im Sinne einer Strukturbereinigung der österreichischen Wirtschaft zu steuern. Diese Vorgänge, vor allem aber auch die in Folge der Aufrüstung prekäre Finanzlage des Reiches, verstärkten die Bemühungen um eine gesetzliche Regelung der ‚Arisierung‘ im gesamten Reichsgebiet. Wichtige Schritte auf diesem Weg waren die Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden*Jüdinnen vom 26.4.1938, die Dritte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14.6.1938, durch die ein besonderes Gewerbezeichen für jüdische Betriebe eingeführt wurde, sowie ein Erlass des Reichswirtschaftsministers vom 5.7.1938, der ein Genehmigungsverfahren für den Verkauf jüdischen Besitzes vorsah und den Gauleitungen dabei ein Recht zur Stellungnahme einräumte. Damit sollten die Partei und die ihr nahestehende Klientel gezielt in den Genuss der ‚Arisierungsgewinne‘ gebracht werden. Eine Änderung der Gewerbeordnung vom 6. Juli führte außerdem eine Reihe weiterer Berufsverbote für Juden*Jüdinnen ein, namentlich durften sie nun nicht mehr als Handelsvertreter*innen tätig sein.

Die Dringlichkeit der Enteignung jüdischer Vermögen aus staatlicher Sicht stellte Hermann Göring, als Beauftragter für den Vierjahresplan mit weitgehenden wirtschaftlichen Befugnissen ausgestattet, unter anderem am 14. Oktober in einer Besprechung des Generalrats des Vierjahresplans fest: Gezwungen, bei fast leeren Kassen ein weiteres gigantisches Rüstungsprogramm zu finanzieren, erklärte er, die „Judenfrage“ müsste „jetzt mit allen Mitteln angefasst“ werden, denn sie müssten „aus der Wirtschaft raus“. Den Anlass für den Abschluss der ‚Arisierung‘ auf gesetzlichem Wege bildete kurz darauf das Pogrom vom 9. auf 10.11.1938. Nicht nur wurde – einer Forderung Hitlers aus dem Jahre 1936 folgend – der jüdischen Minderheit eine ‚Sühneleistung‘ von einer Milliarde Reichsmark auferlegt, sondern durch die Verordnung über die Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben vom 12. November sowie der Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens vom 3.12.1938 wurde durch Zwangsübereignung und Zwangsliquidierung die wirtschaftliche Betätigung der jüdischen Bevölkerung vollständig beendet. Die ‚Arisierung‘ des sonstigen jüdischen Vermögens wurde abschließend mit der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941 geregelt, wonach Besitz von
Juden*Jüdinnen, die das Reichsgebiet verließen – damit wurden die Deportationen umschrieben – dem Reich verfiel.






Quellen

Bajohr, Frank: „Arisierung“ in Hamburg Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933-1945, Hamburg 1997.
Barkai, Avraham: Vom „Boykott“ zur “Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933-1945, Frankfurt a.M. 1988.
Baumann, Angelika/Heusler, Andreas (Hg.): München arisiert. Entrechtung und Enteignung der Juden in der NS-Zeit, München 2004.
Kuller, Christiane: Bürokratie und Verbrechen. Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland, München 2013.
Wojak, Irmtrud/Hayes, Peter (Hg.): „Arisierung“ im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 2000.



Empfohlene Zitierweise

Peter Longerich: Arisierung (publiziert am 16.02.2024), in: nsdoku.lexikon, hrsg. vom NS-Dokumentationszentrum München, URL: https://www.nsdoku.de/en/lexikon/artikel?tx_nsdlexikon_pi3%5Baction%5D=show&tx_nsdlexikon_pi3%5Bcontroller%5D=Entry&tx_nsdlexikon_pi3%5Bentry%5D=35&cHash=8b6baa9175c9e25c8345578bbb206e39