Novemberpogrome 1938

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Verfasst von Peter Longerich

Höhepunkt der Judenverfolgung in Deutschland in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg

Eingeworfene Schaufenster und geplünderte Auslagen des Kaufhauses Uhlfelder, 10.11.1938 | Stadtarchiv München, NS-00057, Foto: Hugo Friedrich Engel

Nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs an das Deutsche Reich verübten die dortigen Nationalsozialist*innen massive Ausschreitungen gegen die jüdische Minderheit, die auch eine radikalisierende Wirkung auf die Parteigenoss*innen im Reichsgebiet hatte. So unternahm Joseph Goebbels im Juni 1938 den Versuch, durch systematisch vorbereitete Gewaltaktionen von Parteiaktivisten sowie durch gleichzeitige scharfe Eingriffe der Polizei in Berlin ein Pogrom auszulösen, um die Hauptstadt ‚judenfrei‘ zu machen. Ähnliche antijüdische Ausschreitungen häuften sich im gesamten Reichsgebiet.

Parallel hierzu wurde die ‚Arisierung‘ des noch verbliebenen jüdischen Besitzes durch vorbereitende gesetzliche Maßnahmen eingeleitet. Die Finanzkrise des Deutschen Reiches ließ aus der Sicht des NS-Regimes im Herbst 1938 den Zugriff auf jüdische Vermögen als notwendige Voraussetzung für eine weitere Steigerung der Rüstung erscheinen. Mit der auf Initiative des amerikanischen Präsidenten Roosevelt im Juli 1938 in Evian abgehaltenen internationalen Flüchtlingskonferenz sowie der Bildung des Intergovernmental Committee on Political Refugees ergab sich außerdem aus der Sicht des NS-Regimes die Chance, durch einen erhöhten Vertreibungsdruck auf die deutschen Juden*Jüdinnen die westlichen Staaten zu einer Erhöhung ihrer Einwanderungsquoten zu nötigen.

Nachdem die antijüdischen Ausschreitungen auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise durch das Regime wieder abgestoppt wurden, setzte unmittelbar nach dem Abschluss des Münchener Abkommens im Oktober 1938 erneut eine Welle von antisemitischen Übergriffen ein. Der Sicherheitsdienst der SS (SD) sprach in internen Berichten von einer Pogromstimmung. Die gewaltsame Abschiebung von etwa 18.000 in Deutschland lebenden polnischen Juden*Jüdinnen über die deutsch-polnische Grenze Ende Oktober 1938 zeigte an, dass das Regime eine weitere Eskalation seiner Politik gegen die jüdische Bevölkerung vorbereitete.

Den Anlass für die Auslösung des Pogroms lieferte das Attentat des 17-jährigen Herschel Grynszpan auf den Legationssekretär an der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, am 7.11.1938; Grynszpans Eltern gehörten zu den nach Polen abgeschobenen Juden*Jüdinnen. Bereits in der Nacht vom 7. auf den 8. November sowie am folgenden Tag verübten Parteiaktivisten im Raum Kassel massive Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte und Synagogen. Die deutsche Presse stand an diesem 8. November ganz im Zeichen von Drohungen gegen die jüdischen Mitmenschen, die „schwerste Konsequenzen“ (Der Angriff) zu gewärtigen hätten. Am späten Nachmittag des 9. November erhielt Adolf Hitler in seiner Wohnung am Prinzregentenplatz die Nachricht vom Tod Ernst vom Raths. Während der üblichen Zusammenkunft der führenden Parteigenossen am Abend des 9. November, dem Jahrestag des misslungenen Putsches von 1923, besprach Hitler die Situation im Münchner Alten Rathaus mit Goebbels. Daraufhin hielt der Propagandaminister gegen 22 Uhr 30 – Hitler hatte mittlerweile den Saal verlassen – eine Brandrede an die versammelten Parteigenossen. Die Botschaft, die ‚Juden‘ sollten einmal, wie schon in Kassel, den ‚Volkszorn‘ zu spüren bekommen, wurde von den hochrangigen Parteifunktionären sogleich als direkte Aufforderung zum Handeln verstanden: Sie lösten durch Telefonanrufe an ihre Heimatdienststellen überall im Reich das Pogrom aus.

Parteiaktivisten, die sich im ganzen Land zu Feiern aus Anlass des 9. November versammelt hatten, gingen nun, nachdem sie ihre Uniformen gegen Zivilkleidung eingetauscht hatten, überall daran, Synagogen zu zerstören und in Brand zu setzen, warfen die Fensterscheiben von jüdischen Geschäften ein und plünderten sie, drangen gewaltsam in Wohnungen ein, demolierten Einrichtung und Hausrat, verübten Diebstähle und misshandelten und verschleppten die jüdischen Bewohner*innen. Am nächsten Tag nahm die Gestapo aufgrund einer zentralen Anordnung mehr als 30.000 jüdische Männer fest, von denen mehr als 25.000 in Konzentrationslager verbracht wurden, wo die meisten unter grausamen Torturen wochen- und monatelang eingesperrt blieben, um ihnen die Zusage zur sofortigen Auswanderung abzupressen. Die genaue Zahl der Toten, die das Pogrom forderte, ist nach wie vor nicht bekannt. Zu den offiziell genannten 91 Opfern kommen noch eine große Zahl von Suiziden sowie hunderte Juden, die in der KZ-Haft umkamen oder an deren Folgen verstarben.

Am Nachmittag des 10. November wurde die Aktion durch einen von Hitler autorisierten Aufruf Goebbels abgebrochen. Die deutschen Juden*Jüdinnen mussten als ‚Sühneleistung‘ für den Tod vom Raths die Summe von einer Milliarde Reichsmark bezahlen. Außerdem wurden sie nun durch gesetzliche Maßnahmen endgültig aus dem wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen. Ihre Versicherungsansprüche für die angerichteten Schäden verfielen an den Staat und sie wurden gezwungen, die durch die Ausschreitungen verursachten Schäden sofort zu beseitigen. In den kommenden Wochen wurde eine große Zahl weiterer antisemitischer Rechtsvorschriften entlassen, die im Ergebnis auf den ‚sozialen Tod‘ der noch in Deutschland verbliebenen Juden*Jüdinnen hinausliefen. Das Pogrom löste, wie vom Regime beabsichtigt, eine Fluchtwelle aus und setzte potenzielle Einwanderungsländer unter Druck, eine größere Zahl jüdischer Geflüchteter aufzunehmen.







Quellen

Döscher, Hans-Jürgen: „Reichskristallnacht“. Die Novemberpogrome 1938, Frankfurt a.M. 1988.
Heusler, Andreas/Weger, Tobias: Kristallnacht. Gewalt gegen die Münchner Juden im November 1938, München 1998.
Obst, Dieter: „Reichskristallnacht“. Ursachen und Verlauf des antisemitischen Pogroms vom November 1938, Frankfurt a.M. 1991.
Steinweis, Alan E.: Kristallnacht 1938. Ein deutscher Pogrom, Stuttgart 2013.


Empfohlene Zitierweise

Peter Longerich: Novemberpogrome 1938 (publiziert am 14.02.2024), in: nsdoku.lexikon, hrsg. vom NS-Dokumentationszentrum München, URL: https://www.nsdoku.de/en/lexikon/artikel?tx_nsdlexikon_pi3%5Baction%5D=show&tx_nsdlexikon_pi3%5Bcontroller%5D=Entry&tx_nsdlexikon_pi3%5Bentry%5D=602&cHash=2bf041fa9364ca7b32b19b9780d1f5ed