Heilen und Verwahren kennzeichneten die Entwicklung der Psychiatrie seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Auch wenn die therapeutischen Möglichkeiten gering waren, sah man Menschen mit Wahnvorstellungen, Erregungszuständen, melancholischer Verstimmung, epileptischen Anfällen oder geistiger Behinderung als Kranke an, die medizinischer Hilfe bedurften. Heil- und Pflegeanstalten waren für den jahre- oder jahrzehntelangen Aufenthalt der nicht heilbaren psychisch kranken Menschen eingerichtet und teilten ihre Patient*innen in ruhige und unruhige Kranke ein. Die Anstaltsordnung, Disziplinierungs- und Beruhigungsmittel sowie die Arbeit in der Landwirtschaft, in den Werkstätten, in der Küche oder in der Nähstube bestimmten den Alltag der hier auf Dauer verwahrten Patient*innen.
Die Anstalten öffneten sich in den 1920er Jahren zur Gesellschaft hin und verkürzten die Aufenthaltszeiten der Patient*innen durch Unterbringung in Familienpflege und den Ausbau der ambulanten Fürsorge. Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 fielen diese Reformansätze jedoch massiven Sparmaßnahmen zum Opfer. Im Vordergrund stand nun die „Verhütung der Geisteskrankheiten“: Eugeniker und Anhänger*innen der Rassenhygiene hatten die Sterilisierung von psychisch kranken, geistig behinderten und sozial auffälligen Menschen schon lange gefordert, dies sollte den Staat langfristig von Ausgaben für die Fürsorge entlasten. Zusätzlich verschlechterten sich die Lebensverhältnisse durch Personalmangel und Senkung der Pflegesätze drastisch, insbesondere für die chronisch kranken und nicht arbeitenden Patient*innen.
Mit dem Inkrafttreten des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ Anfang 1934 und der Erfassung der Bevölkerung nach dem vermeintlichen Wert der Erbanlagen des Einzelnen konzentrierte sich die Psychiatrie dann bald fast ausschließlich auf die „rassenhygienische Reinigung des Volkskörpers“: Angeblich erbkranke Menschen, insbesondere Menschen mit den Diagnosen Schizophrenie, manisch-depressives Irresein, Schwachsinn und Epilepsie, wurden gegen ihren Willen sterilisiert.
Doch stand nicht nur die körperliche Unversehrtheit der Psychiatriepatient*innen auf dem Spiel. Vielmehr stellte die Debatte um die Euthanasie, die ärztliche Erlösung unheilbar Kranker, auch das Recht auf Leben der chronisch kranken Anstaltspatient*innen infrage. Der Psychiater Alfred Hoche und der Jurist Karl Binding hatten schon 1920 in einer Schrift die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ auch für die „geistig Toten“ und die „Ballastexistenzen“ unter den Anstaltspatienten gefordert. Der Gedanke der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ fand in der Weimarer Zeit auch in der deutschen Psychiatrie Anhänger*innen, jedenfalls nur geringen öffentlichen Widerspruch.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 verbreitete die Propaganda ein Zerrbild der ‚Erbkranken‘ und ‚Minderwertigen‘ in den Heil- und Pflegeanstalten, demzufolge diese eine wirtschaftliche Last darstellten und den Fortbestand des deutschen Volkes bedrohten. 1938 schrieb der Oberarzt der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch, Dr. Gregor Overhamm, in der Krankengeschichte über seine Patientin Adelheid B., die sich seit ihrem achten Lebensjahr wegen einer geistigen Behinderung in Erziehungs- und Heilanstalten befand: „Weiterhin entsetzlich schwierig u. störend. Lebensunwertes Leben!“ (BArch, R 179/22496) In einem Schreiben an die Regierung von Oberbayern forderte der Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar Hermann Pfannmüller 1939 zu einer „wirklichen Sparmassnahme“ auf: „Ich erachte es an dieser Stelle für angebracht einmal offen und mit aller Deutlichkeit auf die Notwendigkeit hinzuweisen, dass wir Ärzte hinsichtlich ärztlicher Betreuung lebensunwerten Lebens auch die letzte Konsequenz im Sinne der Ausmerze ziehen.“ Dabei hatte er zwei Gruppen von „schwerdefekten“ Menschen im Blick: „die völlig verblödeten, gänzlich asozialen, absolut pflegebedürftigen, chronischen Zustandsbilder, die an die Idiotie heranreichen“ und die „hochgradig verbrecherisch veranlagten, gesellschaftsfeindlichen Elemente, die […] Anstalten untragbar […] belasten und überfüllen“ (StAM, Stanw 17460/3).
Das ‚Euthanasie‘-Programm der Nationalsozialisten ist nie gesetzlich geregelt worden, wurde aber durch eine Ermächtigung Hitlers autorisiert. Als „Geheime Reichssache“ wurde es geplant von einem Expertenkreis aus Verwaltungsfachleuten, Psychiatern, Kinderärzten und namhaften Hochschullehrern. Zur Selektion von geistig und/oder körperlich behinderten Kindern wurde 1939 ein ‚Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden‘ eingerichtet, an den betroffene Kinder und Jugendliche zu melden waren. Der ‚Reichsausschuß‘ entschied dann über die Einweisung in eine der reichsweit bis zu 30 Kinderfachabteilungen, in denen die Kinder nach einer Beobachtungszeit meist mit überdosierten Medikamenten ermordet wurden. Im Rahmen des ‚Kindereuthanasie‘-Programm kamen bis 1945 bis zu 5000 Kinder und Jugendliche ums Leben. Gerade bei der ‚Kindereuthanasie‘ setzten die Verantwortlichen auf das heimliche Einverständnis der Eltern, indem sie einen scheinbar natürlichen Tod als Erlösung vom Leiden hinstellten.
Die ‚Euthanasie‘-Organisation, die innerhalb der Kanzlei des Führers die Erfassung, Selektion und Vernichtung der Anstaltspatienten plante und koordinierte, hatte ihren Sitz in der Berliner Tiergartenstraße 4, daher das Kürzel ‚T4‘ und die Bezeichnung ‚Aktion T4‘. Im Herbst 1939, unmittelbar nach Kriegsbeginn, trafen die ersten Meldebögen zur Erfassung und Selektion der Anstaltspatient*innen in den Heil- und Pflegeanstalten ein, die staatlichen Anstalten kooperierten weitestgehend, Verzögerungen gab es nur in einigen kirchlichen Einrichtungen. Offenen Widerstand oder Protest gab es von Seiten der Psychiater*innen nicht, manche zogen sich – ob des zu erahnenden Unheils – in den Ruhestand zurück. So entschieden die psychiatrischen Gutachter*innen allein anhand der Angaben in den einseitigen Meldebögen über Leben und Tod der gemeldeten Patient*innen. Sie wurden direkt oder über Zwischenanstalten in eine der sechs Tötungsanstalten verlegt und dort mit Kohlenmonoxydgas ermordet.
Die Anstaltspatient*innen aus Oberbayern, Niederbayern und Schwaben kamen in den Tötungsanstalten Grafeneck auf der schwäbischen Alb und Hartheim bei Linz in Oberösterreich ums Leben. Die Angehörigen erhielten sogenannte Trostbriefe, die – bei falschem Todesdatum und oft auch falschem Todesort – eine Erlösung von schwerem Leiden vorspielen sollten. Doch die systematischen Krankenmorde ließen sich nicht geheim halten, es kam zu Unruhe und Protesten aus der Bevölkerung und den Kirchen. Schließlich gab die öffentliche Protestpredigt des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen im August 1941 den Anstoß zum Stopp der Gasmorde. 70.273 Anstaltspatient*innen aus dem Deutschen Reich, Österreich und den angeschlossenen Gebieten sind bis dahin ermordet worden, weil sie keine brauchbare Arbeit leisteten, als unheilbar krank galten, vermehrter Pflege und Überwachung bedurften oder den Anstaltsbetrieb störten. Die jüdischen Psychiatriepatient*innen wurden ab Frühjahr 1940 ausnahmslos – allein aufgrund ihrer ‚rassischen Zugehörigkeit‘ – in Sammelanstalten zusammengefasst und in den Tötungsanstalten der ‚Aktion T4‘ ermordet. So kann die ‚Euthanasie‘-Aktion als eigentlicher Beginn des Holocaust verstanden werden. Hinzu kommt, dass das Tötungspersonal der ‚Aktion T4‘ 1942 in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka eingesetzt wurde.
Doch auch nach dem Stopp der ‚Aktion T4‘ im August 1941 gingen die Tötungen weiter und zwar in den Heil- und Pflegeanstalten selbst. Dies geschah durch überdosierte Medikamente und durch systematisches Verhungernlassen. Ohnehin hatten die verschlechterten hygienischen Verhältnisse und mangelnde Pflege seit 1939 zu einem deutlichen Anstieg der Sterberate in den Anstalten geführt. Nun sollten Ärzte und Pflegepersonal vor Ort entscheiden, wer leben und wer sterben sollte. Hinzu kam, dass die Anstalten in den von alliierten Luftangriffen betroffenen Gebieten als Ausweichkrankenhäuser für körperlich kranke Patient*innen genutzt wurden. Die Psychiatriepatient*innen wurden wegverlegt und in bestimmten Anstalten in Mittel- und Ostdeutschland sowie im besetzten Polen zu Tode gebracht. Der Kreis der betroffenen Menschen erweiterte sich auf Fürsorgezöglinge, verwirrte Bombenopfer und Zwangsarbeiter*innen.
Insgesamt fielen den verschiedenen Aktionsformen der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘ etwa 300.000 Menschen zum Opfer, unter ihnen die durch ‚T4‘-Ärzte selektierten KZ-Häftlinge sowie ostpreußische, pommersche, polnische und sowjetische Psychiatriepatient*innen, die durch SS-Einsatzkommandos erschossen oder vergast worden sind.
Für die an den ‚Euthanasie‘-Aktionen beteiligten Psychiater*innen lagen Heilen und Vernichten eng beieinander. So erhofften sich die Ärzte von den Mitte der 1930er-Jahre eingeführten ‚Schocktherapien‘, medikamentös oder elektrisch eingeleiteten Krampfanfällen bzw. Unterzuckerungszuständen, ein rasches Abklingen der Krankheitserscheinungen, doch ließ das Versagen dieser als fortschrittlich angesehenen Therapien bei vielen chronisch Kranken die Diagnose der Unheilbarkeit umso stärker hervortreten. In jedem Falle sollte für die heilbaren Kranken alles therapeutisch Mögliche getan werden, während die therapieunfähigen Kranken der ‚Euthanasie‘ anheimfallen sollten.
Nach Krieg und massenweise an Kranken verübtem Mord schwiegen fast alle deutschen Psychiater*innen über das Geschehene. Anton von Braunmühl, seit 1946 Direktor des Nervenkrankenhauses Haar und Zeuge der ‚Euthanasie‘-Morde ebendort, schrieb 1955: „Es ist kein Zweifel und die Geschichte hat es gelehrt, daß alle verabscheuungswürdigen Ideen und Methoden, die unserer Psychiatrie vor noch nicht so langer Zeit so abträglich waren, von draußen kamen und draußen propagiert wurden“ (Braunmühl, S. 22). Die deutsche Psychiatrie sah sich für die Patientenmorde nicht in der Verantwortung. Eine offizielle Stellungnahme der deutschen Psychiater*innen zu den Morden an den Psychiatriepatient*innen kam sehr spät, im November 2011.