Nach der erfolgreichen „Oktoberrevolution“ der russischen Bolschewiki im Jahr 1917 und der Gründung der Sowjetrepublik (Sowjet = russ. für „Räte“) wurde in Kreisen der radikalen Linken das Rätemodell populär. Nach der Revolution, so ihre Vorstellung, würden die von der Arbeiterschaft gewählten Räte die Macht übernehmen und die Diktatur des Proletariats errichten. Die meisten Rätemodelle gehen auf das Vorbild der Pariser Commune (1871) zurück. Im Unterschied zur (bürgerlich-)parlamentarischen Demokratie sollten die Rätemitglieder direkt und mit imperativem Mandat von ihrem Betrieb oder ihrem Wohnbezirk gewählt werden, wobei jede*r Arbeitnehmer*in wahlberechtigt sein sollte. Räte waren auf verschiedenen Ebenen vorgesehen, mit einem „Zentralrat“ an der Spitze. Die Räte sollten Gesetzgeber und Exekutive zugleich sein und die Gerichte besetzen – eine Gewaltenteilung war nicht vorgesehen.
In Anlehnung an das sowjetische Vorbild gründeten sich während der Novemberrevolution in Deutschland allerorten Arbeiter- und Soldatenräte. Allerdings dominierten in ihnen zumeist Mehrheitssozialdemokrat*innen, die strikte Gegner*innen des sowjetischen Modells und Befürworter*innen der parlamentarischen Demokratie waren. Lediglich die radikale Linke (Spartakusbund bzw. KPD, USPD, Anarchist*innen) strebte eine Räterepublik an. Auf dem „Ersten Allgemeinen Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte“ am 16.12.1918 in Berlin wurden die Weichen mit großer Mehrheit in Richtung des Parlamentarismus gestellt und der Termin für die Wahl zur Nationalversammlung auf den 19.1.1919 festgelegt. In einigen industriell geprägten Regionen des Reiches gewannen die Rätebefürworter*innen aber bald an Zulauf. Ursache hierfür war der wachsende Unmut über die sozialdemokratische Regierung, ihre Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien und der kaiserlichen Generalität sowie die Unzufriedenheit wegen der ausbleibenden, als selbstverständlich angesehenen Sozialisierung der Wirtschaft. Schon im Januar 1919, zeitgleich mit dem „Spartakusaufstand“ in Berlin (der mit der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg endete), ergriffen an einigen Orten Räteanhänger*innen die Macht oder riefen, wie in Bremen, sogar eine Räterepublik aus. Solche Versuche wurden aber durch Regierungstruppen schnell beendet.
Auch in München wuchs die Zahl der Anhänger*innen des Rätesystems in der Arbeiterschaft stetig. Eisners Ermordung am 21.2.1919 führte zu einer beispiellosen Mobilisierung und Radikalisierung der Münchner Arbeiterschaft. Nach dem kompromisslosen Vorgehen der Regierungstruppen in Berlin unter der Verantwortung der Sozialdemokraten Friedrich Ebert und Gustav Noske erschien das Attentat des Monarchisten und Antisemiten Anton Graf Arco auf Valley wie ein Anschlag auf die gesamte Revolution. Erhard Auer (MSPD), Gegner Eisners und einer Räterepublik, wurde von der radikalen Linken als einer der geistigen Urheber des Attentats verantwortlich gemacht. Der schon länger schwelende, unauflösbar erscheinende Konflikt um die zukünftige Regierungsform – Landtag oder Räterepublik – spitzte sich in den kommenden Wochen immer mehr zu. Die offensichtliche Radikalisierung war dabei nicht auf Bayern beschränkt: In den industriellen Zentren des Deutschen Reichs gärte es, in Berlin waren Anfang März erneut schwere Unruhen in den Arbeitervierteln ausgebrochen und durch Regierungstruppen blutig niedergeschlagen worden, mehr als 1000 Menschen verloren ihr Leben. In Ungarn wurde am 21.3.1919 eine Räterepublik proklamiert, im Baltikum tobte der Bürgerkrieg, deutsche Freikorps lieferten sich erbitterte Kämpfe mit der „Roten Armee“ – die Revolution schien sich von Sowjetrussland aus Richtung Westen auszubreiten.
Die Ausrufung der ersten Räterepublik
Bevor der bayerische Landtag wie geplant am 7.4.1919 zusammentreten konnte, proklamierten Anhänger*innen der USPD, der MSPD und Anarchist*innen in der Nacht vom 6./7.4.1919 die „Räterepublik Baiern“. Gegen die Ausrufung sprachen sich die Kommunist*innen aus, die sie für verfrüht hielten und die den Mehrheitssozialdemokrat*innen nicht trauten. Tatsächlich zogen diese ihre vorher gegebene Zustimmung zurück. Die Landesregierung unter Johannes Hoffmann erklärte sich zur alleinigen, rechtmäßigen Autorität, floh aber nach Bamberg. Von dort organisierte sie die militärische Unterstützung durch die Reichsregierung. Schon bald rückten Reichswehreinheiten und Freikorps aus Preußen sowie aus süddeutschen Ländern gegen München vor. In der Stadt herrschte die Räteregierung unter der Leitung von Ernst Niekisch (MSPD), der kurz darauf von Ernst Toller (USPD) abgelöst wurde. In der Räteregierung waren Intellektuelle und Schriftsteller wie Erich Mühsam, Gustav Landauer oder Silvio Gesell führend vertreten, weshalb die erste Räterepublik schon von Zeitgenoss*innen abwertend als „Literatenrepublik“ bezeichnet wurde. Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch viele Aktivist*innen aus der Münchner Arbeiterschaft gab, die überhaupt erst die soziale Basis bildete, auf der das „Räteexperiment“ gewagt wurde. Die zahlreichen Erlasse und Verordnungen der Räteregierung zielten auf den Sturz der bisherigen Ordnung und den Aufbau einer egalitären, antiautoritären Gesellschaft. Doch blieb der Staatsapparat weithin unangetastet. Innerhalb Bayerns blieb die Münchner Räterepublik weitgehend isoliert, ihre Autorität und Durchsetzungsfähigkeit blieb gering.
Die zweite (kommunistische) Räterepublik
Am 13.4.1919 unternahm die gegenüber der Hoffmann-Regierung loyale „Republikanischen Schutztruppe“ einen Aufstandsversuch, der mit Hilfe der noch im Aufbau befindlichen „Roten Armee“ unter der Führung von Rudolf Egelhofer (KPD) niedergeschlagen wurde und insgesamt 21 Todesopfer forderte. Die Betriebs- und Soldatenräte setzen daraufhin den bisher regierenden Revolutionären Zentralrat ab und übertrugen die Macht dem neu gegründeten Aktionsausschuss unter Führung der KPD. Dieser bildete den Vollzugsrat als höchstes Gremium der zweiten Räterepublik mit Eugen Leviné und Max Levien als Vorsitzenden. Ihr Ziel einer sozialistischen Räterepublik verfolgte die zweite Räteregierung wesentlich entschlossener als ihre Vorgängerin: Sie organisierte die Entwaffnung des Bürgertums und die Bewaffnung der Arbeiterschaft und ließ Lebensmittellager und Kraftwagen beschlagnahmen. Auch bereitete sie die Verstaatlichung von Banken vor und unterdrückte die bürgerliche Presse. Die etwa 10.000 Personen umfassende Rote Armee lieferte sich Gefechte mit den die Stadt einschließenden Regierungstruppen und konnte am 16.4.1919 bei Dachau die Angreifenden vorerst zurückschlagen. Der Einschluss Münchens durch Regierungstruppen und Freikorps führte zu einem Misstrauensvotum der Betriebs- und Soldatenräte gegen die Räteregierung, die daraufhin am 27.4.1919 zurücktrat. Die Rote Armee rief ungeachtet dessen zum bewaffneten Widerstand auf, der aber angesichts des aussichtslosen Kräfteverhältnisses innerhalb weniger Tage zusammenbrach.
„Roter Terror“ und „Geiselmord“
Während der Räteherrschaft kam es, sieht man von der Endphase ab, nur in Einzelfällen zu schwerwiegenden Gewalttaten gegen Personen – dies bezeugte selbst ein nicht für die Öffentlichkeit bestimmter Polizeibericht vom Mai 1919, der eine Bilanz der „Räteherrschaft“ zog. Als Terror wurden allerdings die erwähnten Verordnungen der Räteregierung und das vielfach selbstherrliche Auftreten der Revolutionäre und die von ihnen ausgehende Willkür empfunden: Im großen Umfang wurden Güter beschlagnahmt, und eine „Kommission zur Bekämpfung der Gegenrevolution“ fahndete nach russischem Vorbild nach „Gegenrevolutionären“ und „Saboteuren“, die sie dem „Revolutionstribunal“ zuführte, das aber de facto kaum in Erscheinung trat. Durch weithin kursierende Gerüchte, wilde Drohungen seitens der revolutionären Machthaber, fehlende Rechtssicherheit und Ungewissheit über das Kommende verbreiteten sich Verunsicherung und Angst, die durch das abschreckende Beispiel des russischen Bürgerkriegs genährt wurden. Kurz vor dem Ende der Räterepublik erschossen Angehörige der Roten Armee im Luitpold-Gymnasium zehn Gefangene, nachdem Nachrichten über angebliche Gräueltaten der vorrückenden Regierungstruppen durchgedrungen waren. Dieser „Geiselmord“ wurde, u.a. durch Berichte über die angebliche Verstümmelung der Opfer, von den Gegner*innen der Räteherrschaft propagandistisch zum Sinnbild des „Roten Terrors“ erhoben und diente als Vorwand für das äußerst gewaltsame Vorgehen der Regierungstruppen.
Selbstbilder – Fremdbilder
Unter den führenden Revolutionär*innen der Räterepublik befand sich eine beachtliche Anzahl Auswärtiger, deren Namen heute kaum noch bekannt sind. Sie sahen sich in erster Linie als Aktivist*innen einer nationalen wie internationalen Auseinandersetzung, die nach den Kämpfen in Berlin oder im Ruhrgebiet nun eben in München weitergeführt wurde. Die Gegner*innen der Räterepublik bezeichneten sie hingegen als „Russen“ und „Landfremde“, die die bayerische Arbeiterschaft verführt hätten. Dabei stammten andererseits viele der Aktivist*innen aus Bayern, wie Egelhofer, der Kommandant der Roten Armee, der Polizeipräsident Ferdinand Mayrgünther oder Max Strobl, der Leiter der „Kommission zur Bekämpfung der Gegenrevolution“. Ein weiteres Vorurteil der Gegner*innen der Revolution lautete, ihre Herrschaft habe sich auf den „Pöbel“ und auf „Kriminelle“ gestützt. Neben tatsächlichen, auf eigene Faust operierenden Banden, die die unübersichtliche Situation für ihre Zwecke ausnützten, hatten zu solchen Urteilen auch Maßnahmen der Revolutionär*innen selbst beigetragen: Wie in den meisten Städten des Deutschen Reiches waren nach der Revolution Gefängnisse gestürmt und Hunderte von politischen und militärischen Häftlingen entlassen worden. Die Autorität der „alten Eliten“ war zerstört, es herrschten von den Soldaten selbst gewählte Räte. Auf viele Beobachter*innen wirkte das neue, „disziplinlose“ Erscheinungsbild der Soldaten und die in den Straßen patrouillierenden, ärmlich bekleideten, bewaffneten Arbeiter*innen ebenso abschreckend wie die Tatsache, dass viele Revolutionär*innen ihre Macht mit offensichtlich großem Selbstbewusstsein zur Schau trugen.