Anna Surdakowa (25.7.1931 Dubrowka – 17.10.2024 Riga)

Biographies
Verfasst von Sibylle von Tiedemann

Zwangsarbeiterin im Reichsbahnausbesserungswerk Neuaubing

Anna Surdakova, um 1950 | Privatbesitz

Anna Surdakowa (heute Wladimirowna) wurde 1931 in der kleinen Stadt Dubrowka in der Nähe von Brjansk in der Sowjetunion geboren. Sie ist das jüngste Kind einer vierköpfigen Familie. Der Vater Wladimir war Arbeiter, die Mutter Efrosinja kümmerte sich um die Kinder, das Haus und eine kleine Landwirtschaft. Ihr Vater starb am 20. Juni 1941, also zwei Tage vor dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion, an einer Krankheit. Auf der Trauerfeier erfuhr die Zehnjährige vom Kriegsbeginn. Sie war Augenzeugin, als die deutschen Besatzer Menschen in ihrem Ort erschossen. Anna konnte nur wenige Jahre lang die Schule besuchen, wo sie auch etwas Deutsch gelernt hat. Dann schlossen die Deutschen die Schulen.

Im Alter von 13 Jahren wurde Anna zusammen mit ihrer Mutter Efrosinja (1885–1945) und ihren älteren Schwestern Ekaterina (1925–2005) und Tatjana (1928–2010) in Güterwaggons zur Zwangsarbeit nach München-Neuaubing verschleppt. Das Lager in München-Neuaubing ist das einzige Lager, an das sie noch Erinnerungen hat. Von der Lagerzeit berichtet sie von nagendem Hunger und harter Arbeit. Die Kinder verließen unbemerkt das Lager, um in den benachbarten Wohnhäusern der Neuaubinger Dorniersiedlung zu betteln: „Gib mir ein Kartoffel oder ein klein Stück Brot“, diesen deutschen Satz kann Anna Wladimirowna noch heute aufsagen.

Anna wurde im Reichsbahnausbesserungswerk Neuaubing an einer Werkbank eingesetzt. Sie erinnert sich an das Einspannen und Zerschneiden von Draht, an das Feilen großer Metallteile, an die von der Arbeit müden Hände. Den Weg zur Arbeitsstätte legten sie und die anderen Arbeiter*innen in Kolonnen zurück, sie mussten schnell gehen, sonst drohten Schläge. Über den Kriegsverlauf erfuhren sie nichts. Sie wussten auch nichts über das Schicksal ihrer ältesten Schwester Maria, die an einem anderen Ort in Bayern zur Zwangsarbeit eingesetzt war. Von den US-Soldaten, die das Lager am 30. April 1945 befreiten, bekam sie Weißbrot: „Oh, das ist die Sonne! Man hat uns die Sonne geschenkt.“ Ebenfalls in Erinnerung geblieben ist ihr ein Racheakt an einem brutalen Wachmann, der von den Lagerinsassen verprügelt wurde.

Annas Mutter erkrankte im Frühjahr 1945. Nach der Befreiung brachten die Amerikaner sie in ein Behelfskrankenhaus von Dornier in Germering. Sie starb am 27. Juni 1945 vermutlich an den Folgen der harten Jahre der Zwangsarbeit. Sie wurde in Anwesenheit der Töchter auf dem Friedhof in Germering beerdigt.

Die drei Schwestern kehrten alleine in die Sowjetunion zurück. Sie fanden Arbeit und heirateten. Erst spät erhielten sie eine kleine Entschädigung für die Zwangsarbeit. Anna Wladimirowna ist mittlerweile zweifache Urgroßmutter und lebt in Riga. Im Oktober 2017 kehrte sie auf Einladung des NS-Dokumentationszentrums das erste Mal nach München zurück. Sie besuchte auch den Friedhof in Germering, um das Grab ihrer Mutter zu sehen. Aber dort erinnerte nichts mehr an die dort beerdigten Zwangsarbeiterin.


Quellen

Interview mit Anna Wladimirowna Lipstowa (geb. Surdakowa)am 29. Juli 2017 in Riga, Lettland.

Empfohlene Zitierweise

Sibylle von Tiedemann: Surdakowa, Anna (publiziert am 22.10.2024), in: nsdoku.lexikon, hrsg. vom NS-Dokumentationszentrum München, URL: https://www.nsdoku.de/en/lexikon/artikel?tx_nsdlexikon_pi3%5Baction%5D=show&tx_nsdlexikon_pi3%5Bcontroller%5D=Entry&tx_nsdlexikon_pi3%5Bentry%5D=822&cHash=9ce8969a83b94e0aaa214906961ad4dc