Zeugen Jehovas: Verfolgung und Widerstand

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Verfasst von Christoph Wilker

Die Religionsgemeinschaft in München 1933-1945

Schriftenlager der Zeugen Jehovas in der Implerstraße, Aufnahme der Gestapo im Frühjahr 1937 | Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaften 8474

Überblick
Die bis dahin landläufig als „Bibelforscher“ bekannte Religionsgemeinschaft nennt sich seit 1931 „Jehovas Zeugen“. An der Bezeichnung der Körperschaft „Internationale Bibelforscher-Vereinigung“ (I.B.V.) wurde aber noch bis in die 1950er-Jahre festgehalten. Die Gemeinschaft wurde wenige Monate nach der Machtübernahme Hitlers in den Ländern des Deutschen Reiches verboten, in Bayern am 13.4.1933. Von den 500 Münchner Zeugen Jehovas wurden 310 Opfer des NS-Regimes. Etwa 240 wurden inhaftiert, 48 von ihnen in einem KZ. 22 Zeugen Jehovas starben durch Verfolgungsmaßnahmen, davon sechs durch Hinrichtung. Im Deutschen Reich sind 10.700 der 25.000 Gläubigen als Opfer dokumentiert. Davon wurden ca. 9000 inhaftiert, 2800 in einem KZ. Mehr als 1000 verloren ihr Leben, 353 durch Hinrichtung.

Die Widerstandstätigkeit der Zeugen Jehovas wird häufig unterschätzt. Tatsächlich aber gelang ihnen mit ihren Flugblattaktionen in den Jahren 1936 und 1937 „Propagandacoups, wie sie in diesem Umfang keine andere illegale Gruppe zustande brachte“ (Mehringer, S. 300). Die weit überwiegende Mehrzahl der Todesurteile gegen Kriegsdienstverweigerer betraf Zeugen Jehovas. Ihr Blutzoll war der Auslöser für das im Grundgesetz verankerte Recht auf Wehrdienstverweigerung (Hesse, S. 139f). Thomas Mann schrieb 1938 im Schweizer Exil über ein dort von Jehovas Zeugen über deren NS-Verfolgung herausgegebenes Buch: „Die Sprache versagt längst vor dem Gesinnungsabgrund, der sich in diesen Blättern auftut, welche von den entsetzlichen Leiden unschuldiger und ihrem Glauben mit Festigkeit anhangender Menschen berichten. […] mir scheint, einen stärkeren Appell an das Weltgewissen kann es nicht geben“ (ETH Zürich N 38/19).

Anfänge der Verfolgung
Ab 1930 wurden in Verbindung mit dem Ruf nach Bekämpfung der „Freidenker- und Gottlosenbewegung“ Forderungen nach staatlichen Eingriffen gegen die „Bibelforscher“ lauter. Hintergrund war eine Austrittsbewegung aus den Volkskirchen. 1930 würdigte der Münchner Kardinal Faulhaber eine NSDAP-Stellungnahme gegen die „Bibelforscher“. In einem Schreiben an alle Minister Bayerns vom 5.5.1933 lobte er, dass „die Bibelforscher nicht mehr ihre amerikanisch-kommunistische Tätigkeit entfalten“ könnten (Garbe, S. 80). Auch bei der evangelischen Kirche stießen die Maßnahmen auf Zustimmung: „Das schnelle und massive Vorgehen gegen die Zeugen Jehovas […] war nicht zuletzt von dem Bemühen um ein Einvernehmen mit den beiden Großkirchen bestimmt“ (Garbe, 92f.). Das Bayerische Oberste Landesgericht führte in seinem Urteil vom 7.12.1933 aus, dass die „Bibelforscher [...] infolge ihrer Angriffe auf die staatlich anerkannten christlichen Kirchen und auf die zum Schutz dieser Kirchen dienenden staatlichen Maßnahmen in derselben Weise wie die antireligiösen und antikirchlichen Bestrebungen der kommunistischen Partei eine Gefahr für den Bestand der staatlichen Ordnung bedeuten“ (Garbe, S. 132).

Widerstand
Für die Zeugen Jehovas galt: Göttliches Recht bricht weltliches Recht. Daher lehnten sie es ab, den „Führer“ durch den Gruß „Heil Hitler“ zu ehren. Auch das Versammlungs- und Missionierungsverbot sowie den später eingeführten Wehrdienst akzeptierten sie nicht. In einem Schreiben der Bayerischen Politischen Polizei vom 1.2.1936 hieß es über die als „gefährliche Staatsfeinde“ bezeichneten „Bibelforscher“: „Nicht genug, daß sie den deutschen Gruß ablehnen, sich von allen nationalsozialistischen sowie staatlichen Einrichtungen fernhalten und den Militärdienst verweigern, machen sie auch gegen den Heeresdienst Propaganda […], wobei sie sich auch durch Inschutzhaftnehmen und Strafanzeigen nicht abschrecken lassen“ (StAM, StAnW 8180).

Neben individuellem Widerstand wurden durch ein Untergrundnetz vier reichsweite Protestaktionen organisiert:

1) Am 7.10.1934 wurden an die Reichsregierung gerichtete Protestbriefe versandt, aus München durch Johann Kölbl. Danach wollten die Zeugen Jehovas „allen Menschen nach Möglichkeit Gutes“ tun; die Reichsregierung und ihre Beamten würden sie aber „drängen, dem höchsten Gesetz des Universums ungehorsam zu sein“ (Eberle, S.207). Parallel dazu erreichten Hitler Tausende Telegramme aus dem Ausland. Diese Protestaktion muß ein enormes Ausmaß gehabt haben, denn es wurden mindestens 1000 Briefe der Gestapo übergeben.

2) Mit der Flugblattaktion vom 12.12.1936 protestierten die Zeugen Jehovas gegen ihre Verfolgung und erklärten, sie würden sich nicht an das Verbot ihrer Organisation halten. Der Inhalt des Flugblattes war als „Resolution“ bei einem Kongress in Luzern verabschiedet worden. Von den 2.500 Anwesenden waren etwa 300 Deutsche, auch Münchner, illegal in die Schweiz gereist. Martin Pötzinger gehörte zu den Organisator*innen für die Verbreitung in München. In seiner Wohnung stellte er 4000 Flugblätter her; weitere 10.000 kamen aus dem Ausland.

3) Am 11.2.1937 wurde die Resolution in München und vielen anderen Orten im Reich nochmals verteilt (in einigen Orten auch etwas später).

4) Am 20.6.1937 gelang die Verbreitung des Flugblattes „Offener Brief“ mit mehr Details zur Verfolgung, obwohl inzwischen viele Zeugen Jehovas bereits inhaftiert waren. Die Münchnerin Elfriede Löhr organisierte die Aktion für ganz Bayern und betraute Anna Gerig mit der Koordination für München.

Diese vier Aktionen lösten reichsweite Verfolgungswellen aus. Das Münchner Abendblatt berichtete am 2.3.1937 über einen Prozess gegen elf Zeugen Jehovas, davon zehn Münchner*innen: „Viele scheinen immer noch nicht zu wissen, daß es sich um eine i n t e r n a t i o n a l e Vereinigung handelt, hinter der j ü d i s c h e  M a c h e r stehen und die ihren Schäflein […] die soldatische Betätigung und die Verteidigung des Vaterlandes verbietet“ (gesperrte Schrift im Original). Abhängig vom Verhalten in Haft oder danach konnte die KZ-Einweisung folgen, wo die Zeugen Jehovas mit dem lila Winkel eine eigene Häftlingskategorie bildeten. Die Bayerische Politische Polizei bestimmte: „Betätigt sich eine Person nach ihrer Entlassung oder richterlicher Bestrafung erneut für die I.B.V., so ist sie [...] in Schutzhaft zu nehmen und soweit es sich um eine männliche Person handelt, in das Konzentrationslager Dachau zu überstellen“ (StAM, StAnW 8180). Die Zeugen Jehovas waren die einzigen KZ-Häftlinge, die freigelassen wurden, wenn sie sich dem NS-Regime durch Unterschrift einer Erklärung unterwarfen. Nur wenige machten davon Gebrauch.

Bis zuletzt kam es zu Verurteilungen und Hinrichtungen von Zeugen Jehovas. So wurde die Münchnerin Therese Kühner am 30.8.1944 vom Volksgerichtshof wegen Verbreitung regimefeindlicher Schriften zum Tode verurteilt und am 6.10.1944 enthauptet. „Auch die verstärkten Bemühungen der Gestapo [konnten] die Untergrundtätigkeit der Zeugen Jehovas [...] nie vollständig zum Erliegen bringen“ (Garbe, S. 329). Während die Gerichtsurteile der letzten Kriegsjahre härter ausfielen und sich die Zustände in den Gefängnissen verschlimmerten, ergaben sich für viele Zeugen Jehovas im KZ gewisse Erleichterungen, da sich im Laufe der Zeit ihr Status innerhalb der Häftlingshierarchie gefestigt hatte.

Es gab in der NS-Zeit auch Hilfen couragierter Bürger*innen. Der Münchner Alois Eibl etwa wurde von einem Nachbarn vor der Gestapo gewarnt und konnte sich verstecken. Umgekehrt wurden andere Verfolgte durch Zeugen Jehovas unterstützt. In Frankfurt am Main erinnert eine Stele an einen Bäcker, der Juden weiter mit Brot versorgte, in der KZ-Gedenkstätte Dachau eine Tafel an einen Kalfaktor, der Mithäftlingen heimlich Brot und Wasser in die Zellen brachte. Beide waren Zeugen Jehovas. Mehrere jüdische Verfolgte berichteten in ihren Autobiografien, wie sie von Zeugen Jehovas versteckt gehalten wurden, um sie vor dem Zugriff der Gestapo zu schützen. Einige Zeugen Jehovas wurden von Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Die Zeugen Jehovas insgesamt beteiligten sich nicht an der Verfolgung von Juden*Jüdinnen, Sinti*zze und Rom*nja oder anderen.

Wiedergutmachung
Im Entschädigungsrecht zählen die Zeugen Jehovas zu den sogenannten „Gruppenverfolgten“. Zu diesem Thema existiert bislang zwar keine umfassende Studie. Allerdings sind von den 54 Münchner Zeugen Jehovas, die im KZ waren oder hingerichtet wurden, zwanzig Anträge bekannt. Diese wurden meist aus wirtschaftlicher Not gestellt, weil z.B. der Ernährer der Familie hingerichtet worden war. Die Anträge wurden meist genehmigt, aber die Beträge der sogenannten Wiedergutmachung waren nur gering.
(In der DDR, wo die Gemeinschaft 1950 verboten wurde, kam es zur Rücknahme bereits genehmigter Anträge). Manche Geschädigte stellten keinen Antrag, da sie einen materiellen Ausgleich für ihre Prinzipientreue als im Widerspruch zu ihrer religiösen Haltung stehend ablehnten. Einigen blieb eine Wiedergutmachung versagt, weil den Urteilen der NS-Militärjustiz erst 1998 die Rechtsgültigkeit aberkannt wurde. Abgelehnt wurde z.B. der Antrag der Witwe eines am 11.11.1943 hingerichteten Wehrdienstverweigerers. Der Bundesgerichtshof bestätigte am 14.11.1956 das ablehnende Urteil wegen der in der NS-Zeit geltenden allgemeinen Wehrpflicht. Die Witwe erhielt keine Entschädigung (Herrberger, S. 211ff).

Quellen

Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, Thomas-Mann-Archiv N 38/19, Brief Thomas Mann vom 2.8.1938 an Martin Christian Harbeck, den damaligen Leiter des Schweizer Büros der Zeugen Jehovas, über das im Namen von Franz Zürcher, Stellvertreter von Harbeck, herausgegebene Buch „Kreuzzug gegen das Christentum“.
Staatsarchiv München, StAnw 8180.
Besier, Gerhard/Stoklosa, Katarzyna (Hg.): Jehovas Zeugen in Europa – Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, Münster 2013.
Eberle, Henrik: Briefe an Hitler, Bergisch Gladbach 2007.
Garbe, Detlef: Zwischen Widerstand und Martyrium – Die Zeugen Jehovas im „Dritten Reich“, München 1994.
Herrberger, Marcus: Rehabilitierung von Kriegsdienstverweigerern, in: Demokratische Geschichte. Jahrbuch für Schleswig-Holstein, Bd. 22, Malente 2011, S. 193-218.
Hesse, Hans: „Die Pflicht zum Widerstand gegen eine nicht von Gott gewollte Obrigkeit wird in der Bibel oft genug betont“ – Eine Skizze zur Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus, in: Schmidt, Horst: Der Tod kam immer montags – Verfolgt als Kriegsdienstverweigerer im Nationalsozialismus, Essen 2003, S. 113-143.
Mehringer, Hartmut: Das andere Deutschland. Widerstand und Emigration, in: Möller, Horst u.a. (Hg.): Die tödliche Utopie. Bilder, Texte, Dokumente, Daten zum Dritten Reich, 3. Auflage, München 2001, S. 268-325.
Nerdinger, Winfried / Wilker, Christoph: Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in München 1933-1945, München-Berlin 2018.
Wilker, Christoph: Ich hatte eine gerade Linie, der ich folgte.
Die Geschichte von Rita Glasner, einem Bibelforscherkind im "Dritten Reich", München 2015.

Empfohlene Zitierweise

Christoph Wilker: Zeugen Jehovas: Verfolgung und Widerstand (publiziert am 02.02.2024), in: nsdoku.lexikon, hrsg. vom NS-Dokumentationszentrum München, URL: https://www.nsdoku.de/en/lexikon/artikel?tx_nsdlexikon_pi3%5Baction%5D=show&tx_nsdlexikon_pi3%5Bcontroller%5D=Entry&tx_nsdlexikon_pi3%5Bentry%5D=910&cHash=adb3cc9ea546351f85cfbe6ca4e7b960