Demjanjuk-Prozess

Ereignisse
Verfasst von Ulla-Britta Vollhardt

Später NS-Prozess in München

Von 2009 bis 2011 fand in München unter breiter Medienresonanz einer der letzten großen NS-Prozesse statt. Vor Gericht stand der bei Prozesseröffnung 89-jährige John Demjanjuk. Als ehemaliger „Hilfswilliger“ der SS wurde er der Beihilfe zum Mord in mindestens 27.900 Fällen angeklagt, begangen 1943 im Vernichtungslager Sobibór.

Der gebürtige Ukrainer Iwan Mykolajovyč Demjanjuk stammte aus einfachen Verhältnissen. Nach vierjähriger Schulzeit arbeitete er als Traktorist auf einer Kolchose, ehe er 1940 zur Roten Armee eingezogen wurde. 1942 geriet er in deutsche Gefangenschaft. Im Kriegsgefangenenlager Chełm ließ er sich als „fremdvölkischer Hilfswilliger“ rekrutieren. Er durchlief das SS-Ausbildungslager „Trawniki“ südlich von Lublin und wurde ab März 1943 als einer von etwa 130 ukrainischen „Hilfswilligen“ als Wachmann in Sobibór eingesetzt. Ab Oktober 1943 tat er Dienst im KZ Flossenbürg.

Nach Kriegsende hielt Demjanjuk sich in verschiedenen Lagern für Displaced Persons auf, darunter Feldafing. 1952 gelang ihm mit Frau und Kind die Ausreise in die USA, deren Staatsbürgerschaft er 1958 erwarb. Als John Demjanjuk ließ er sich in der Nähe von Cleveland/Ohio nieder, wo er bei Ford arbeitete. Nach Bekanntwerden seiner Beteiligung am Holocaust wurde ihm 1981 die amerikanische Staatsbürgerschaft aberkannt. 1986 folgte die Auslieferung an Israel, das ihn wegen angeblicher Gewalttaten im Vernichtungslager Treblinka zur Anklage brachte. Ein Sondergericht verurteilte ihn 1988 in Jerusalem zum Tode. 1993 musste dieses Urteil aufgehoben werden, nachdem neue Beweismittel belegten, dass Demjanjuk verwechselt worden war. Er kehrte in die USA zurück und wurde 1998 wieder eingebürgert. Seine nachweisliche Tätigkeit als Wachmann im Vernichtungslager Sobibór führte jedoch 2004 zum erneuten Entzug der Staatsbürgerschaft; der Versuch der Abschiebung in die Ukraine misslang.

Nach Vorermittlungen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg wurde Demjanjuk schließlich 2009 nach Deutschland abgeschoben und in München vor Gericht gestellt. Bemerkenswert war, dass es überhaupt zu einer Anklage gekommen war, da Demjanjuk eine konkrete Tat nicht mehr nachgewiesen werden konnte. Die Staatsanwaltschaft sah jedoch allein seine Anwesenheit als Wachmann im Vernichtungslager als ausreichende Grundlage für eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord an und brach damit mit einer jahrzehntelangen juristischen Praxis. Umso bemerkenswerter war, dass auch das zuständige Landgericht München II dieser Auslegung folgte. Nach 93 Verhandlungstagen verurteilte es den Angeklagten, der jede Aussage verweigerte, am 12.5.2011 wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Menschen zu fünf Jahren Haft. Das Urteil, gegen das Demjanjuk Revision einlegte, wurde nicht mehr rechtskräftig, da Demjanjuk vor der Entscheidung des Revisionsgerichts am 17.3.2012 in einem Altenheim in Bad Feilnbach starb.

Mit seiner neuen Rechtsauffassung aber schrieb das Münchner Gericht Geschichte. Sie führte dazu, dass neue Ermittlungen gegen das ehemalige Personal der Vernichtungslager eingeleitet und weitere Anklagen erhoben werden konnten. Und sie war von großer symbolischer Bedeutung für die Überlebenden, Hinterbliebenen und Nachkommen der Opfer. 2016 bestätigte dann der Bundesgerichtshof als Revisionsinstanz im Fall eines vom Landgericht Lüneburg verurteilten SS-Unterscharführers des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz die neue Rechtsauffassung.

Quellen

Benz, Angelika: Der Henkersknecht. Der Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk in München, Berlin 2011.
Douglas, Lawrence: Späte Korrektur. Die Prozesse gegen John Demjanjuk, Göttingen 2020.
Volk, Rainer: Das letzte Urteil. Die Medien und der Demjanjuk-Prozess, München 2012.
Wefing, Heinrich: Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess, München 2011.

Empfohlene Zitierweise

Ulla-Britta Vollhardt: Demjanjuk-Prozess (publiziert am 06.11.2023), in: nsdoku.lexikon, hrsg. vom NS-Dokumentationszentrum München, URL: https://www.nsdoku.de/lexikon/artikel/demjanjuk-prozess-141