Judenverfolgung und Holocaust

Thema
Verfasst von Edith Raim

Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden*Jüdinnen 1933-1945

Seit Beginn der NS-Herrschaft in Deutschland 1933 waren alle von den Nationalsozialist*innen ergriffenen Maßnahmen gegen Juden*Jüdinnen auf deren Diskriminierung, Verfolgung, Vertreibung und letztendlich Vernichtung angelegt. Von Beginn seiner politischen Tätigkeit 1919 an hatte Adolf Hitler immer wieder „die Juden“ als die Wurzel allen Übels bezeichnet und ihre „Entfernung“ aus der deutschen Gesellschaft als dringenden Programmpunkt der nationalsozialistischen Bewegung propagiert. Dass es nicht nur leere Worte waren, zeigte schon der Hitler-Putsch 1923, bei dem noch in der Nacht bekannte Juden in München von NS-Aktivisten verhaftet wurden.

Der Boykott im April 1933 zielte auf die wirtschaftliche Enteignung der Juden*Jüdinnen, die ‚Nürnberger Gesetze‘ (1935) auf ihre soziale Ausgrenzung. Immer neue Schikanen, Maßnahmen oder Gesetze wurden gegen die Juden*Jüdinnen in Deutschland initiiert. Zwar war die Zahl der aktiv an der Verfolgung beteiligten Deutschen nicht groß, weite Teile der nichtjüdischen Bevölkerung sahen aber dem Treiben tatenlos zu. Mit dem „Anschluss“ Österreichs, der Eingliederung des Sudetenlands und der Schaffung des Protektorats Böhmen und Mähren dehnte sich der Einflussbereich des Nationalsozialismus weiter aus. In Österreich vollzogen Parteiaktivisten die Ausplünderung der Juden*Jüdinnen durch eigenmächtige ‚Arisierung‘ in besonders extremer Form. Die gewaltsamen Maßnahmen hatten auch eine radikalisierende Wirkung auf die Judenverfolgung im ‚Altreich‘. Beim Novemberpogrom 1938 wurde der Übergang von der Diskriminierung und Ausgrenzung hin zu schrankenloser Gewalt und Mord erstmals deutlich. Zwar war es vor allem die Zerstörung von Eigentum und Sachwerten, die am augenfälligsten war, doch waren beim Pogrom Dutzende von Menschen ermordet worden, was in der Folge ungeahndet blieb. Die Verhaftung von 30.000 Personen, von denen etwa 26.000 in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen eingeliefert wurden, sollte zwar in erster Linie den Druck zur Vertreibung der Juden*Jüdinnen aus dem Reich erhöhen, doch war deutlich geworden, dass die NS-Führung vor Morden an Juden*Jüdinnen nicht mehr zurückschreckte.

Mit dem Überfall auf Polen 1939 tat das Deutsche Reich den Schritt in den Völkermord. Neben den militärischen Handlungen waren SS, Polizei und immer wieder auch Wehrmachtseinheiten an Morden an Juden*Jüdinnen beteiligt. Allein bis zum Ende des Jahres 1939 wurden bereits mehrere tausend polnische Juden*Jüdinnen ermordet. Die nationalsozialistischen Eroberungs- und Besiedlungspläne im Osten (‚Lebensraum im Osten‘) gingen einher mit gigantischen Völkerverschiebungen, deren Opfer vor allem Juden*Jüdinnen wurden. Vertreibungen und Deportationen in ein ‚Judenreservat‘ im Osten des deutschen Herrschaftsbereichs waren erste Maßnahmen. Als 1940 deutlich wurde, dass eine Abschiebung nicht schnell realisierbar war, wurden von den deutschen Besatzern in Polen Ghettos eingerichtet, als Zwangsvertretung der dort zusammengepferchten Juden*Jüdinnen fungierten Judenräte. Die ‚Umsiedlung‘ in Ghettos erleichterte auch die Beraubung der jüdischen Bevölkerung, denn die Mitnahme von Gegenständen war streng limitiert, der Besitz von Vermögenswerten oder Bankkonten ohnehin untersagt. Völlig überfüllte Quartiere, Lebensmittelmangel, Krankheiten und Zwangsarbeit forderten in kürzester Zeit viele Opfer.

Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941 stellte dann gleichzeitig den Schritt in den systematischen Mord an den Juden*Jüdinnen dar. Nach den Mordexzessen des Jahres 1939 schien die Besatzungspolitik in Polen in ‚geordneteren Bahnen‘ zu verlaufen. Juden*Jüdinnen wurde zumindest dem Anschein nach ein vorläufiges Weiterleben zugestanden, wenn auch unter elenden Bedingungen in Ghettos zusammengepfercht und zur Zwangsarbeit verpflichtet. Der Krieg gegen die Sowjetunion hingegen stand von Anfang an unter der Prämisse der Vernichtung jeglichen jüdischen Lebens. Schon vor dem Einmarsch in die Sowjetunion war in der NS-Regierung, in Polizei und Wehrmacht erörtert worden, inwiefern Juden*Jüdinnen, die durch die nazistische und antisemitische Propaganda oft genug als ‚jüdische Bolschewisten‘ doppelt stigmatisiert wurden, sofort zu töten seien. Die genauen Mordbefehle an SS und Polizei (Mai/Juni 1941) sind nicht vollständig rekonstruierbar. Zunächst erschossen die deutschen Besatzer massenweise wehrfähige jüdische Männer, doch schon wenige Wochen später weiteten sie die Tötungen auf die gesamte jüdische Bevölkerung aus. In Litauen und Lettland waren die Mordaktionen so umfassend, dass Ende 1941 nur noch ein Bruchteil der ehemals 230.000 litauischen und 70.000 lettischen Juden*Jüdinnen am Leben war. Die vier SS-Einsatzgruppen A, B, C und D, folgten den kämpfenden Truppen der Wehrmacht. Juden*Jüdinnen wurden im Regelfall an den überrannten Orten zusammengetrieben und nur wenige Tage nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Massenerschießungen an vorbereiteten Gruben getötet. Bis März 1942 waren auf diese Weise mehr als eine halbe Million Juden*Jüdinnen in den besetzten sowjetischen Gebieten ermordet worden. Die Ausdehnung des nationalsozialistischen Mordprogramms auf ganz Europa wurde mit der Wannsee-Konferenz am 20.1.1942 fixiert. Der Massenmord in Polen und der Sowjetunion war zu dem Zeitpunkt schon in vollem Gang, fast eine Million polnischer und sowjetischer Juden*Jüdinnen war bereits ermordet.

Juden*Jüdinnen aus dem Reich, denen ab Oktober 1941 die Emigration verboten war, sowie aus dem Protektorat Böhmen und Mähren wurden Richtung Osten deportiert. Zuvor war ihnen der in Polen bereits seit 1939 eingeführte ‚Judenstern‘ aufgezwungen worden, die meisten waren in ‚Judenhäuser‘ und Sammellager gezwungen worden. Mit der Deportation in den Osten ab Herbst 1941 wurden die deutschen Juden*Jüdinnen in den systematischen Genozid einbezogen. Die ersten 5000 Deportierten – darunter auch annähernd 1000 Münchner Juden*Jüdinnen –, die in fünf Zügen vom 25. bis 29.11.1941 Kaunas in Litauen erreichten, wurden sämtlich erschossen, in Riga wurden am 30.11.1941 mehrere hundert Berliner Juden*Jüdinnen ermordet. Dies war durch die SS-Führung nicht beabsichtigt, weil die NS-Regierung Gerüchte im Reich über das entsetzliche Ende der Deportierten fürchtete, doch schon wenige Monate später waren derartige Überlegungen auch gegenüber den Juden*Jüdinnen aus dem Reich hinfällig; sie wurden stattdessen, wie die einheimischen Juden*Jüdinnen, von den Transitghettos im Distrikt Lublin direkt in die Vernichtungslager verbracht.

In Kulmhof (Chełmno, Reichsgau Wartheland) bestand seit Dezember 1941 ein Vernichtungslager, in dem die Opfer, meist Juden*Jüdinnen oder auch Rom*nja, in Gaswagen ermordet wurden. Im Distrikt Lublin wurden seit Oktober 1941 die zwei Vernichtungslager Belzec (Bełżec) und Sobibor (Sobibór), im Distrikt Warschau das Vernichtungslager Treblinka errichtet, die seit Juni 1942 mit dem Namen ‚Aktion Reinhard(t)‘ (in Erinnerung an den Chef des Reichssicherheitshauptamtes und wichtigsten Akteur des Genozids an den Juden*Jüdinnen, Reinhard Heydrich) bezeichnet wurden. In den Monaten von Juli bis November 1942 wurden die meisten Morde begangen und etwa 1,5 Millionen Menschen dort umgebracht. Güterzüge mit den Deportierten wurden in die Lager gebracht, ukrainische Hilfskräfte trieben und zerrten die Opfer aus den Waggons, die Menschen wurden gezwungen, sich auszuziehen, um in die Gaskammern gepfercht zu werden, wo sie mit Auspuffgasen getötet wurden. ‚Sonderkommandos‘, bestehend aus jüdischen Zwangsarbeitern, holten die Leichen aus den Gaskammern und vergruben sie. Kleider und Wertsachen wurden weiterverwendet. Seit Sommer 1942 war auch das KZ- und Vernichtungslager Auschwitz (in der Nähe der polnischen Stadt Oświęcim) Endstation für die Transporte von Juden*Jüdinnen aus ganz Europa. Die Morde dort wurden mit Zyklon B, einem Schädlingsbekämpfungsmittel, begangen.

Sämtliche europäischen Juden*Jüdinnen, sowohl diejenigen, die sich in von Deutschland besetzten Gebieten oder in den Satellitenstaaten befanden, wurden in die Mordpläne miteinbezogen. Die Opfer wurden allein zum Zweck ihrer Tötung oft über tausende von Kilometern verschleppt, wie etwa die griechischen Juden*Jüdinnen, die selbst von entlegenen griechischen Inseln nach Auschwitz deportiert wurden. Die Zahl der Mordopfer von Auschwitz wuchs 1944 erneut an, als die Deportation der Juden*Jüdinnen aus Ungarn in Gang gesetzt wurde, obwohl sich die Niederlage der Deutschen längst abzeichnete. Seit Ende 1943 zerstörten die Täter die Vernichtungslager im Distrikt Lublin und im Distrikt Warschau zur Verwischung der Spuren, in Auschwitz wurden Ende 1944 auf Befehl Heinrich Himmlers Gaskammern und Krematorien gesprengt. Selbst die Ermordeten wurden von sog. ‚Enterdungskommandos‘ exhumiert und die Leichen verbrannt. Das Martyrium der europäischen Juden*Jüdinnen war mit der Zerstörung der Gaskammern jedoch noch nicht beendet: Bei der Räumung der Lager vor dem Anmarsch der Alliierten wurden erneut Tausende getötet. Unter unsäglichen Bedingungen wurden sie teils zu Fuß, teils per Bahn ins Deutsche Reich gebracht, wo sie wieder in Konzentrations- und Außenlagern inhaftiert waren und nach deren Auflösung auf so genannten Todesmärschen ihr Leben ließen. Die Todesrate war gerade in den letzten Kriegsmonaten hier besonders hoch.

Da weder bei den Massenerschießungen noch in den Vernichtungslagern die Opfer genau registriert wurden, kann die Zahl der Opfer bis heute nur geschätzt werden. Insgesamt wurden zwischen 5,6 und 6,3 Millionen europäische Juden*Jüdinnen während des Holocaust ermordet.



Quellen

Benz, Wolfgang: Der Holocaust, München 2014.
Friedländer, Saul: Das Dritte Reich und die Juden. Verfolgung und Vernichtung 1933-1945, München 2007.
Pohl, Dieter: Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933-1945, 3. Auflage, Darmstadt 2010.

Empfohlene Zitierweise

Edith Raim: Judenverfolgung und Holocaust (publiziert am 14.02.2024), in: nsdoku.lexikon, hrsg. vom NS-Dokumentationszentrum München, URL: https://www.nsdoku.de/lexikon/artikel/judenverfolgung-und-holocaust-399