Als „Ostjuden“ bezeichnet man solche Juden*Jüdinnen, die aus dem ehemaligen „Ansiedlungsrayon“ des Zarenreichs vor dem Ersten Weltkrieg stammten, also aus Polen, Weißrussland, der Ukraine oder Russland. Sie waren seit den 1890er-Jahren, verstärkt dann nach dem Ersten Weltkrieg, ausgewandert, häufig in Folge von Pogromen in ihren Heimatländern. Andere wollten den ärmlichen Lebensbedingungen in ihrer Heimat entfliehen. Die überwiegende Mehrheit emigrierte in die Vereinigten Staaten, nur eine Minderheit blieb in Westeuropa und siedelte sich hier vor allem in den großen Metropolen an. Einigen gelang es, die Staatsangehörigkeit ihrer neuen Heimat zu erhalten, andere behielten ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit oder waren offiziell „staatenlos“. In Deutschland lebten die meisten „Ostjuden“ in Berlin; hier wiederum konzentrierten sie sich vor allem in einem Quartier in der Nähe des Alexanderplatzes, dem sogenannten „Scheunenviertel“. In München wohnten Anfang der 1920er-Jahre schätzungsweise 3.000 „Ostjuden“, bei einer gesamten Einwohnerzahl von rund 646.000 Menschen (1919) und einem Ausländeranteil von etwa 5% (Walter 2011).
In München lebten viele „Ostjuden“ rund um den Gärtnerplatz. Dort gab es eine Vielzahl kleiner Synagogen bzw. Betstuben, die von ihnen eher frequentiert wurden als die beiden Synagogen der länger eingesessenen Juden*Jüdinnen. Die aus Osteurope Einwandernden waren in der Regel nicht vermögend. Sie waren überwiegend kleine Händler*innen und Kaufleute, auch viele Handwerker*innen und Arbeiter*innen gab es unter ihnen. In ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrer Lebensweise unterschieden sich viele „Ostjuden“ von den assimilierten, oft schon seit Generationen in München ansässigen Glaubensgenoss*innen: Sie sprachen jiddisch, waren häufiger orthodox und trugen dann entsprechende, traditionelle Kleidung.
Das Verhältnis zwischen den eingesessenen jüdischen Deutschen und den „Ostjuden“ war zwiespältig und nicht frei von Spannungen. Einerseits übte die ursprüngliche Religiosität der „Ostjuden“n auf die jüdischen Deutschen eine gewisse Faszination aus, zugleich erinnerten sie manche an die eigene Herkunft aus Armut und Bedrängnis. Die Alteingesessenen sahen in ihnen verwandte Glaubensgenoss*innen, von denen gerade die Hilfsbedürftigen ihrer Unterstützung und Solidarität bedurften. Andererseits glaubten viele die eigene, mühsam erworbene Assimilierung gefährdet. Denn das auffällige, unangepasste Erscheinungsbild der „Ostjuden“ in der Öffentlichkeit war eine bevorzugte Zielscheibe für den während des Ersten Weltkriegs im ganzen Deutschen Reich explosionsartig angestiegenen Antisemitismus.
Gerade den oft aus ärmlichen Verhältnissen stammenden „Ostjuden“ wurde vorgeworfen, wie es in einem Bericht des Auswärtigen Amts hieß, „zum Schaden des bayerischen Volkes Vermögen erworben“ (zit. nach Pommerin, S. 316) zu haben und besonders für Schleichhandel, gestiegene Preise und Inflation verantwortlich zu sein; hieraus sprach das alte Vorurteil des „jüdischen Wucherers“.
Während der Revolution und der kurzen Periode der Räterepubliken hatte sich der Antisemitismus aber noch verstärkt. Hierzu beigetragen hatte vor allem der Umstand, dass einige wichtige Protagonisten wie Kurt Eisner, Ernst Toller, Gustav Landauer, Eugen Leviné und andere jüdischer Herkunft waren. Das Beispiel der Revolution in Russland, wo ebenfalls jüdische Aktivisten, wie z.B. Leo Trotzki, eine führende Rolle spielten, hatte bereits die Überzeugung befördert, dass der „Bolschewismus“ eine jüdische Erfindung sei, ein Instrument „des Judentums“ zur Erringung der Weltherrschaft. Diese Überzeugung war bis in die Reihen des Bürgertums verbreitet, wie eine Bemerkung Thomas Manns dokumentiert, der meinte, dass eine Welt, die noch Selbsterhaltungsinstinkt besitze, „mit aller aufbietbaren Energie und standrechtlicher Kürze gegen diesen Menschenschlag vorgehen“ müsse (Mann, Tagebücher, 2.5.1919).
Die pauschale Gleichsetzung der führenden Revolutionäre mit Juden, insbesondere osteuropäischer Herkunft, war vor allem in den Reihen der Ordnungskräfte verbreitet. Dies beleuchtet zum Beispiel ein Bericht des nach der Niederschlagung der Räterepublik neu eingesetzten Polizeipräsidenten Ernst Pöhner vom 7.6.1919: „Zunehmende Erregung herrscht gegen die eingewanderten wie seßhaften Juden, weil man ihnen vorwirft, durch Verhetzung wie durch Geldmittel der bolschewistischen Regierung Vorschub geleistet zu haben“ (BayHStA, MA 99902). Pöhner war auch derjenige, der von Anfang an darauf abzielte, „Ostjuden“ systematisch aus München auszuweisen, was die Stadtkommandantur laut eigenem Bericht vorerst verhinderte, weil sie Pöhners pauschale Unterstellung, die aus Osteuropa eingewanderten Juden*jüdinnen seien Unterstützer*innen der Räterepublik gewesen, für falsch hielt.
In seiner Zeit als Ministerpräsident in Bayern, ab März 1920, erließ Gustav von Kahr sofort eine neue Fremdenverordnung, die die Ausweisung sämtlicher nach 1914 eingewanderter „Ostjuden“ und anderer „lästiger Ausländer“ erleichtern sollte, weswegen es für „Ostjuden“ noch schwieriger wurde, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen oder gar eingebürgert zu werden. Vor allem organisierten Kahr und Pöhner nun mehrere Ausweisungsaktionen, die sich explizit gegen „Ostjuden“ richteten. Für ein systematisches Vorgehen fand Kahr aber keine ausreichende Unterstützung in seinem Kabinett. Dies änderte sich, als Kahr am 26.9.1923 Generalstaatskommissar mit diktatorischen Vollmachten wurde: Am 17.10.1923 ließ er die Münchner Polizei die bis dahin umfassendste Razzia durchführen und 70 Familien Ausweisungsbefehle überstellen. Wie viele „Ostjuden“ tatsächlich München verlassen mussten, ist auch heute nicht mehr zu ermitteln, zumal angesichts des antisemitischen Klimas viele aus Osteuropa zugewanderte Juden*Jüdinnen die Stadt „freiwillig“ verlassen haben dürften. Gegenüber der polnischen Regierung rechtfertigte Kahr die Ausweisungen mit der Begründung, dass sie das Gastrecht des bayerischen Staates missbraucht hätten.
Die Ausweisungsaktion von 1923 erwies sich im Nachhinein als wenig effektiv, überdies als politisch schädlich, weil es massive Proteste aus dem Ausland gab. Das Vorhaben, die „lästigen“ „Ostjuden“ auszuweisen, blieb in rechten Kreisen immer aktuell und rückte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1933 sofort auf die Agenda. Polizeipräsident August Schneidhuber verfolgte die Absicht, sämtliche nach 1914 aus Osteuropa eingewanderte Juden*Jüdinnen auszuweisen, insbesondere, wie er sich ausdrückte, die „notorischen Schieber, Wucherer und undurchsichtigen Geschäftsmänner“. Er scheiterte jedoch vorerst am Widerstand der Regierung von Oberbayern, die vermutlich außenpolitische Verwicklungen fürchtete (StAM, Pol. Dir. 8490). Erst im Zuge des weiter eskalierenden Antisemitismus nach dem Anschluss Österreichs und der zunehmenden außenpolitischen Absicherung infolge des „Münchner Abkommens“ vollzog das NS-Regime im November 1938 die massenhafte Ausweisung nach Polen.