Ghettos

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Verfasst von Edith Raim

Von den Nazis abgesperrte Wohnviertel in Städten Osteuropas, in denen jüdische Menschen unter elendsten Bedingungen leben mussten.

Während des Zweiten Weltkrieges entstanden unter deutscher Besatzungsherrschaft im Osten Europas cirka 1.100 bis 1.200 Ghettos für Jüdinnen*Juden, in welchen Schätzungen zufolge etwa 600.000 bis eine Million Menschen allein aufgrund der miserablen Lebensumstände umkamen. Der Entstehung der Ghettos gingen zudem oftmals Massaker, insbesondere an Intellektuellen und Männern vor allem zur Schwächung der Gemeinde und Einschüchterung der übrigen jüdischen Bevölkerung voraus, weitere starben bei Razzien und Mordaktionen. Die allermeisten Ghetto-Bewohner*innen wurden bei Massenerschießungen ermordet oder starben in einem Konzentrationslager.

Die von den Nationalsozialisten als „jüdische Wohnviertel“ eingerichteten Ghettos unterschieden sich erheblich von ihren historischen Vorgängern, insbesondere was ihren Zwangscharakter angeht: Die Mehrheit der Jüdinnen*Juden eines Gebiets wurde zusammengetrieben und zur Isolierung vom Rest der Bevölkerung in viel zu kleine, offene oder geschlossene Wohnbezirke gepfercht. Neben dem Verlust von Privatsphäre bestimmten Hunger und Krankheit den Alltag der Ghettobewohner*innen. Lebensmittel waren knapp, die hygienischen Bedingungen katastrophal. Hinzu traten die stete Angst vor der Deportation und die seelische Belastung durch den Verlust von Freund*innen und Familienmitgliedern. Diese Lebensbedingungen entsprachen ganz der Vorstellung Heinrich Himmlers, der sich im November 1939 so äußerte: „Es wird höchste Zeit, daß dieses Gesindel zusammengetrieben wird, in Ghettos, und dann schleppt Seuchen hinein und laßt sie krepieren.“ (zit. nach Michman, S. 70)

Eine groteske Verzerrung der tatsächlichen Machtverhältnisse war die von den deutschen Besatzern befohlene „Selbstverwaltung“ der Ghettos durch Judenräte. Diese sollten als Zwischeninstanz zwischen den Ghettobewohner*innen und den deutschen Machthabern vermitteln, ein Unterfangen, das angesichts der konträren Interessenlage zum Scheitern verurteilt war. Die Handlungsspielräume der eingesetzten „Judenräte“ waren minimal, weil sämtliche Entscheidungen hinsichtlich Arbeit, Lebensmittelversorgung, „Aussonderungen“, Fortbestand oder Liquidierung des Ghettos von den Deutschen gefällt wurden und die Judenräte nur Befehlsempfänger waren. Trotz schwerster Selbstzweifel übernahmen die Judenräte die Verantwortung, weil sie hofften, für die Ghettobewohner wenigstens erträglichere Lebensbedingungen zu erreichen. Die meisten Judenräte gerieten in dieser Zwangssituation in höchste Not: Der Vorsitzende des Judenrats im Warschauer Ghetto, Adam Czerniaków, nahm sich im Juli 1942 das Leben, nachdem die SS von ihm forderte, jeden Tag 5.000 Ghettobewohner auszusuchen, um sie in das Vernichtungslager Treblinka zu deportieren. Andere, wie etwa Mordechai Chaim Rumkowski, der „Judenälteste“ des Ghettos Litzmannstadt (Łódź), der sich den Anordnungen der SS gebeugt hatte und das Überleben des Ghettos unter Opferung der Kinder, der Alten, der Nichtarbeitsfähigen sowie der schwangeren Frauen zu sichern versuchte, wurde nach der Liquidierung des Ghettos selbst im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet. Die Frage der „Kollaboration“ der Judenräte war in den Ghettos ein heftig umstrittenes Thema, das auch in der einschlägigen Geschichtsschreibung zu Kontroversen führte. In den letzten Jahren hat insbesondere die aussichtslose Situation der Ghettobewohner*innen das Interesse der Historiker*innen gefunden, die den Ghetto-Alltag ebenso wie den Widerstand und die kulturellen Aktivitäten der Menschen auf der Grundlage von Ghettochroniken und Tagebüchern der Opfer untersuchten.

Entgegen früherer Annahmen war die Einrichtung von Ghettos von den deutschen Besatzern nicht von langer Hand geplant; es existiert kein Beweis, dass eine allgemeine Ghettoisierung durch die NS-Führung angeordnet worden wäre. Vielmehr führte vor allem in der Anfangsphase die Angst vor den verabscheuten „Ostjuden“ zur Bildung von „jüdischen Wohnvierteln“ durch die lokalen Herrschaftsträger. Mit ihrer Hilfe sollte das „Vagabundieren“ der Jüdinnen*Juden und die „Infiltration“ der Restbevölkerung unterbunden werden. Eine große Rolle spielte auch die jeweilige Initiative lokaler Besatzungsbehörden. Zudem profitierte die einheimische Bevölkerung, da die Ghettoisierung freien Wohnraum für Nichtjüdinnen*Nichtjuden schuf und der Ausplünderung von jüdischem Besitz Vorschub leistete. Hinzu kam die Zwangsarbeit der Ghetto-Insass*innen, die auch lokale Unternehmen und Behörden gerne nutzten.

Die ersten Ghettos entstanden um die Jahreswende 1939/40 (z.B. in Petrikau); im Lauf des Jahres 1940 folgten unter anderem die zwei größten Ghettos: Warschau im Generalgouvernement (bis zu 500.000 Bewohner*innen) und Litzmannstadt im annektierten Warthegau (über 200.000 Bewohner*innen). Die Mehrzahl der Ghettos wurden allerdings in den ab Juni 1941 besetzten Ostgebieten errichtet, unter anderem in Minsk, Riga, Wilna, Kaunas, Lemberg (Lwiw) und Białystok. Die Entwicklung war aber keineswegs einheitlich: Obwohl es z.B. in Kyjiw, Simferopol und Dnipropetrowsk eine große jüdische Bevölkerungsgruppe gab, entstanden dort keine Ghettos. Zwischen Mitte des Jahres 1942 und Oktober 1943 wurden durch Mordaktionen die meisten Ghettos liquidiert, einige wie Riga oder Kaunas auch in Konzentrationslager umgewandelt. Im März 1944 entstand sodann mit dem deutschen Einmarsch in Ungarn eine Vielzahl an neuen Ghettos, sie fungierten jedoch lediglich als kurzfristige und provisorische Sammelstellen. Von hier aus wurden zwischen Mai und Juli 1944 etwa 438.000 Juden nach Auschwitz gebracht.

Im Jahre 2002 verabschiedete Deutschland ein Gesetz zur Entschädigung der ehemaligen Arbeitskräfte der Ghettos. Das ermöglichte Überlebenden bzw. ihren Angehörigen eine sogenannte „Ghettorente“ zu beantragen.






Quellen

Megargee, Geoffrey P. (Hg.): Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933-1945. Ghettos in German-occupied Eastern Europe, Bde. 2A und B, Bloomington 2012.
Michman, Dan: Angst vor den „Ostjuden“. Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust, Frankfurt am Main 2011.
Miron, Guy/Shulhani, Shlomit (Hg.): Die Yad Vashem Enzyklopädie der Ghettos während des Holocaust, Göttingen 2014.
Pohl, Dieter: Ghettos, in: Benz, Wolfgang/ Distel, Barbara (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 9: Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jugendschutzlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeitslager, München 2009, S. 161-191.

Empfohlene Zitierweise

Edith Raim: Ghettos (publiziert am 26.10.2023), in: nsdoku.lexikon, hrsg. vom NS-Dokumentationszentrum München, URL: https://www.nsdoku.de/en/lexikon/artikel/ghettos-270