Jüdische Bevölkerung und Antisemitismus

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Verfasst von Edith Raim

Überblick über die lange Verfolgungsgeschichte der Juden*Jüdinnen

Die Ablehnung der Juden*Jüdinnen durch ihre nichtjüdischen Mitmenschen hat ihre Wurzeln in der Antike: Die monotheistische jüdische Religion war unvereinbar mit den vorherrschenden polytheistischen Religionen anderer semitischer Völker aber auch der römischen Staatsdoktrin. Das problematische Verhältnis der Juden*Jüdinnen zum römischen Kaiserkult führte zu Konflikten und Aufständen, die mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem, dem Verlust der Eigenstaatlichkeit und der Vertreibung großer Teile des jüdischen Volkes aus Judäa endeten. Die Juden*Jüdinnen wurden in viele Teile des Römischen Reiches zerstreut (‚Diaspora‘). Auch in den römischen Territorien des späteren Deutschland entwickelte sich jüdisches Leben.

Im Mittelalter waren die Juden*Jüdinnen in den meisten europäischen Ländern zu randständigen Existenzen gezwungen. Ihnen wurde aufgrund der religiösen Rivalität, diesmal allerdings mit dem monotheistischen Christentum, lediglich ein Platz an den Rändern der christlichen Gesellschaften zugebilligt. Mannigfaltige Schikanen erschwerten ihr Leben in den mittelalterlichen Städten: Sie lebten meist in abgegrenzten Wohnbezirken wohnen, waren häufig auf Berufe verwiesen, die den Christen verwehrt waren (darunter die Geldleihe) und wurden mit stigmatisierenden Kennzeichen ausgestattet wie Judenhüten oder farbigen Stoffflecken. Die Erlaubnis, überhaupt Wohnsitz an einem Ort nehmen zu dürfen, hing vom Gutdünken der Territorialherren oder Stadtväter ab und musste teils mit exorbitanten Geldzahlungen erkauft werden. In Krisenzeiten wurden die Genehmigungen häufig sofort widerrufen, die Juden*Jüdinnen zu Sündenböcken für Krieg, Krankheiten, Feuersbrünste, Missernten und sonstige Nöte gemacht und aus den Orten vertrieben oder gleich ermordet.

Bis ins 19. Jahrhundert hinein war die Ablehnung der Juden*Jüdinnen aber rein religiös motiviert. So dominierte der Vorwurf, ‚die Juden‘ hätten Jesus Christus getötet und würden sich der neuen Religion des Christentums verweigern. Die von der Gesellschaft auferlegten Beschränkungen beherrschten den Alltag der Juden*Jüdinnen in den deutschen Territorien bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Jüdisches Leben blieb stets prekär: Zwar entstanden in vielen Orten Synagogen und jüdische Friedhöfe, doch immer wieder wurde das Gemeindeleben durch Pogrome oder Vertreibungen unterbrochen oder völlig zerstört. Die fehlenden Freiheiten, die mangelnde Anerkennung durch die Gesellschaft und die Hoffnung auf ein besseres Leben in Übersee trieben viele von ihnen zur Auswanderung in die Vereinigten Staaten von Amerika oder andere Teile der Welt. Etliche konvertierten zum Christentum, um in der deutschen bürgerlichen Gesellschaft Fuß fassen zu können.

Erst über zwei Jahrzehnte nach der Französischen Revolution von 1789 fand das Gedankengut der Emanzipation seinen Niederschlag in den sogenannten Judenedikten der deutschen Einzelstaaten, so in Preußen 1812 oder Bayern 1813, die den Juden*Jüdinnen zwar die moderne staatsbürgerliche Rechte verliehen, doch von einer vollen rechtlichen Gleichstellung und vor allem gesellschaftlichen Anerkennung waren sie noch weit entfernt.

Erst mit der Reichsgründung 1871 wurden den Deutschen jüdischen Glaubens und/oder jüdischer Abstammung dieselben Rechte zugestanden wie allen anderen Landsleuten. Trotzdem blieben ihnen bestimmte Berufszweige wie etwa das Offizierskorps oder das Beamtentum durch subtile Diskriminierungen verwehrt. So verlegten sich viele auf die freien Berufsfelder wie etwa Medizin und Recht. 1871 waren von 41 Millionen Einwohner*innen des Deutschen Reiches etwa eine halbe Million jüdisch. Trotz ihres geringen Bevölkerungsanteils war ihr Beitrag zur Industrialisierung und zum wirtschaftlichen Aufschwung groß, ebenso beeindruckten ihre kulturellen und gesellschaftlichen Leistungen, auch auf dem Gebiet der Wohlfahrt. Der deutsche Sieg über Frankreich und die Reichsgründung 1871 förderten in einigen Teilen der Bevölkerung übersteigerten Nationalismus, der sich auf eine vermeintliche Überlegenheit deutscher Abstammung und eine Betonung der Blutsgemeinschaft der Deutschen bezog. Die durch die Industrialisierung verursachte Modernisierung und die rapide wachsende Bevölkerung führten zu Ängsten vor Arbeitslosigkeit, Übervölkerung und Raumnot, die wiederum Polemik gegen Minderheiten und Einwanderung Vorschub leistete.

Gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden*Jüdinnen erhob der Journalist Wilhelm Marr Protest. Er publizierte 1879 das Pamphlet Der Weg zum Siege des Germanenthums über das Judenthum – Vom nichtconfessionellen Standpunkt aus betrachtet. Darin ersetzt Marr die herkömmliche, religiöse Begründung der „Judenfeindschaft“ durch einen völkisch und rassisch motivierten „Antisemitismus“ – eine Bezeichnung, die zuvor bereits vereinzelt aufgetaucht war, deren Erfindung aber unter dem Eindruck der weiten Verbreitung dieser Schrift lange Marr selbst zugeschrieben worden ist. Während in den vergangenen Jahrhunderten den Juden*Jüdinnen vorgeworfen worden war, „anders“ zu sein – sei es in ihrem Glauben, sei es in ihren Traditionen und ihrer Kultur –, wurden stattdessen von den Antisemiten ihre Integration und Anpassung an die deutsche Gesellschaft und ihre Teilhabe am politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben misstrauisch beäugt und zum Vorwurf gemacht. Ressentiments gegen Juden*Jüdinnen waren in der wilhelminischen Gesellschaft weit verbreitet. Im Berliner Antisemitismusstreit (1879–1881), ausgelöst durch den konservativen Historiker Heinrich von Treitschke, der sich gegen die Judenemanzipation wandte, die Juden*Jüdinnen für soziale und wirtschaftliche Missstände verantwortlich machte und gegen deren Einwanderung polemisierte, prallten nationalistische und liberale Argumente aufeinander. Antisemiten agitierten für eine Rücknahme der Gleichberechtigung der Juden*Jüdinnen. Zwar wurden in der Folge die Rechte der Juden*Jüdinnen nicht beschnitten, doch wiesen deutsche Behörden osteuropäische Juden aus und handhabten die Einwanderung von Juden*Jüdinnen aus Osteuropa deutlich restriktiver. Erstmals gelang es antisemitischen Parteien wie der Christlich-sozialen Partei und der Deutschkonservativen Partei von Adolf Stoecker, einzelne Reichstagswahlkreise zu erobern.

Im Ersten Weltkrieg kämpften jüdische Soldaten in den deutschen Waffenverbänden, ca. 12.000 fielen für das Kaiserreich. Vermehrt gelang Juden auch der Aufstieg in Offizierslaufbahnen, und der ‚Burgfrieden‘ schien zunächst auch Antisemiten von der Kritik an der Gleichstellung abzuhalten. Doch bald schon tauchte der Vorwurf der ‚Drückebergerei‘ auf. Die ‚Judenzählung‘ innerhalb der Armee zeigte zwar, dass der Vorwurf völlig unbegründet war, weil die Juden entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil in den Truppenteilen vertreten waren; die Nichtveröffentlichung der Ergebnisse jedoch leistete Gerüchten Vorschub, die den Juden alle Schuld am Krieg und schließlich auch an der militärischen Niederlage und an der wirtschaftlichen Misere gaben. ‚Kriegsgewinnler‘, ‚Schieber‘, ‚Wucherer‘ oder ‚Inflationsgewinnler‘ gehörten zu den häufigsten antisemitischen Vorurteilen in der Weimarer Republik, die in den 1920er-Jahren bereits zu einer Vielzahl radikaler und gewalttätiger Angriffe gegen Juden*Jüdinnen führten. Erste Boykottaufrufe, nicht in jüdischen Geschäften zu kaufen, datieren aus diesen Jahren. Seit 1927 riefen antisemitische und völkische Zeitungen wie der Völkische Beobachter der NSDAP zum Boykott gegen jüdische Geschäfte auf. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 war Wasser auf den Mühlen der Antisemiten, die mit einfachsten Erklärungsmodellen alle Schuld den Juden*Jüdinnen aufhalsen wollten.

Schon bei seinen ersten öffentlichen Auftritten als politischer Agitator hatte Adolf Hitler erkannt, dass er mit antisemitischer Polemik Anhänger*innen gewinnen und Massen mobilisieren konnte. Nicht nur verbale Ankündigung von Gewalt, sondern gewalttätiges Handeln prägten die nationalsozialistische Politik seit den frühen 1920er-Jahren.

Mit Beginn der NS-Herrschaft 1933 waren die Schleusen geöffnet. Aufgrund der negativen demographischen Entwicklung (‚Mischehen‘, Übertritte zum Christentum, geringe Kinderzahl, Emigration) stagnierte die Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder im Reich bei etwa einer halben Million, während ihr Anteil an der mittlerweile auf 60 Millionen gestiegenen Gesamtbevölkerung weiter geschrumpft war. Zu den ersten Opfern nationalsozialistischer Gewalt gehörten immer auch Juden*Jüdinnen, die – wie etwa Felix Fechenbach – zugleich politische Gegner waren und auf dem Weg in die Haft oder in der Haft ermordet wurden. Der Boykott vom 1.4.1933, das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und die ‚Nürnberger Gesetze‘ vom September 1935 entzogen den Juden*Jüdinnen mühsam erworbene bürgerliche Rechte, dienten ihrer wirtschaftlichen Ausplünderung und ihrer sozialen Isolierung und Diskriminierung. Eheschließungen mit ‚arischen‘ Deutschen wurden untersagt, die Zugehörigkeit zur ‚Volksgemeinschaft‘ unmöglich gemacht. Jüdische Ärzte und Rechtsanwälte durften nur noch jüdische Patient*innen behandeln und jüdische Mandant*innen annehmen, jüdische Kinder keine ‚deutschen‘ Schulen mehr besuchen. In Ortschaften, Gasthäusern, Parks oder Bädern wurden Schilder aufgestellt, die Juden*Jüdinnen den Aufenthalt untersagten.

Den reichsweiten Übergang von der Diskriminierung zur schrankenlosen Gewalt bildete das Novemberpogrom. Während des Jahres 1938 war es zu zahlreichen antisemitischen Gewaltausbrüchen gekommen. Politische Ereignisse wie der ‚Anschluss‘ Österreichs und die Annexion des Sudentenlands hatten einerseits Wogen nationalistischer Begeisterung ausgelöst, andererseits Kriegsängste geschürt, die an vielen Orten zu lokalen antisemitischen Gewalttaten geführt hatten: Schmierereien an Häusern von Juden*Jüdinnen, Demolierungen von Synagogen und Friedhöfen waren 1938 vielfach beobachtet worden. Das Pogrom nahm am 7.11.1938 in Kurhessen und Sachsen-Anhalt seinen Anfang und weitete sich – geschürt durch Reichspropagandaminister Joseph Goebbels und zahlreiche NSDAP-Funktionäre – im Verlauf des 9.11.1938 auf das ganze Reich aus. Hunderte Synagogen und rund 7500 Geschäfte jüdischer Inhaber*innen wurden im ganzen Reich an zahlreichen Orten zerstört. Selbst NS-Quellen sprachen von mehr als 90 Toten im Reich, die tatsächliche Zahl der Morde dürfte bei etwa 400 gelegen haben.

Die Ghettoisierung der Juden*Jüdinnen in sogenannten ‚Judenhäusern‘ im Reich, das Tragen des gelben Judensterns seit September 1941 und das Verbot der Emigration der Juden*Jüdinnen aus dem Reich bildeten weitere Schritte auf dem Weg in die vollständige und systematische Vernichtung des Judentums. Massenerschießungen von Juden*Jüdinnen auf dem Territorium der Sowjetunion waren bereits seit Sommer 1941 in Gang. Den Übergang zur systematischen Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich bildeten die Deportationen, die im Herbst 1941 begannen und denen, von ganz wenigen Ausnahmen in Verstecken abgesehen, alle deutschen, österreichischen und tschechischen Juden*Jüdinnen zum Opfer fielen, die nicht durch ‚Mischehen‘ vor der Deportation geschützt waren. Die verschleppten Menschen wurden entweder sofort erschossen, so beim ersten Transport von Münchner Juden*Jüdinnen in das litauische Kaunas im November 1941, oder in Ghettos im Baltikum, im Warthegau, in Polen und in Weißrussland verschleppt, die in der Regel bereits mit einheimischen Juden*Jüdinnen überfüllt waren. Die völlig untragbaren Lebensverhältnisse führten in der Regel dazu, dass die aus Mitteleuropa deportierten Juden*Jüdinnen meist nach wenigen Wochen zugrunde gingen, die Überlebenden wurden in Vernichtungslagern mit Hilfe von Gas ermordet. Das erste dieser Vernichtungslager entstand Ende des Jahres 1941 in Chelmno (Warthegau), weitere folgten seit dem Frühjahr 1942: Neu entstanden Belzec, Sobibor und Treblinka im Generalgouvernement, während die Konzentrationslager Maidanek (ebenfalls im Generalgouvernement) und Auschwitz im annektierten polnischen Oberschlesien zu Vernichtungslagern ausgebaut wurden. Das Ghetto (und KZ) Theresienstadt im Protektorat Böhmen und Mähren diente den nationalsozialistischen Machthabern als ‚Vorhof‘ von Auschwitz.

Ab dem Frühjahr 1942 fuhren die meisten Deportationszüge aus Zentraleuropa direkt in die Vernichtungslager, nach und nach wurden die Gebiete unter deutscher Besetzung von den systematischen Morden erfasst. Im Sommer 1944 wurden die letzten verbliebenen Ghettos wie Litzmannstadt im Warthegau und Kauen (Kaunas) in Litauen liquidiert. Alte Menschen, Frauen und Kinder, die bis zu diesem Zeitpunkt die verschiedenen nazistischen Vernichtungsaktionen durch Glück oder versteckt überlebt hatten, wurden in die Vernichtungslager deportiert. Nur arbeitsfähige Männer und Frauen ohne Kinder überlebten die Selektion in Konzentrations- und Vernichtungslagern wie Auschwitz oder Stutthof. In der letzten Kriegsphase 1944/1945 wurden die Juden*Jüdinnen in Konzentrationslagern und deren Außenkommandos zu schwerster Zwangsarbeit eingesetzt. Gerade in diesen letzten Monaten fanden überdurchschnittlich viele Häftlinge den Tod: Unerträgliche Bedingungen in den überfüllten Konzentrationslagern, völlig ungenügende Lebensmittelversorgung, härteste Arbeitseinsätze bei Schanz- und Bombenräumkommandos oder in aussichtslosen Rüstungsanstrengungen der Nationalsozialisten, grassierende Krankheiten und die Willkür der enthemmten SS-Bewachungsmannschaften sowie das Chaos und die Gewalt während der Räumung der Lager ab Herbst 1944 und Winter 1944/1945 sowie auf den Todesmärschen Richtung Westen minderten die Überlebenschancen. Insbesondere die jüdischen Häftlinge, die in der ‚Lagerhierarchie‘ der Konzentrationslager ganz unten standen, hatten die geringsten Chancen. Insgesamt rund 6 Millionen Juden*Jüdinnen waren am Ende des Zweiten Weltkriegs durch das NS-Regime ermordet worden.

Quellen

Ahlheim, Hannah: „Deutsche, kauft nicht bei Juden“. Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935, Göttingen 2008.
Bergmann, Werner: Geschichte des Antisemitismus, München 2002.
Friedländer, Saul: Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung 1933-1939, München 1994; Bd. 2: Die Jahre der Vernichtung 1939-1945, München 2006.
Graml, Hermann: Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich, München 1988.
Longerich, Peter: Antisemitismus: Eine deutsche Geschichte. Von der Aufklärung bis heute, München 2021.

Empfohlene Zitierweise

Edith Raim: Jüdische Bevölkerung und Antisemitismus (publiziert am 15.02.2024), in: nsdoku.lexikon, hrsg. vom NS-Dokumentationszentrum München, URL: https://www.nsdoku.de/en/lexikon/artikel/juedische-bevoelkerung-und-antisemitismus-400