Gustav Ritter von Kahr (29.11.1862 Weißenburg – 30.6.1934 bei Dachau)

Biographies
Verfasst von Matthias Bischel

Bayerischer Ministerpräsident, Generalstaatskommissar

Gustav von Kahr (rechts) mit anderen prominenten Rechtskonservativen beim Landesschießen der Einwohnerwehren 1920 | Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Bildersammlung 1211

Gustav Kahr, 1862 in eine protestantische Pfarr- und Beamtenfamilie geboren, begann 1881 ein Jura-Studium an der Universität München. Anschließend strebte er wie sein Vater, der später Präsident des Verwaltungsgerichtshofs wurde, eine Karriere im Staatsdienst an. Als junger Beamter wusste Kahr unter anderem dank seines Organisationstalents schnell von sich zu überzeugen: Vor allem die effiziente Schadensbehebung nach einem schweren Wirbelsturm 1894 und später die Durchführung einer vielbeachteten volkskundlichen Ausstellung in Kaufbeuren 1902 wurden positiv registriert.

Bald wurde er ins Bayerische Innenministerium berufen. Dort war der nunmehrige Regierungsrat für das Bauwesen zuständig, fungierte aber auch als Referent für das entstehende Deutsche Museum und engagierte sich außerdem für die junge Heimatschutzbewegung. Es folgte ein weiterer Karriereschub, der 1912 mit der Ernennung zum Staatsrat einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Als Stellvertreter des Innenministers übte der Spitzenbeamte nun erheblichen politischen Einfluss aus, der sich im Ersten Weltkrieg aufgrund von Personalmangel und neuer Verwaltungsaufgaben noch ausweitete. Nach einem Ministerwechsel erhielt Kahr 1917 die von ihm angestrebte Stellung als neuer Regierungspräsident von Oberbayern.

Ein Jahr später erlebte er in diesem Amt die Novemberrevolution: Sie besiegelte für den überzeugten Monarchisten nicht nur die Niederlage des Deutschen Reiches und den Sturz des Königtums in Bayern, sondern war für den Beamten Kahr vor allem aufgrund des Zusammenbruchs der staatlichen Ordnung eine geradezu traumatische Erfahrung. Die Ausschreitungen der Münchner Räterepublik führte er auf die Durchsetzung des demokratischen Gedankens im November 1918 zurück. Erst durch die Einführung des parlamentarischen Mehrheitsprinzips sei es zu den revolutionären Exzessen gekommen. „Freie Bahn dem Schreier“ – so charakterisierte Kahr die demokratische Ordnung in seinen Erinnerungen (Kahr, Erinnerungen, S. 815). Die Sammlung aller „staatserhaltenden“ Gruppen in einer „überparteilichen“ Organisation war daher 1919 für Kahr naheliegend: Er förderte mit allem Nachdruck die entstehenden Einwohnerwehren und führte so eine Konstellation herbei, die seiner Ministerpräsidentschaft den Weg ebnete.

Denn als die Einwohnerwehren im Zuge des Kapp-Putsches den Sturz des sozialdemokratisch geleiteten Kabinetts von Johannes Hoffmann mit ausgelöst hatten, war kein führender Politiker der Bayerischen Volkspartei zur Regierungsübernahme bereit. Georg Heim und Georg Escherich überzeugten schließlich Kahr als die treibende Kraft im Hintergrund zu diesem Schritt und läuteten so die Ära der politisch wenig erfahrenen Beamtenministerpräsidenten ein. Zwar stellte sich Kahr zunächst nur für eine Übergangszeit zur Verfügung, entschloss sich nach dem Wahlerfolg der bürgerlichen Parteien im Juni 1920 dann aber doch zum dauerhaften Verbleib im Amt.

Kahr ergriff nun verstärkt die politische Initiative und begann Bayern nach seinen Vorstellungen zur „Ordnungszelle“ des Reiches, d.h. zum Bollwerk gegen den „Bolschewismus“, umzugestalten. Davon profitierten insbesondere rechtsradikale Gruppen wie die entstehende NSDAP, die als Gegnerin der politischen Linken mit einer weitreichenden Tolerierung ihrer Aktivitäten rechnen durften. Dem Ministerpräsidenten ist in diesem Kontext außerdem die aktive Unterstützung strafrechtlich verfolgter Kapp-Putschisten bei ihrer Flucht vor der Justiz nachzuweisen.

Zentrales Thema der Regierungszeit Kahrs war freilich der hartnäckige Widerstand Bayerns gegen die von den Siegermächten geforderte Auflösung der Einwohnerwehren. Um sie zu bewahren, schlug das Kabinett lange Zeit alle Vermittlungsangebote der Reichsregierung aus. Die Koalition begann jedoch an Kahr zu zweifeln, als dieser im Mai 1921 doch dem Druck nachgeben musste und in die – allerdings nur zum Schein durchgeführte – Entwaffnung einwilligte. Im September 1921 war die BVP-Fraktion schließlich nicht mehr bereit, Kahrs konfrontative Politik weiter mitzutragen: Mit der fast einstimmigen Annahme eines Verhandlungspapiers zur Republikschutzverordnung des Reiches veranlasste sie den Ministerpräsidenten zum sofortigen Rücktritt.

Dieser Rückschlag schmälerte jedoch kaum den faktischen Einfluss Kahrs: Zwar musste der wieder als Regierungspräsident amtierende Politiker die Distanzierung moderater Kräfte hinnehmen, konnte sich jedoch umso mehr der Unterstützung des rechten Spektrums sicher sein, das seine Kompromissunwilligkeit als Charakterfestigkeit feierte. Kahr identifizierte sich daher noch vorbehaltsloser mit der Rolle des Vertrauensmanns der vaterländischen Bewegung, die aus seiner Sicht bayerische Konservative, Deutschnationale und auch Teile der Nationalsozialisten unter einem Dach vereinen sollte. Fortan nützte er jede Gelegenheit, dieses mit seinem Führungsanspruch verbundene Projekt zu propagieren: Als Initiator der Beisetzungsfeier des letzten Königspaares im November 1921 wie auch des Empfangs Hindenburgs im August 1922 zeichnete er für pompöse Demonstrationen des „vaterländischen“ Bayern verantwortlich. Die viel beschworene Einheitsfront begann freilich spätestens im Herbst 1922 zu bröckeln: Mehrere Organisationen kündigten den Vaterländischen Verbänden die Gefolgschaft und schlossen sich dem entstehenden Kampfbund unter Hitlers Führung an. Kahr versuchte zwar mit häufigeren öffentlichen Auftritten gegenzusteuern, konnte dem Prozess jedoch nicht Einhalt gebieten.

Die Position des ehemaligen Ministerpräsidenten war also bereits geschwächt, als er am 26.9.1923 von der Regierung zum Generalstaatskommissar berufen wurde: Mit einer in der Verfassung nicht vorgesehenen Machtfülle ausgestattet, sollte Kahr, so die Hoffnung der bayerischen Regierung, den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung angesichts von Hyperinflation und Umsturzgefahr verhindern. Diese Hoffnung zerschlug sich allerdings schnell, da der Politiker die neue Machtstellung auch für weitergehende Pläne zu nutzen suchte: Insbesondere war Kahr unter bestimmten Voraussetzungen bereit, die Errichtung einer diktatorischen Reichsregierung aktiv zu fördern und stürzte den Freistaat auch deshalb sogleich in mehrere schwere Konflikte mit dem Reich. Da Kahr aus Sicht der Kampfverbände hierbei indes vor dem endgültigen „Absprung“ zurückschreckte, entschloss sich Hitler, den offenen Putsch zu erzwingen.

Am 8.11. nutzte Hitler eine Großkundgebung Kahrs im Bürgerbräukeller, um sich handstreichartig zum politischen Führer des Reiches auszurufen und nötigte den Generalstaatskommissar, sich vor der Versammlung dem Unternehmen anzuschließen. Wieder in Freiheit, widerrief dieser jedoch diese Erklärung und ließ den Aufstand am nächsten Tag gewaltsam niederschlagen.

Als Mitverantwortlicher für diese Eskalation hatte sich Kahr freilich nun fast alle politischen Lager zum Feind gemacht, weshalb er im Februar als Generalstaatskommissar zurücktrat. Sein wenig glaubwürdiges Verhalten beim Hitler-Prozess schmälerte dann das ohnehin stark beschädigte Prestige noch zusätzlich. War somit an eine Fortsetzung der politischen Karriere nicht mehr zu denken, setzte Kahr immerhin seine Weiterverwendung im Staatsdienst durch und bekleidete bis zur Pensionierung 1930 das Amt des Verwaltungsgerichtspräsidenten.

Die Nationalsozialisten vergaßen freilich den „Verrat von 1923“ nicht und rächten sich nach ihrer Machtübernahme 1933 auf brutale Weise: Im Zuge der sogenannten Röhm-Affäre wurde Kahr am 30.6.1934 in der Nähe des KZ Dachau von der SS ermordet.

Quellen

Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Abt. V, Nachlass Gustav von Kahr (insbesondere die nicht publizierten Memoiren Kahrs in NL Kahr 51).
Bischel, Matthias: Auf der Suche nach Stabilität in der Transformation: Gustav von Kahr: eine teilbiographische Studie (1862-1921), [https://edoc.ub.uni-muenchen.de/28481/], Diss., München 2021.
Bischel, Matthias: Generalstaatskommissar Gustav von Kahr und der Hitler-Ludendorff-Putsch. Dokumente zu den Ereignissen am 8./9. November 1923, München 2023.
Deutinger, Stephan: Gustav von Kahr. Regierungspräsident von Oberbayern 1917-1924, in: Deutinger, Stephan/Gelberg, Karl-Ulrich/Stephan, Michael (Hg.): Die Regierungspräsidenten von Oberbayern im 19. und 20. Jahrhundert, München 2010, S. 218-231.
Hinterberger, Hans: Die bayerischen "Beamtenministerpräsidenten" 1920- 1924 und ihre Mitverantwortung am Hitlerputsch. Berlin u.a. 2018.


Empfohlene Zitierweise

Matthias Bischel: Kahr, Gustav von (publiziert am 08.02.2024), in: nsdoku.lexikon, hrsg. vom NS-Dokumentationszentrum München, URL: https://www.nsdoku.de/en/lexikon/artikel/kahr-gustav-von-405