Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess

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Verfasst von Edith Raim

Strafrechtlicher Prozess zur Aburteilung der führenden Nationalsozialisten vor einem Internationalen Militärgericht

Schon 1940 wiesen die britische, französische und polnische Regierung auf Völkerrechtsverletzungen durch das nationalsozialistische Deutschland in Polen hin. Noch während des Krieges bekannten sich die Alliierten zur justiziellen Ahndung der Verbrechen. Die bekannteste einschlägige Erklärung ist die Moskauer Deklaration vom 30.10.1943. Die für die Straftaten in den besetzten Ländern Verantwortlichen sollten in diese Staaten ausgeliefert und nach deren Gesetzen gerichtet werden. Personen, deren Delikte nicht einen klar definierten geografischen Raum, wie etwa einem bestimmten Staat, sondern beispielsweise ganz Europa betrafen, sollten in einem gemeinsamen Prozess der Alliierten abgeurteilt werden. Auf verschiedenen Konferenzen, zuletzt der Potsdamer Konferenz nach Kriegsende, wurde dieser Wille bekräftigt. Rechtsgrundlage für das Verfahren war das Londoner Viermächteabkommen vom 8.8.1945.

Anfänglich war geplant, den Internationalen Militärgerichtshof (bzw. Internationales Militärtribunal, IMT) in Berlin abzuhalten, doch es mangelte an geeigneten Räumen in der zerstörten Stadt, die gleichzeitig auch den Alliierten Kontrollrat beherbergen musste. Der Prozess wurde, nach einer Eröffnungssitzung in Berlin am 18.10.1945, in Nürnberg in der US-Zone am 20.11.1945 fortgesetzt, das aufgrund seines Gerichtsgebäudes mit angeschlossenem Gefängnis geeignet war. Die alte Reichsstadt Nürnberg hatte den Nationalsozialisten als Bühne für die NSDAP-Reichsparteitage gedient, ebenso waren die berüchtigten ‚Nürnberger Gesetze‘ hier 1935 beschlossen worden. Den Alliierten schien es ein wichtiges Symbol, dort, wo sich Hitler und die NSDAP selbst inszeniert hatten, den Nationalsozialismus auch zu richten. Das Strafverfahren folgte amerikanischem Prozessrecht. Die Angeklagten hatten deutsche Verteidiger.

Der Prozess richtete sich gegen die oberste politische, militärische und wirtschaftliche nationalsozialistische Führungsebene des Dritten Reiches. Bekanntermaßen hatten viele Angehörige des NS-Führungspersonals gegen Kriegsende Selbstmord begangen oder waren untergetaucht und konnten nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. So waren zwar wichtige Funktionsträger der NS-Diktatur auf der Anklagebank versammelt, doch sie repräsentierten nur einen Teil der ‚Eliten‘ des „Dritten Reichs“ aus Staat, Partei und Militär.

Auf der Anklagebank waren Hermann Göring (Reichsmarschall), Rudolf Heß (Stellvertreter Hitlers in der NSDAP), Joachim von Ribbentrop (Außenminister), Wilhelm Keitel (Oberkommando der Wehrmacht), Ernst Kaltenbrunner (Reichssicherheitshauptamt), Alfred Rosenberg (Reichsminister für die besetzten Ostgebiete), Hans Frank (Generalgouverneur von Polen), Wilhelm Frick (Reichsminister des Innern), Julius Streicher (Herausgeber des antisemitischen Blattes „Der Stürmer“), Fritz Sauckel (Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz), Alfred Jodl (Wehrmachtsführung), Franz von Papen (Vizekanzler Hitlers, Diplomat), Arthur Seyss-Inquart (Reichsstatthalter in Österreich, Reichsminister ohne Geschäftsbereich), Albert Speer (Reichminister für Bewaffnung und Munition), Konstantin Freiherr von Neurath (Reichsprotektor für Böhmen und Mähren), Hjalmar Schacht (Reichsbankpräsident bis 1939), Walther Funk (Reichsbankpräsident nach 1939), Karl Dönitz (Oberbefehlshaber der Marine, Nachfolger Hitlers als Reichspräsident nach dessen Selbstmord), Erich Raeder (Oberbefehlshaber der Kriegsmarine vor 1943), Baldur von Schirach (Gauleiter von Wien, Reichsjugendführer) und Hans Fritzsche (Leiter der Rundfunkabteilung im Reichspropagandaministerium). Zwei Angeklagte waren schon vor Prozessbeginn ausgeschieden: Robert Ley (Reichsorganisationsleiter der NSDAP) hatte Selbstmord verübt und der Rüstungsfabrikant Gustav Krupp von Bohlen und Halbach war wegen Krankheit verhandlungsunfähig. Martin Bormann (Leiter der Parteikanzlei der NSDAP) wurde in Abwesenheit angeklagt.

Die Anklagepunkte lauteten Verbrechen gegen den Frieden (Planung, Vorbereitung, Durchführung eines Angriffskrieges), Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Beteiligung an einem gemeinsamen Plan bzw. einer Verschwörung zu den obigen Verbrechen. Am 30.9.1946 und 1.10.1946 wurden die Urteile verkündet. Göring, Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner, Rosenberg, Frank, Frick, Streicher, Sauckel, Jodl und Seyss-Inquart wurden zum Tod verurteilt, ebenso Bormann in Abwesenheit. Göring beging kurz vor Vollstreckung Selbstmord, so dass neun der Verurteilten am 16.10.1946 exekutiert wurden. Heß, Funk und Raeder wurden zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen verurteilt, Speer, Neurath, Dönitz und Schirach erhielten zeitige Freiheitsstrafen zwischen 10 und 20 Jahren. Von Papen, Schacht und Fritzsche wurden freigesprochen.

Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess ist ein bis heute in seiner Dimension und seiner Tragweite einmaliges Verfahren. Erstmals wurden die Führer eines verbrecherischen Regimes von einem international besetzten Gerichtshof zur Rechenschaft gezogen. Repräsentanten von Regierung, Armee, NSDAP-Führung und Ministerien standen vor einem Gericht, das sich aus Angehörigen der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs zusammensetzte – auf der Richterbank waren je zwei Vertreter der vier Siegermächte. Bei den Anklägern gab es je einen Hauptankläger der vier Alliierten, dessen Bekanntester wohl Robert H. Jackson (USA) war. Ein gigantischer Ermittlungsapparat, zu dem nicht nur Angehörige der vier Siegermächte, sondern auch Angehörige der unter deutscher Herrschaft besetzten Staaten und des World Jewish Congress als Vertreter des jüdischen Volkes gehörten, trug mehr als ein Jahr lang Beweismittel zusammen, sicherte Dokumente und befragte Zeugen. Dokumente und Aussagen wurden in die vier Verhandlungssprachen Englisch, Französisch, Russisch und Deutsch übersetzt, Simultandolmetscher*innen waren in jeder Verhandlung im Einsatz. Wochenschauen und Zeitungsberichte zahlreicher Journalist*innen begleiteten das Verfahren.

Anklage und Urteil waren trotz des innovativen Charakters des Gerichts konventionell und stützten sich auf nicht widerlegbare Fakten. Die Schuld jedes Angeklagten wurde individuell untersucht. Die differenzierten Urteile (von Freisprüchen bis Todesurteilen) zeigen, wie jeder Tatbeitrag jedes einzelnen geprüft wurde. Deutschland hatte andere Staaten angegriffen, der Angriffskrieg war damit erwiesen. Angriffskriege waren aber von der Völkergemeinschaft geächtet und durch internationale Verträge untersagt. Die anderen Anklagepunkte (Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verschwörung zur Verübung der Verbrechen) waren für die Urteile von eher sekundärer Bedeutung, da sie aus dem Verbrechen des Angriffskrieges resultierten. Geächtet wurde durch das Urteil auch die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Dies betraf einige, aber keineswegs alle NS-Organisationen. Als kriminelle Organisationen wurden die politischen Leiter der NSDAP, die SS, der SD und die Gestapo eingestuft. Reichsregierung, Generalstab und Oberkommando der Wehrmacht sowie die SA wurden dagegen nicht miteinbezogen.

Der Schwurgerichtssaal 600 im Nürnberger Justizpalast, der noch in justizieller Nutzung ist, erinnert an den Prozess. Das Memorium Nürnberger Prozesse bietet dort eine Dauerausstellung am authentischen Ort. Bis heute bilden die Unterlagen des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses, nämlich das Beweismaterial (Nürnberger Dokumente) und die Verhandlungsprotokolle (mehr als 16.000 Seiten), die schon Anfang der 1950er-Jahre von amerikanischer Seite in 15 Bänden publiziert wurden, eine unerlässliche Quelle sowohl für die Verbrechen des Dritten Reiches als auch deren justizielle Ahndung durch die Völkergemeinschaft.

Quellen

Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (Hg.): Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (14. November 1945 bis 1. Oktober 1946). Amtlicher Text in deutscher Sprache, 42 Bände, Nürnberg 1946-1949.
Ueberschär, Gerd (Hg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943-1952., Frankfurt am Main 2000.
Radlmaier, Steffen: Der Nürnberger Lernprozess. Von Kriegsverbrechern und Starreportern, Frankfurt am Main 2001.
W
einke, Annette: Die Nürnberger Prozesse, München 2006.

Empfohlene Zitierweise

Edith Raim: Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess (publiziert am 14.02.2024), in: nsdoku.lexikon, hrsg. vom NS-Dokumentationszentrum München, URL: https://www.nsdoku.de/en/lexikon/artikel/nuernberger-hauptkriegsverbrecherprozess-622