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Sasha M. Salzmann

Drei kurze Lichter, drei lange Lichter, wieder drei kurze.

Rede von Sasha Marianna Salzmann zur Eröffnung der Ausstellung … damit das Geräusch des Krieges nachlässt, sein Gedröhn (30. Oktober 2025 bis 12. Juli 2026)

Vor einigen Wochen flog ich nach einer Lesereise von Boston zurück nach Deutschland, nach München. Am Gate fiel mir diese Frau auf, sie sah sich unschlüssig um, blickte suchend nach links und rechts. Ein Mann redete in lautem Englisch auf sie ein, sie verdrehte den Kopf, in ihrer Hand der dunkelblaue Pass mit dem gelben Dreizack, dem Staatswappen der Ukraine. Sie war so schmal und reichte dem Mann, der auf sie einsprach, kaum bis zur Schulter. Ganz offensichtlich versuchte er ihr weiterzuhelfen, aber sie hob nur immer wieder fragend die Arme. Ich zögerte, dann gab ich mir einen Ruck, ich hatte keine andere Wahl und keine andere Sprache: Wenn ich sie fragen wollte, ob sie Unterstützung brauchte, musste ich es auf Russisch tun.

Sie habe die Durchsagen nicht verstanden, sie könne kein Englisch und kaum Deutsch. Ich übersetzte für sie, und wir kamen ins Gespräch. Sie erzählte, dass sie in Boston ihren Sohn besucht habe, nun fliege sie nach München, dort wohne ihre Tochter schon seit vielen Jahren, sie selbst erst seit der Kriegsausweitung 2022. Sie wollte wissen, was ich beruflich mache, und strahlte mich an, als ich sagte, ich sei Schriftsteller*in. Was ich denn schreibe, fragte sie, und ich antwortete, dass mein letzter Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ heiße. Ah, sagte sie, Tschechow, ein Zitat aus Onkel Wanja, und wie schön das sein müsse: Literatur, Lesereisen, Berlin. Wo ich geboren sei? 

In Russland. In Wolgograd, aufgewachsen in Moskau.

Der Blick, das Zucken in ihrem Gesicht. Sie mühte sich ein Lächeln ab und erzählte, dass ihre Verwandten und Freundinnen alle in Kyiv seien, eigentlich alle außer ihre Kinder. Dass sie das Land auf keinen Fall verlassen wollten, und dass sie immer noch bei jeder Gelegenheit ins Theater gingen. Nur: Tschechow würde nicht mehr gespielt. Und dann schaute sie mich an und sagte ohne jeden Vorwurf und auch nicht als Mahnung, sondern als bloße Feststellung: „Wir werden für immer Feinde sein. Sie und ich. Das ist ab jetzt unser Erbe, Ihres und meines.“

Wir gingen nebeneinander die Flugzeugbrücke entlang, blieben höflich. In der Maschine saßen wir in unterschiedlichen Reihen. Ich über einem der Flügel. Und als die Triebwerke aufheulten, spürte ich sie bis in meinen Bauch, als zerkleinerten sie meine Eingeweide. 

An dieses Gedröhn der Turbinen musste ich denken, als ich die Einladung bekam, heute Abend anlässlich der Eröffnung dieser Ausstellung ein paar Gedanken zum Geräusch des Krieges zu formulieren. Zu sprechen in einem Raum, der den Krieg anschaulich macht, aber selbst außerhalb des Krieges ist. Zu sprechen mit dem Gedröhn des Krieges im Ohr, aber – noch – in Sicherheit. Was uns die Ausstellung zeigt: Dieses Gedröhn war immer schon da, nur wollten wir es nicht hören. Jetzt können wir uns nicht mehr taub stellen. Es dringt deutlich durch die Mauern, mit denen wir unser Leben hier in der Mitte Europas abschirmen.

„Wir werden für immer Feinde sein. Sie und ich“, hallt es mir in den Ohren. Der Satz macht unmissverständlich klar, was da draußen tobt, und auch hier wackeln die Wände, manchmal regnet der Putz auf unsere Köpfe herab. Versehrte schaffen es zu uns. Ab und an machen wir einigen von ihnen die Tür auf. Die meisten von uns sind erschüttert, ja, aber wir sind nicht die Betroffenen. Ich bin mit Ihnen hier im Warmen und muss nicht in einem provisorischen Zelt ausharren. Ich habe Zugang zu sauberem Wasser, zu Lebensmitteln und Strom, zu Medikamenten, ich muss nicht um mein eigenes Leben und das meiner Nächsten fürchten. Ich renne nicht beim Alarm der Sirenen in den Bunker. Ich durchstreife nicht tagein, tagaus Lazarette, um nach Angehörigen zu suchen. Ich stehe heute Abend vor Ihnen, und alle meine Gliedmaßen sind noch dran. 

Wie also kann ich überhaupt reden über Kriegszeiten aus dem vermeintlich sicheren Raum eines Landes, in dem – noch – Frieden herrscht? Wie reden über unsere Involviertheit, ohne es als Betroffenheit aussehen zu lassen, die es nicht ist. Wie die Differenz anschaulich machen zwischen dem Dröhnen echter Bomben und ihrem Widerhall in unseren Eigenweiden. Die Dichterin, Malerin und Philosophin Etel Adnan hat vorgemacht, wie es geht. In ihrem Text In einer Kriegszeit leben wird uns genau dieser Zustand gegenwärtig – ich zitiere:

Der Text entstand 2003. Etel Adnan, die in Beirut geboren wurde, pendelte ihr ganzes Leben zwischen Libanon, Frankreich und den USA. Als die Bomben auf Bagdad fielen, lebte sie in Kalifornien und versuchte, wie sie schreibt, nicht vor Wut zu sterben. 

In diesem Jahr, 2003, entstanden auch eine ganze Reihe von Gedichten, die ich zwanzig Jahre später las, in den Kaffeehäusern Wiens. Ich war verzweifelt und ratlos, ich suchte nach irgendeiner Form der Orientierung, wahrscheinlich nach Trost, und ich klammerte mich an Etel Adnans Verse. Es war wenige Wochen nach dem 7. Oktober 2023, die Bodenoffensive der israelischen Armee hatte bereits begonnen. Ich zählte die Toten in Gaza, wiederholte die Namen der israelischen Geiseln wie ein Mantra und lernte Adnans Gedichte auswendig. Sprach sie mir laut vor, sagte sie Freund*innen am Telefon auf. 

„heute Abend, meine Freunde, gehe ich früh zu Bett, / denn die Dunkelheit ist zu dicht …“, heißt es in einem dieser Gedichte. „Die Dunkelheit ist zu dicht.“ Adnan schrieb diese Worte über einen anderen Krieg, aber es war auch meine Dunkelheit, die sich hier ausbreitete, die Dunkelheit aller Kriegszeiten. Adnans Worte wurden mir damals, in diesem Herbst 2023, zu einer Art Morsezeichen aus Licht in einer sonst undurchdringlichen Finsternis. Sie blitzten auf aus einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, fast wie SOS-Signale es tun: drei kurze Lichter, drei lange Lichter, wieder drei kurze, und universell gültig wie sie. Siehst du das?, schienen sie zu sagen. Furchtbares geschieht, andere sehen es auch, andere finden Worte, Bilder, über die wir uns verbinden.

Wir sind nun also in diese anhaltende Dunkelheit gehüllt. Aber ich sehe immer weiter Etel Adnans Lichtsignale, empfange den Morsecode, weiß, dass ich nicht allein bin mit der Verzweiflung, mit der Ohnmacht, und ich funke zurück.

Drei kurze Lichter, drei lange, wieder drei kurze.
So also ist es, in Kriegszeiten zu leben.

Vom Rasseln der Schlüssel am Bund der Müllmänner im Hof aufwachen. Die Augen öffnen, nach dem Telefon neben meinem Bett tasten, die Schlagzeilen überfliegen. Wie viele Tote heute Nacht? Ein Krankenhaus wurde bombardiert. Die Beine aus dem Bett hieven, die Füße auf den warmen Teppich stellen. Den Dampf, der aus dem Wasserkocher steigt, beobachten wie ein Omen. Den Schwarztee aufgießen, die Birne in Scheiben schneiden, ein Stück und noch ein Stück und noch ein Stück. In einem Podcast den Journalisten Spencer Ackerman sagen hören: „I can't think of a less Jewish thing than to make another person a refugee.“ Am Esstisch sitzen, über den Rand der Tasse pusten, aus dem Fenster schauen, durch die eigene Spiegelung hindurch blicken. Die Katze auf dem Nachbarbalkon schaut zurück. Hebt sie zum Gruß die Pfote? Auf dem Bildschirm des Telefons die Pushnachricht lesen: „Wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre, würde die als gesichert rechtsextremistisch geltende …“ Die Pushnachricht wegwischen und im selben Moment die SMS einer Freundin lesen: „Was nun?“, steht da.

Überlegen, die neue Schallplatte von Little Simz aufzulegen. Stattdessen wahllos Nachrichtenportale auf dem Computer aufrufen. Verstehen, dass der faule Geruch in der Nase von den Rosen auf der Anrichte kommt, sie sind welk geworden, ihre Köpfe hängen. Auf den Balkon hinausgehen, die bordeauxroten und gelben Kronen der Kastanien betrachten, die aussehen, als würden sie in Flammen stehen. Überlegen, ob sie mein brennender Dornbusch sind. Und wenn sie es sind, was sie mir zu sagen versuchen. Irgendwer muss doch wissen, was zu tun ist. „Was nun?“. Die Stille ertragen. 

Den Anruf einer Freundin entgegennehmen, sie sagt, sie überlege, zurück in die Ukraine zu gehen. „Hier in Deutschland will man uns nicht.“ Nichts antworten können. Auf einer der aufgerufenen Nachrichtenseiten lesen, letzte Nacht gab es die schwersten Angriffe auf Kyiv seit Kriegsbeginn … 25 Tote, Dutzende Verletzte … die größte Zahl an Drohnen sei eingesetzt worden, „die der Feind jemals … verwendet“ habe.

Ich denke an die Frau vom Flughafen in Boston. „Wir werden für immer Feinde sein.“ Ich stelle mir vor, wie sie jetzt bei ihrer Tochter in München am Küchentisch sitzt. Sie trinken Tee. Reden über die zerstörte Wohnung in Kyiv, darüber, dass man jetzt alle Teppiche wegwerfen müsse nach dem Raketeneinschlag. Dass die Handwerker fehlen. Oder unterhalten sie sich über die Farben des Herbstes? Diese leuchtenden Töne: Rot, Gelb, Ocker, Bronze. 

So beantwortet meist Anastasiia Petrowna, die Pflegerin meiner Großmutter, meine Frage danach, wie es ihr geht. Entweder erzählt sie, wie schwierig es ist, Handwerker zu finden nach der Zerstörung. Oder sie redet übers Wetter – schön seien diese Herbsttage, das weiche Licht …  Anastasiia Petrowna hat ihre gesamte Familie in Krywyj Rih im Südosten der Ukraine zurückgelassen, um in Deutschland alte Menschen wie meine Großmutter auf die Toilette zu bringen, für sie zu kochen, ihnen die Medikamente herauszulegen. Meine Großmutter und sie sprechen Russisch miteinander, manchmal singen sie auf Ukrainisch. Anastasiia Petrowna sagt, es gibt ein Nach-dem-Krieg. Dann schaut sie auf ihre Hände. Die Hände, die morgens, mittags, abends meine kleingewordene Großmutter wie ein Kind aus dem Bett heben und wieder zurücklegen. Anastasiia Petrowna sagt: „Wenn ich darüber bestimmen könnte, wer in den Himmel kommt, dann wäre er leer.“

Meine Großmutter spricht nicht mehr von ihrer Geburtsstadt Odessa. Sie redet nicht mehr von Czernowitz, der Stadt, in der sie ihren Mann kennengelernt hat. Die Erinnerungen sind Liedern und Szenen aus alten Filmen gewichen. Und dem Schweigen, vor allem dem Schweigen. Laut dröhnt es zwischen den Meldungen über neue Angriffe, neue Opferzahlen.

Meine Großmutter war ein Jahr alt, als ihre Mutter mit ihr vor der Wehrmacht aus Odessa gen Osten fliehen musste. Meine Urgroßeltern waren Ärzt*innen der Roten Armee. 

Ich bin, so wie meine Mutter, in der Stadt geboren, die bis Anfang der sechziger Jahre Stalingrad hieß, in der Heldenstadt also, so ihr offizieller Titel, wo der Untergang des Faschismus besiegelt wurde. Und wo ich heute, als nichtbinärer Mensch, mit meiner Frau nicht Hand in Hand über die Promenade schlendern könnte. Ich stelle mir vor, wie ich mit ihr die Stufen zu Mamajew Kurgan emporsteige und wir auf die Statue Mutter Heimat zugehen mit ihrem 33 Meter langen Schwert, dann senkt sich der Nebel auf mich – „die Dunkelheit ist zu dicht“. Nichts ist zu sehen. Wir verschwinden in einem grauen, wabernden Sud. 

Wir warten auf die Lichtzeichen. Auf die Morsezeichen. Drei kurze Lichter, drei lange Lichter, wieder drei kurze. Auf den universellen Code, der eine Verbindung herstellt über die Zeiten und Räume hinweg. Der uns verbindet mit denen, die das Dröhnen hören. Die der Dunkelheit etwas entgegensetzen.

Der Titel der heute eröffnenden Ausstellung ist ein Zitat von Marguerite Duras. Der Schmerz heißt das Buch, der Titel der Ausstellung stammt aus einem Kommentar zur Anordnung der verschiedenen Texte darin. Es handelt sich um Tagebucheinträge, in denen sie ihr Warten festhält auf die Wiederkehr ihres Mannes aus dem Konzentrationslager, die Wiederbegegnung mit dem Halbtoten und die Gewissheit, dass sie ihn nicht mehr liebt – eine an Radikalität und Schonungslosigkeit kaum zu überbietende Darstellung eines erschütternden Geschehens. Als Einleitung zu zwei Erzählungen im selben Buch heißt es an späterer Stelle: „Diese Texte hätten eigentlich im Anschluß an das Tagebuch Der Schmerz kommen sollen, ich habe es jedoch vorgezogen, sie davon abzurücken, damit das Geräusch des Krieges nachläßt, sein Gedröhn.“

Duras schreibt in einer Art Vorwort, dass sie sich nicht erinnern kann, diese Seiten je geschrieben zu haben. „Wann sollte ich sie geschrieben haben, in welchem Jahr, um welche Tageszeit, in welchem Haus? Ich weiß nichts mehr.“

Ich stelle mir die Dunkelheit vor, die Duras umgab beim Warten, ich stelle mir vor, sie war so dicht, dass sie alle Erinnerung schluckte an diese Seiten, von denen Duras sagte, sie gehörten zum Wichtigsten in ihrem Leben. Und diese Seiten legen Zeugnis ab: vom Krieg, von seinem Gedröhn, den Grausamkeiten, die wir fähig sind, anderen anzutun, von einer allumfassenden Dunkelheit also. Sie mögen uns heranführen an die Grenzen des Erzählbaren – aber dass sie geschrieben wurden, darin steckt auch der größtmögliche Widerstand gegen die Dunkelheit. Sie sind ein Lebenszeichen, ein Lichtzeichen. Es gibt mehr als die Finsternis, von der sie erzählen. 

Das ist, was Kunst vermag. Sie bindet uns wieder an die Welt. 

Vom Waffenstillstand in Gaza erfuhr ich von der 2012 verstorbenen polnischen Dichterin Wisława Szymborska. Nicht aus den Nachrichten. Ein Freund in Israel schickte mir eines ihrer Gedichte in der Nacht. Am Morgen wachte ich auf vom lauten Klappern der Schlüssel am Bund der Müllmänner im Hof, schlug die Augen auf. Tastete nach dem Telefon. Versuchte, den Blick scharfzustellen. Die ersten Zeilen, die ich las, waren die Verse von Szymborska: 

Ich hievte die Beine aus dem Bett, stellte die Füße auf den Teppich. Mir fiel das Denken schwer.

Ist dieser Krieg tatsächlich vorbei? Was ist mit den anderen?

Wann hat Szymborska diese Zeilen geschrieben, letzte Nacht? Ich schaue nach: Das Gedicht Ende und Anfang entstand 1993. Ich lese die Zeilen wieder und wieder und sehe Szymborska 2025 inmitten der Trümmer von Chan Yunis stehen.

Alles dunkel, aber der Funkkontakt steht, der Code funktioniert über die Zeiten und Räume hinweg, die Lebenszeichen sind da, die Leuchtzeichen sind an, sie erreichen uns über Worte, Bilder und Töne.

So ist es für mich, wenn ich durch die Räume dieser Ausstellung gehe. Jedes Kunstwerk veranschaulicht das Gedröhn in Kriegszeiten. Es leuchtet, es sendet den Code: drei kurze Lichter, drei lange, wieder drei kurze. 

Und es verbindet sich mit allen anderen zu einem breiten hellen Strahl. 

Ich danke allen Dichter*innen für ihre Zeilen, die uns diese Signale senden, ich danke allen Künstler*innen und den Kurator*innen und allen, die diese Ausstellung möglich machen. 

Danke für das Licht.

Sasha Marianna Salzmann 

ist  Theaterautor*in, Essayist*in und Dramatur*in. Salzmanns Theaterstücke, die international aufgeführt werden, wurden vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kunstpreis Berlin 2020 und dem Kleist-Preis 2024. Außer sich, Salzmanns Debütroman, wurde 2017 mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Er ist in sechzehn Sprachen übersetzt. Für den zweiten Roman, Im Menschen muss alles herrlich sein, ebenfalls für den Deutschen Buchpreis nominiert, erhielt Salzmann den Preis der Literaturhäuser 2022 und den Hermann-Hesse-Preis 2022.

© NS-Dokumentationszentrum München, Foto: Connolly Weber