Die Geschichte der Zeitzeugenschaft war und ist immer auch eine Geschichte ihrer medialen Vermittlung und ein Spiegel der Mediengeschichte allgemein – das führt die Ausstellung Ende der Zeitzeugenschaft? plastisch vor Augen. Vom Drahttongerät, mit dem der US-amerikanische Psychologe David Boder bereits 1946 Holocaust-Überlebende aufnahm, über die Videokassette des Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies an der Yale Universität um 1980, über Film und Fernsehen bis hin zu den digitalen Formaten von heute – ohne Aufzeichnungsgeräte und Aufnahmetechnik ist die Zeitzeugenschaft über den Holocaust nicht denkbar. Natürlich war und ist die persönliche Begegnung mit einem Zeitzeugen oder einer Zeitzeugin ein einzigartiges, durch nichts zu ersetzendes Erlebnis. Aber nur wenige hatten und haben die Gelegenheit zu einem solchen persönlichen Kontakt. Erst durch die modernen Aufzeichnungsmedien, Fernsehen und Hörfunk erlangten die Berichte der Überlebenden eine Reichweite und Präsenz, die sie zu einem gesellschaftlich relevanten Faktor machten.
Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass die Figur des ‚Zeitzeugen‘ ohne ihre mediale Übersetzung nie zu dem geworden wäre, was sie heute ist: eine weit über die Weitergabe persönlicher Erfahrung hinausgehende moralische Instanz. Diese Entwicklung jedoch ist endlich – mit dem Abtreten der Erfahrungsgeneration stellen sich neue Fragen der Übersetzung: Wer tritt ihr Erbe an und wie wird es weitergegeben? Der technische Fortschritt der jüngsten Zeit, die rasante Entwicklung neuer digitaler und interaktiver Formate und ihr Einsatz in mittlerweile nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen scheinen neue Wege zu eröffnen, hin zu einer gewissermaßen lebendigen Verstetigung von Zeitzeugenschaft. Zugleich stellt sie Zeitzeug*innen wie Vermittler*innen vor neue und bislang ungeahnte Herausforderungen.
Viel ist zum derzeitigen Digital Turn oder auch Virtual Turn gesagt und geschrieben worden. Dabei überwiegen nicht selten die vorsichtig-kritischen Stimmen gegenüber Neuerungen, bezüglich derer sich erst erweisen muss, ob es sich um bloße ‚Moden‘ handelt, von der Geschichte flugs überholte Eintagsfliegen, oder ob die neuen Ideen und Ansätze standhalten werden. Für diese Zurückhaltung im Falle digitaler und virtueller Anwendungen rund um das Thema Zeitzeugenschaft bestehen in der Tat gute Gründe: die Sorge um den Verlust der Authentizität, die Gefahr der Manipulierbarkeit, das Verschwimmen der Grenzen zwischen Realität und Fiktion – dies sind nur einige wenige Schlagwörter, die meines Erachtens zu Recht ins Feld geführt werden, wenn es um die neue Digitalität oder Virtualität geht. Diese Bedenken sind vor allem unter deutschen Historiker*innen und Geschichtsvermittler*innen und in deutschen Museen und Gedenkstätten virulent, gilt der Umgang mit Zeitzeugenschaft über den Holocaust hier schließlich als immerwährende Herausforderung und verlangt besondere Sensibilität.
Doch es gibt sie nun einmal, diese neuen Ansätze und technischen Möglichkeiten. In den von jeher experimentierfreudigeren Vereinigten Staaten haben digitale Zeitzeugnisse in 3D oder in der virtuellen Realität bereits vor Jahren Einzug in die Museen gehalten und werden für die Vermittlungsarbeit in Schulen und Bildungsstätten genutzt. Aber auch in Deutschland entstehen seit einiger Zeit Formate, die auf den neuen technischen Errungenschaften aufbauen und diese fortentwickeln.
Um dem Stand der aktuellen Entwicklung Rechnung zu tragen und die in Fachkreisen geführte Diskussion einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, war es naheliegend, in der Münchner Version der Ausstellung Ende der Zeitzeugenschaft? die Frage nach möglichen zukünftigen Formaten der Vermittlung von Zeitzeugnissen zu vertiefen. Dies umso mehr, als zwei damals gerade im Entstehen begriffene Projekte eine enge Beziehung zu München und somit auch zum NS-Dokumentationszentrum aufwiesen und sich daher für die Präsentation anboten. Wir wollten unserem Publikum ganz bewusst die Gelegenheit bieten, sich vor Ort selbst mit den Möglichkeiten und gegebenenfalls auch Grenzen digitaler und virtueller Zeitzeugenformate auseinanderzusetzen – an ganz konkreten Beispielen. Wir wollten nicht über etwas reden, womöglich eine Antwort vorgeben, sondern zum Ausprobieren einladen, zur eigenen Meinungsbildung und zum Mitdiskutieren. Darüber hinaus konnten wir durch die Integration der beiden Projekte in unsere Ausstellung auch einen Beitrag zu deren Evaluation und Weiterentwicklung leisten.