Hadas Tapouchi: Memory in Practice
Allein im Stadtgebiet München befanden sich während des Zweiten Weltkriegs mehr als 400 Massenunterkünfte für Zwangsarbeiter*innen. Zum Teil wurden Baracken in unmittelbarer Nähe zu Arbeitsstätten oder auf den Firmengeländen errichtet, zum Teil wurden Schulen, Turnhallen oder Gasthäuser zu Unterkünften umfunktioniert. Heute ist von der Vielzahl der historischen Bauten so gut wie nichts mehr sichtbar. Departure Neuaubing bringt mit einer interaktiven Karte die Orte der Verfolgung und Ausbeutung zurück in das kollektive Gedächtnis der Stadt. Für Memory in Practice erkundete die Künstlerin Hadas Tapouchi 30 dieser Orte. Ihre Fotos machen deren ehemalige Präsenz im Stadtbild erfahrbar. Daran anknüpfend lädt die interaktive Stadtkarte die User*innen der App dazu ein, Veränderungen im urbanen Raum auch selbst zu dokumentieren und zu teilen. So entsteht eine Verbindung zwischen den physischen, historischen Orten und einem digitalen Erinnerungsraum. Hadas Tapouchi (*1981) beschäftigt sich in ihrer fotografischen und filmischen Arbeit mit historischen Bezügen und deren gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
Forum DCCA: Fabian Bechtle & Leon Kahane: FREIHAM/NEUAUBING
Bis vor wenigen Jahren markierte das Gelände des ehemaligen Lagers der Reichsbahn in Neuaubing das Ende des Stadtgebiets von München. Der derzeit neu entstehende Stadtteil Freiham erweitert den urbanen Raum und entwirft Vorstellungen vom künftigen Zusammenleben. Dadurch rückt auch die historische Bedeutung der angrenzenden Orte wieder in den Blick: Zum einen das 1942 erbaute Zwangsarbeiter*innenlager der Reichsbahn, zum anderen die seit 1938 bestehende ‚Dornier-Siedlung‘, die Wohnraum für die deutschen Arbeiter*innen der in Neuaubing ansässigen Dornier-Werke bot. Gemeinsam mit dem Stadtteilmanager des Neubaugebiets Freiham, Daniel Genée, erkunden die Künstler Fabian Bechtle und Leon Kahane filmisch die Wechselbeziehungen zwischen Geschichte und Gegenwart im Münchner Westen. Das Forum demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst (Forum DCCA) ist ein Ort für künstlerische Kulturkritik. Es forscht, publiziert, veranstaltet öffentliche Formate und produziert künstlerische Beiträge. Das Forum wurde von Fabian Bechtle (*1980) und Leon Kahane (*1985) gegründet. Beide Künstler leben und arbeiten in Berlin.
Franz Wanner: Mind the Memory Gap
In der mehrteiligen Arbeit Mind the Memory Gap stellt Franz Wanner zwei Orte – Neuaubing und Ottobrunn – nebeneinander, die mit der nationalsozialistischen Rüstungsindustrie verbunden sind. Während an einem Ort die NS-Vergangenheit lange vergessen war und nun ein Erinnerungsort entsteht, wird sie am anderen Ort verdrängt. Im gleichnamigen Film Mind the Memory Gap inszeniert Wanner eine fiktive Guided Tour, in der Geschichte als Vermarktungsstrategie eingesetzt wird, bestimmte Aspekte in Szene gesetzt und andere vernachlässigt werden. Neben den beiden Filmen und den von ihm verfassten Texten regt Wanner die Diskussion von spezifischen Begriffen über ein interaktives Tool an, in dem Sprache als Mittel zur Schaffung von Realitätsvorstellungen reflektiert wird. Die User*innen können sich aktiv an der Verhandlung beteiligen. Franz Wanners (*1975) Installationen und Inszenierungen untersuchen Komplexe wie die deutsche Rüstungsindustrie sowie die Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der heutigen Gesellschaft. Er lebt und arbeitet in München.
Sima Dehgani: Jewmynka und die verlorene Zeit
In ihrer fotografischen Annäherung spürt Sima Dehgani der Geschichte des ukrainischen Dorfes Jewmynka nach. 1943 wurden fast alle Bewohner*innen des Ortes verschleppt, viele nach München und einige nach Neuaubing. Nach Kriegsende kehrten die meisten von ihnen zurück. Ihr Leben war jedoch niemals wieder wie vorher. Die Fotografin dokumentiert die Geschichten und Erinnerungen sowie aktuelle Lebensrealitäten von Zeitzeug*innen und ihren Familien. Eine besondere Rolle im familiären Gedächtnis nehmen dabei auch Gegenstände und Fotos ein, die für bestimmte Erfahrungen stehen, über die nicht gesprochen wurde. Dehganis Fotoserie vermittelt, dass sich Erinnerungen in vielfältigen Formen bewahren, und Objekte Geschichte aktivieren können. Sima Dehgani (*1985) arbeitet als freiberufliche Fotografin. Ausgangspunkt ihrer eigenen fotografischen Praxis sind meist Erfahrungen ihrer bikulturellen Identität. Sie lebt und arbeitet in München.
Alex Rühle: München, Monaco, Malgolo – und zurück
Die Geschichte der italienischen Militärinternierten ist heute größtenteils vergessen. Auch eine finanzielle Entschädigung erhielten sie nie. Im Herbst 2021 reisten der Journalist Alex Rühle, der Historiker Paul-Moritz Rabe und die Fotografin Alessandra Schellnegger durch Norditalien, um nach den Erinnerungen ehemaliger Militärangehöriger zu suchen, die während des Zweiten Weltkriegs als Kriegsgefangene Zwangsarbeit in München leisten mussten. Dabei trafen sie auf Söhne und Töchter, die von Trauma, Verlust und Vergessen berichten, aber auch von einem unbeabsichtigten Neuanfang und einem Dessert, das eine ganz besondere Rolle spielte. Alex Rühle (*1969) ist Kulturreporter im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung und Buchautor. Er lebt und arbeitet in München.
Paintbucket Games: Forced Abroad. Tage eines Zwangsarbeiters
Auf Grundlage des Tagebuchs eines ehemaligen niederländischen Zwangsarbeiters haben die Gamedesigner*innen von Paintbucket Games in Zusammenarbeit mit dem NS-Dokumentationszentrum das erste Spiel zum Thema NS-Zwangsarbeit entwickelt. Die Visual Novel Forced Abroad veranschaulicht, was die Zeit als Zwangsarbeiter in Neuaubing für den 19-jährigen Niederländer Jan Bazuin bedeutete. User*innen können den Verlauf des Games durch ihre eigenen Entscheidungen beeinflussen und erfahren dadurch auch etwas über mögliche historische und persönliche Handlungsspielräume. In einem Erinnerungsalbum können Hintergrundinformationen gesammelt werden, die zum Verständnis der komplexen Geschichte beitragen. Die Illustrationen stammen von der Comiczeichnerin Barbara Yelin. Das Buch Jan Bazuin. Tagebuch eines Zwangsarbeiters erscheint im Februar 2022 im Verlag C.H. Beck. Das Indie Studio Paintbucket Games wurde 2018 von Jörg Friedrich und Sebastian St. Schulz gegründet. Ziel ihrer Arbeit ist es, Videospiele zu entwickeln, die gesellschaftspolitisch relevante Themen behandeln und sich dabei auf eine starke Erzählung konzentrieren. Bekannt sind sie u.a. durch das vielfach ausgezeichnete Spiel Through the Darkest of Times.
Departure Neuaubing setzt die Geschichte der Zwangsarbeit auf unterschiedliche Weise in Beziehung zur Gegenwart und lädt zur Partizipation ein. Die Web-App nutzt ein breites Spektrum an Medien- und Vermittlungsformaten, um Zugänge für eine möglichst breite Gruppe an User*innen mit unterschiedlichen Vorerfahrungen und Online-Nutzungsgewohnheiten anzubieten. Sie greift aktuelle, in sozialen Netzwerken etablierte Entwicklungen wie Storytelling, Mediatisierung und Medienkonvergenz auf, die den Medienalltag insbesondere junger Menschen bestimmen. Die Inhalte sind unter departure-neuaubing.nsdoku.de lokal wie global verfügbar und ermöglichen eine aktive Auseinandersetzung mit den Themen Arbeit und Ausbeutung. Perspektivisch werden die Teilprojekte mit Workshops und Vermittlungsformaten vor Ort ergänzt. Auf diese Weise wirkt das Digitale ins Analoge zurück, Wissen und Inhalte werden kollektiv erarbeitet und in die Entstehung des neuen Erinnerungsortes in Neuaubing eingebunden. Dort, in der Ehrenbürgstraße 9, existieren große Teile des ehemaligen NS-Zwangsarbeiter*innenlagers, das sich heute durch seine vielfältigen Nachnutzungen auszeichnet. In zwei der acht noch erhaltenen Baracken entsteht ein öffentlicher Erinnerungsort mit Ausstellungen und Vermittlungsprogramm.
Departure Neuaubing wird von einem umfangreichen Begleitprogramm gerahmt. Dies beinhaltet unter anderem eine Comic-Werkstatt mit Barbara Yelin, einen Fotoworkshop mit Sima Deghani sowie eine Lehrerfortbildung zum Thema Historische Games im Unterricht. Am 23. Februar 2022 wird das Tagebuch von Jan Bazuin im NS-Dokumentationszentrum präsentiert.