Oberbayerische Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar

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Verfasst von Sibylle von Tiedemann

Psychiatrische Klinik, Ort der dezentralen NS-„Euthanasie“

Zeitgenössische Ansichtskarte mit Luftaufnahme der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar | Archiv des Bezirks Oberbayern, Sammlungen

1905 wurde wegen Überbelegung der Münchner „Kreisirrenanstalt“ die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing eröffnet und auf derem Nachbargrundstück 1912 die Anstalt Haar. Aus wirtschaftlichen Gründen fusionierten beide Einrichtungen 1931 zur Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Die Anstalt imitiert mit dem typischen Pavillonstil mit Kirche und Gutshof einen dörflichen Charakter. Behandelt und gepflegt wurden dort Kinder und Erwachsene beiderlei Geschlechts und aller Konfessionen aus ganz Bayern. Die meisten Patient*innen wurden von der Psychiatrischen Nervenklinik Nußbaumstraße und der Psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses Schwabing überwiesen. Mit etwa 3000 Patienten war sie eine der größten Anstalten im Deutschen Reich.

In den 1930er-Jahren verschlechterten sich die Lebensbedingungen der Patient*innen durch Mittelkürzungen fortwährend. Während des Krieges wurde Personal eingezogen, viele Gebäude dienten aus Luftschutzgründen den Universitätskliniken als Ausweichkrankenhaus, ein Reservelazarett wurde errichtet. Für die Patient*innen blieb nur noch wenig Raum.
Seit 1935 wurden in der Anstalt rassenhygienische Schulungen für insgesamt mehr als 20.000 Teilnehmer*innen abgehalten. Es waren überwiegend Mitglieder von NS-Organisationen sowie Medizinstudent*innen, Bedienstete der Polizei, der Wehrmacht und von Strafanstalten. Ein eigens eingestellter „Erbarzt“ übernahm die „erbbiologische Bestandsaufnahme“ und erstellte Sippentafeln von den Familien der Patient*innen.

Mehr als 1700 Menschen sind in Eglfing-Haar zwangssterilisiert worden. Die Anstalt entwickelte sich unter der ärztlichen Leitung des überzeugten Nationalsozialisten Hermann Pfannmüller zu einem Ort der Selektion und Vernichtung. In der „Kinderfachabteilung“ wurden mehr als 332 Kinder mit überdosierten Medikamenten umgebracht; in den beiden Hungerhäusern starben mehr als 440 Menschen. Von dieser Anstalt aus wurden 2100 Menschen bei der 'Aktion T4' in die Gaskammern der Tötungsanstalten Grafeneck und Hartheim geschickt, neben 900 anstaltseigenen Patient*innen waren es vor allem Patient*innen kirchlicher Einrichtungen. Eglfing-Haar war Sammelanstalt für etwa 180 jüdische Anstaltspatient*innen aus ganz Bayern, die von hier in Tötungsanstalten verbracht und dort ermordet wurden. Auf verschiedenen Stationen in Eglfing-Haar starben mehr als 1400 erwachsene Patient*innen durch überdosierte Medikamente, Nahrungsmittelentzug und Vernachlässigung. 35 Patienten wurden ins KZ Dachau überstellt.

Die ehemaligen Hungerhäuser sowie die „Kinderfachabteilung“ wurden nach 1945 weiterhin für die Behandlung der Anstaltspatient*innen verwendet; Hinweise auf die an diesem Ort begangenen Verbrechen gab es nicht. Auf dem Klinikgelände wurde erst am 18.1.1990 ein Mahnmal des Bildhauers Josef Gollwitzer mit der Inschrift „Zum Gedenken an die Opfer der Euthanasie während der NS-Zeit und zur Mahnung“ enthüllt. Auf der Tafel werden die Opfer der „Kinderfachabteilung“, der Hungerkost und der 'Aktion T4' benannt.


Quellen

Richarz, Bernhard: Heilen, Pflegen, Töten. Zur Alltagsgeschichte einer Heil- und Pflegeanstalt im Nationalsozialismus, Göttingen 1987.
Schmidt, Gerhard: Selektion in der Heilanstalt 1939-1945, Stuttgart 1983.

Empfohlene Zitierweise

Sibylle von Tiedemann: Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar (publiziert am 18.12.2023), in: nsdoku.lexikon, hrsg. vom NS-Dokumentationszentrum München, URL: https://www.nsdoku.de/en/lexikon/artikel/heil-und-pflegeanstalt-eglfing-haar-322