Michael Siegel wurde am 14.9.1882 in Arnstein in Unterfranken geboren und starb am 15.3.1979 in Lima in Peru. Nach einem Studium der Rechtswissenschaften in München und Berlin promovierte er 1907 zum Dr. jur. und trat in eine 1878 von zwei Onkeln gegründete Münchner Rechtsanwaltskanzlei ein, wo er zusammen mit einem Cousin praktizierte. Die Kanzlei vertrat u.a. die Interessen der Nymphenburger Porzellanmanufaktur sowie des Bayerischen Einzelhandel- und Warenhausverbands.
Da ein Mandant Siegels, der Münchner Kaufhauseigentümer Max Uhlfelder, am 9.3.1933 in ‚Schutzhaft‘ genommen worden war, begab sich Siegel am folgenden Tag ins Polizeipräsidium in der Ettstraße, um gegen die Verhaftung zu protestieren und eine Haftentlassung zu erwirken. Doch stattdessen bemächtigte sich die SS-Hilfspolizei seiner, misshandelte ihn, schnitt ihm die Hosenbeine ab und trieb ihn barfuß mit einem Schild um den Hals auf einem Prangermarsch durch die Innenstadt.
Ein zufällig vorbeikommender Fotograf hielt die Szene fest, die zwei Fotos wurden noch im März 1933 zur Illustration des gewalttätigen Umgangs der Nationalsozialisten mit Juden*Jüdinnen und politischen Gegnern in den USA verbreitet. Der Urheber der Fotos ist umstritten: Der Berufsfotograf Heinrich Sanden erklärte, die Fotos gemacht und anschließend ins Ausland verkauft zu haben, Michael Siegel gab dagegen an, ein angloamerikanischer Journalist habe die Fotografien angefertigt. Der Text auf dem Plakat wurde retuschiert, so dass der tatsächliche Wortlaut umstritten ist. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der Text wenn nicht wortwörtlich, dann zumindest sinngemäß lautete: „Ich werde mich nie mehr bei der Polizei beschweren.“
Jüdische Rechtsanwälte waren bevorzugte Hassobjekte der Anhänger*innen des Nationalsozialismus, gegen die schon lange vor 1933 unflätige Polemiken in der NS-Presse erschienen waren. Michael Siegel, dem noch Ende März 1933 das Betreten des Gerichts verboten wurde, floh mit seiner Frau 1940 über Russland und Japan nach Peru, seine Kinder waren 1939 nach Großbritannien ausgewandert. 1948 erhielt er seine Anwaltszulassung zurück und vertrat Mandanten vor allem in Wiedergutmachungsfragen.
Die öffentliche Zurschaustellung Siegels ereignete sich vor den reichsweiten antisemitischen Aktionen (Boykott vom 1.4.1933, Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 und andere Maßnahmen zu Berufsverboten oder den ‚Nürnberger Rassengesetzen‘ vom 15.9.1935) und steht damit für die „Selbstermächtigung“ (Michael Wildt) der ‚Volksgemeinschaft‘ und die Machtanmaßung lokaler Nationalsozialisten, die zeigen, dass der Antisemitismus nicht allein ‚von oben‘ befohlen werden musste. Zugleich ist dieses Foto eines der ersten in einer Reihe von Aufnahmen aus dem ganzen Reich, die Prangermärsche und öffentliche Demütigungen abbilden. Sie zeigten Juden*Jüdinnen, politische Gegner oder auch deutsche Frauen, die ‚verbotenen Umgang‘ mit Ausländern gepflegt hatten und nun, vor aller Augen lächerlich gemacht, symbolisch aus der ‚Volksgemeinschaft‘ ausgestoßen werden sollten.