Friling wurde 1948 von Shmerke Kaczerginski in seinem Buch Lider fun di Getos un Lagern (Lieder aus den Ghettos und Lagern) veröffentlicht. | © 2023 Yad Vashem – Internationale Holocaust Gedenkstätte

Artikel
geführt von Denis Heuring

„Lyrik kann das Unsagbare noch am besten in Worte fassen“

Olga Mannheimer über literarische Texte jüdischer Ghetto-Gefangener

Während der Shoah wurden tausende Gedichte, Notizen und Tagebucheinträge geschrieben. Sie zeugen vom geistigen Widerstand der Gefangenen – und vom Wunsch, das Erlebte zu dokumentieren. Im Interview spricht Olga Mannheimer über die stützende Kraft des Schreibens und das Ringen um Würde.
 

Frau Mannheimer, am 27. September stellen Sie im NS-Dokumentationszentrum München Texte vor, die Gefangene in den Ghettos der Nationalsozialisten geschrieben haben. Welche Einblicke geben uns diese Texte?

Ihre Autoren blicken in den Abgrund. Die nationalsozialistische Vernichtungsmaschine wollte die Jüdinnen und Juden samt ihrer gesamten Kultur auslöschen und die Spuren dieses Verbrechens restlos beseitigen: Der systematische Massenmord zielte nicht nur auf die physische Existenz, sondern auch auf die Seele der Gepeinigten und auf die Erinnerung durch die Nachwelt.
 

Wie konnte man einem solchen Auslöschungsfeldzug begegnen? 

Der Verzweiflung, der Ohnmacht und der Resignation setzten die Chronisten des Holocaust die ihnen verfügbaren Mittel entgegen – oft waren es nur moralische und geistige Mittel, darunter das Schreiben, doch gerade diese haben lebendiges Gedenken ermöglicht. 

Viele Schriften von Todgeweihten zeugen von der Hoffnung, dass man sich ihrer und der ihnen widerfahrenen Gewalt erinnert. Die aktuelle Ausstellung im NS-Dokumentationszentrum über die klandestine Organisation von Emanuel Ringelblum, die solche Zeugnisse für die Nachwelt gesammelt hat, erfüllt diese Hoffnung. Mit dem Gedenkabend am 27. September möchten Salek Kutschinski, Eli Teicher, Susanne Weinhöppel und ich dazu beitragen.

Welche Texte haben Sie für den Gedenkabend ausgewählt?

Lyrik, dachte ich, kann noch am besten das Unsagbare in Worte fassen. Beim Vorgespräch haben alle sofort an Abraham Sutzkever gedacht – einen der ergreifendsten jiddischsprachigen Dichter, der im Wilnaer Ghetto eingepfercht war. Aber nur Susanne hat lyrische Texte ausgesucht – von Sutzkever und von Shmerke Kaczerginski –, die sie mit der Harfe begleiten wird.

Abraham Sutzkever, 1950 | © Wikimedia Commons

Also kommt nicht nur Lyrik vor? 

Nicht im engeren Sinne. Eli und Salek haben sich für Prosatexte entschieden. Aber wie seine Lyrik zeugt auch Sutzkevers Prosa von der eindringlichen Kunst der Verdichtung.
 

Was genau verstehen Sie unter ‚Kunst der Verdichtung‘?

Die suggestive Kraft, den Bedeutungsreichtum, den inneren Rhythmus und den Sinn für das treffende Wort - dichterische Qualitäten, die unabhängig von Metrum und Reim wirken. Diese Kunst trifft unmittelbar Geist und Herz.   
 

Zeugt gerade diese Anstrengung, Erfahrenes, Erlebtes und Gefühltes zu bündeln und festzuhalten, vom Widerstandswillen der Schreibenden?

Wie Lehrveranstaltungen oder Selbsthilfeeinrichtungen, die von den Ghettobewohnern organisiert wurden, war das Schreiben und die geheime Dokumentation des unvorstellbar mühseligen Ghettoalltags Teil des geistigen Widerstands. Diese Aktionen zeigen, mit welcher Energie die Opfer der Nazibarbarei inmitten von tiefstem Elend und im Angesicht der allgewärtigen Todesgefahr um Menschlichkeit und Würde rangen.

Die Zeugnisse aus dem ‚Vorhof des Schlachthofs‘ (Ruth Klüger; Anm. d. Red.) vergegenwärtigen nicht nur die Vergangenheit. Sie halten auch eine unvergängliche Lehre bereit:  Wenn schon nicht das Leben, so lässt sich doch oftmals die Selbstachtung retten.   

Ikh blondzhe in geto
Fun gesl tsu gesl
Un ken nit gefinen keyn ort:
Nito iz mayn liber, vi trogt men ariber?
Mentshn, o zogt khotsh a vort.
Es laykht af mayn heym itst
Der himl der bloyer
Vos zhe hob ikh itst derfun?
Ikh shtey vi a betler
Bay yetvidn toyer
Un betl – a bisele zun.

Friling, nem tsu mayn troyer,
Un breng mayn libstn,
Mayn trayer tsurik.
Friling, af dayne fligl bloye,
O nem mayn harts mit
Un gib es op mayn glik.

Ikh gey tsu der arbet
Farbay undzer shtibl,
In troyer – der toyer farmakht.
Der tog a tsehelter,
Di blumen farvelkte,
Zey vyanen – far zey iz oykh nakht.
Far nakht af tsurikvegs,
Es noyet der troyer,
Ot do, hostu, libster, gevart.
Ot do inem shotn
Nokh kentik dayn trot iz,
Flegst kushn mikh liblekh un tsart.

Friling, nem tsu mayn troyer...

S'iz hayyor der friling
Gor fri ongekumen.
Geblit hot zikh benkshaft nokh dir.
Ikh ze dikh vi itster
Balodn mit blumen,
A freydiker geystu tsu mir.
Di zun hot fargosn
Dem gortn mit shtraln
Tseshprotst hot di erd zikh in grin.
Mayn trayer mayn libster
Vu bistu farfaln?
Du geyst nit aroys fun mayn zin.
Friling...

Shmerke Kaczerginski, Friling (Frühling), Ghetto Wilna, 1943

Shmerke Kaczerginski schrieb Friling nach dem Tod von seiner Frau Barbara Kaufman (Kaczerginski) im April 1943 im Ghetto Wilna. Ein Liebender sucht seine Geliebte auf den Straßen und Gassen des Ghettos, kann sie jedoch nicht finden. Er bittet den Frühling, ihm seinen Schmerz zu nehmen und ihm sein Glück, seine Geliebte, zurückzubringen. 1948 wurde Friling von Shmerke Kaczerginski in seinem Buch Lider fun di Getos un Lagern (Lieder aus den Ghettos und Lagern) veröffentlicht und erreichte durch zahlreiche Verwendungen eine gewisse Popularität.

Quelle: yadvashem.org