Gameszene Forced Abroad, 2022 | © Paintbucket Games

Artikel
von Paul-Moritz Rabe

Being Jan Bazuin. Eine Geschichte der NS-Zwangsarbeit als Mobile Game

Auf dem Vorplatz des NS-Dokumentationszentrums in München schnappte ich kürzlich Gesprächsfetzen einer wartenden Schülergruppe auf. „Ey, das sieht ja aus wie die Villa Auditore aus Assassin‘s Creed II“, sagte ein Junge mit Blick auf das angrenzende Gebäude an der Arcisstraße.1 Was er meinte, war keine toskanische Villa aus der Medici-Zeit, sondern der 1937 von den Nationalsozialisten erbaute Repräsentationsbau, der unter anderem als Schauplatz für das ‚Münchner Abkommen‘ im Jahr 1938 weltgeschichtliche Bedeutung erlangte.

Wen diese spontane Assoziation irritiert, sollte sich vor Augen führen: Noch nie haben in diesem Land so viele Menschen wie heute digitale Spiele gespielt. Fast 60 Prozent der Deutschen greifen zumindest gelegentlich zum Controller, zur Tastatur oder zum Smartphone.2 Und anders als die 40 Prozent der Nicht-Gamer vielleicht glauben, handelt es sich dabei keineswegs nur um männliche Jugendliche und weltfremde Nerds. Im Durchschnitt sind die Gamer 37 Jahre alt, zu fast gleichen Anteilen männlich und weiblich und kommen aus allen gesellschaftlichen Milieus.3 Gaming ist längst zu einem Massenphänomen geworden.

 

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Der Artikel ist erstmal erschienen in
Einsichten + Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte (Ausgabe 03/22), herausgegeben von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit

Aus dieser Tatsache folgt auch: Noch nie haben in Deutschland so viele Menschen wie heute, implizites und explizites Wissen über die Vergangenheit mit Hilfe von Games erlangt. Historische Settings spielen, wie in Assassin’s Creed, häufig eine Rolle. Das Beispiel der Schülergruppe zeigt, dass diese Spielewelten eine Referenz sind, um sich die reale Welt und ihre Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Games prägen also auch die kollektiven Geschichtsbilder, worunter man „weit verbreitete und nicht zwingend wissenschaftlich begründete Vorstellungen von Geschichte, von vergangenem Leben und Handeln, von historischen Personen und Ereignissen“ versteht.4 Damit sind auch die Entwickler*innen, Grafiker*innen und Programmierer*innen der Spiele Geschichtsschreiber*innen, selbst wenn sie ihre Games nicht selten als unpolitische Unterhaltungsprodukte positionieren.5

Studien zufolge spielen etwa 25 Prozent aller History Games in der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs.6 Damit bildet diese Epoche die mit Abstand beliebteste Hintergrundkulisse. Seit einigen Jahren wird verstärkt die Rolle von Games für unsere Erinnerungskultur diskutiert. Mit Blick auf populäre Beispiele wie Call of Duty oder Wolfenstein werden oft die problematischen Seiten betont. Die beiden Ego-Shooter-Spiele zeichnen sich durch Gewaltverherrlichung und mangelnde historische Kontextualisierung aus.

 

Zugleich werden gerade jenseits der sogenannten AAA-Produktionen, also Spielen mit sehr großen Entwicklungs- und Marketing-Budgets, allmählich immer mehr Games entwickelt, die nicht nur der reinen Unterhaltung dienen, sondern sich um eine historisch adäquate Konzeption bemühen oder sogar einen Bildungsanspruch erheben. Auch einige Museen, Gedenkstätten und Bildungseinrichtungen entdecken Serious Games für sich und erhoffen sich damit, neue Zielgruppen zu erreichen.

Das im Frühjahr 2022 erschienene Mobile Game Forced Abroad. Tage eines Zwangsarbeiters ist in Zusammenarbeit zwischen dem NS-Dokumentationszentrum München und Paintbucket Games entstanden; das Berliner Indie Studio hat 2020 das preisgekrönte Strategiespiel Through the Darkest of Times veröffentlicht, in dem man eine Widerstandsgruppe in der NS-Zeit koordiniert. Bei Forced Abroad handelt es sich nun um die erste spielerische Annäherung an die Geschichte der NS-Zwangsarbeit, und damit um ein erinnerungskulturelles Pionierprojekt.

 

 Cover Forced Abroad, 2022 |  © Paintbucket Games

Stoff: eine Geschichte aus 13 Millionen

Ausgangspunkt des Games war eine besondere historische Quelle: Das erst vor wenigen Jahren entdeckte und kürzlich erstmals veröffentlichte Tagebuch des niederländischen Jugendlichen Jan Bazuin.7 Der 19-Jährige fängt im November 1944 an, täglich zu schreiben. Er dokumentiert den Kriegsalltag im von den Deutschen besetzen Rotterdam und beschreibt die Anfänge des ‚Hongerwinter‘, der größten Hungerkrise in der Geschichte der Niederlande. Zugleich treiben ihn gewöhnliche Themen eines Heranwachsenden um: Familienkonflikte und die erste große Liebe.

Im Januar 1945 ändert sich alles. Er wird im Viehwaggon nach Deutschland verschleppt und landet schließlich als Zwangsarbeiter in einem Reparaturwerk der Reichsbahn im Münchner Stadtteil Neuaubing. In seinem Tagebuch berichtet er über die Lebensbedingungen in den Massenunterkünften, den ständigen Hunger, die klirrende Kälte, die mangelnde Privatsphäre. Er schreibt über Heimweh, Verzweiflung und Todesangst. Immer wieder artikuliert er auch seine Hoffnungen auf ein baldiges Kriegsende. Ende April 1945 fasst er den Beschluss, zu fliehen – ein gefährliches Wagnis, das aber glückt.

Jan war einer von 13 Millionen Zwangsarbeiter*innen, die im Laufe des Zweiten Weltkriegs aus ganz Europa nach Nazi-Deutschland deportiert und ausgebeutet wurden. Die Menschen kamen aus allen von der Wehrmacht besetzten oder kontrollierten Gebieten. Im Reich waren sie in mehr als 30.000 Massenunterkünften wie Barackenlagern, Fabrikhallen oder umfunktionierten Gasthäusern untergebracht. Von ihrer Arbeitskraft profitierte fast jeder deutsche Betrieb: große Rüstungskonzerne genauso wie mittelständische Unternehmen, kleine Landwirtschaftsbetriebe, die öffentliche Verwaltung oder staatliche Betriebe wie die Reichsbahn. Ohne den millionenhaften Einsatz der Zwangsarbeiter*innen wäre das Wirtschafts- und Versorgungssystem spätestens 1942 kollabiert und das NS-Regime hätte den Krieg beenden müssen.

Trotz dieser Dimensionen und der großen historischen Bedeutung ist die Geschichte der NS-Zwangsarbeit nach wie vor relativ wenig bekannt. In der Erinnerungskultur unseres Landes spielt sie nur eine untergeordnete Rolle – eine Ausnahme bildet höchstens der Aspekt der Zwangsarbeit durch KZ-Häftlinge. Die Verbrechen an den zahlenmäßig viel größeren Gruppen der sogenannten zivilen Zwangsarbeiter*innen und der Kriegsgefangenen wurden hingegen über Jahrzehnten verdrängt oder bagatellisiert.

Jan Bazuin, März 1946 | © Privatbesitz Leon Bazuin

Obwohl Fritz Sauckel als Hauptverantwortlicher für das NS-Zwangsarbeitssystem bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen noch als einer der Hauptangeklagten zum Tode verurteilt worden war, bewertete man die Geschehnisse bald darauf im wieder boomenden Nachkriegsdeutschland anders. In einem Bescheid des Bundesverwaltungsamts Köln aus dem Jahr 1966 ist, für diese Zeit typisch, zu lesen, dass der „Arbeitseinsatz“ eine „Maßnahme zur Beseitigung des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels“ gewesen sei.8 Die NS-Propaganda, die darauf abzielte, das gewaltsame Ausbeutungssystem als eine ‚normale‘ Form der Saisonarbeit darzustellen, hallte hier noch deutlich nach und trug dazu bei, das Gewissen von Millionen von Beteiligten und Profiteuren zu beruhigen. Erst ab Mitte der 1990er Jahre häuften sich wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Entschädigungszahlungen ließen bis in die 2000er Jahre auf sich warten und waren vor allem außenpolitisch motiviert. Bundesdeutsche Firmen hatten sich zuvor jahrzehntelang geweigert, das Leid der Zwangsarbeiter*innen anzuerkennen. Viele der Betroffenen waren nun schon verstorben oder konnten nicht mehr die notwendigen Nachweise bringen. Manche Gruppen ehemaliger Zwangsarbeiter*innen, wie italienische oder sowjetischen Kriegsgefangene, wurden bis vor wenigen Jahren noch komplett von den Zahlungen ausgeschlossen.

Auch außerhalb Deutschlands wurde die Schicksale der früheren Zwangsarbeiter*innen kaum wahrgenommen. In einigen Ländern standen die Menschen nach ihrer Rückkehr aus Deutschland jahrzehntelang unter Kollaborationsverdacht. Als ‚Helfer des Feindes‘ erfuhren gerade die Menschen in der Sowjetunion neue Formen von Diskriminierung und Verfolgung. Sie wurden etwa geheimdienstlich überwacht oder von bestimmten Berufswegen ausgeschlossen. Da die Erinnerungen das Leben in der Gegenwart belasteten, fanden viele Geschichten auch keinen Eingang in die Familiengedächtnisse.

Auch Jan Bazuin hat über seine Erfahrungen im Krieg und in Deutschland zeitlebens nie mit seiner Familie oder Freunden gesprochen. Erst lange nach seinem Tod im Jahr 2001 entdeckte sein Sohn Leon die Aufzeichnungen. Das Tagebuch besteht genaugenommen aus drei eng geschriebenen Heftchen in unterschiedlichen Formaten; schon die Beschaffung von Papier war im Krieg eine große Herausforderung.

Jans Tagebuchaufzeichnungen sind ein seltener Fund. In den Archiven sind vereinzelt Memoiren und Oral-History-Interviews ehemaliger Zwangsarbeiter*innen zu finden, jedoch nur ganz wenige zeitgenössisch verfasste persönliche Dokumente, erst recht nicht in dieser Ausführlichkeit.9 Zudem ist der Stil bemerkenswert. Während etwa Anne Frank in ihrem berühmten Tagebuch bewusst Zeugnis ablegte und gezielt die ‚Nachwelt‘ ansprach, schrieb Jan aus einer spontanen Laune heraus. Entsprechend direkt und ungekünstelt, schlicht und roh, manchmal auch fehlerhaft sind seine Notizen. Gerade diese Unvollkommenheit verstärkt aber für heutige Leser*innen das Gefühl, ‚live‘ dabei zu sein, und tief in die Gedankenwelt des Protagonisten einzutauchen. Diese Merkmale waren auch für die Game-Adaption von zentraler Bedeutung.

 

Tagebuch Jan Bazuin, Einträge von 20. und 21. Januar 1945 | © NS Dokumentationszentrum München

Game-Design: so nah wie möglich am Original

Die durchaus komplexe Frage, wie aus einem historisch relevanten Stoff eine Spielanwendung werden kann, ist bei Forced Abroad relativ simpel beantwortet: indem sich die Handlung so nah wie möglich an den historischen Quellen orientiert. Bereits im Intro erfährt man entsprechend: „basierend auf wahren Aufzeichnungen“. Auch wenn die Authentizitäts-Karte auch von anderen History Games gezogen und für das Marketing genutzt wird, so ist die Nähe zu einer ‚wahren Geschichte‘ in diesem Fall tatsächlich Programm.

Darstellungen in Buch, Film oder Fernsehen zur Geschichte der Zwangsarbeit, die in den letzten rund 25 Jahren entstanden sind, nutzen oft offizielle behördliche Dokumente oder Fotos. Das hängt mit der komplizierten Überlieferungslage zusammen. Das Problem dabei ist, dass selbst dort, wo dies kritisch reflektiert wird oder Erinnerungsberichte von Zwangsarbeiter*innen integriert werden, die Perspektive der Täter*innen sehr präsent bleibt und reproduziert wird.

In diesem Kontext ist die konsequente Fokussierung des Games auf die Biografie eines Zwangsarbeiters ein bewusstes erinnerungskulturelles Statement. Obwohl Jans Schilderungen und Erfahrungen nicht als ‚typisch‘ anzusehen sind, so rückt deutlich die Perspektive der Betroffenen in den Vordergrund. Damit unterscheidet sich das Game von den meisten anderen digitalen Spielen im Setting des Zweiten Weltkriegs, in denen oft dezidiert militärhistorische Themen oder „abstrakt gehaltene Konfliktsituationen“ im Vordergrund stehen.10

Diese Perspektive wird nicht nur auf der Ebene des Themas und der Handlung, sondern auch im visuellen Erscheinungsbild deutlich. Die Grundlage hierfür bilden Zeichnungen der Comic-Künstlerin Barbara Yelin. Da wo jenseits von früheren NS-Propagandafotos historisches Bildmaterial fehlt, schaffen ihre Illustrationen neue Vorstellungswelten. Alle Zeichnungen basieren auf akribischer Recherchearbeit und sind in enger Zusammenarbeit zwischen der Künstlerin und Historiker*innen vom NS-Dokumentationszentrum entstanden. Paintbucket hat diese Vorlagen ergänzt und animiert.

 

Jans Blick im überfüllten Waggon auf der Fahrt von Rotterdam nach München | © Barbara Yelin, 2021

Games vermitteln gerade alltagsgeschichtliche Details wie Kleidungsstile, Mobiliar oder Straßenansichten en passant. Nicht immer wird dabei großer Wert auf historische Plausibilität gelegt. Manchmal wird Geschichte sogar verfälscht, vor allem aber fast immer erstaunlich eindeutig dargestellt. Gerade kommerziell erfolgreiche History Games basieren anscheinend häufig auf einem Geschichtsverständnis wie im 19. Jahrhundert, als man glaubte, Geschichte darstellen zu können, wie sie „eigentlich gewesen ist“ (Leopold Ranke), und dabei vorrangig epische Schlachten und das Handeln „großer Männer“ thematisierte.11

Der skizzenhaften Zeichenstil von Barbara Yelin verweist dagegen auf die grundsätzliche Offenheit jeder Rekonstruktion von Vergangenheit. Ihre Illustrationen sind als „dokumentarische Annäherungen“ zu verstehen. Sie schaffen Konturen und lassen Geschehenes erahnen, aber zugleich eigene Interpretationen zu.12 Damit verweisen sie auch auf ein aktuelles Geschichtsverständnis, das die Idee einer abgeschlossenen historischen Wahrheit in Frage stellt und „Geschichte immer als soziales und kulturelles Konstrukt begreift“.13 Entsprechend greift die Game-Konzeption nicht nur die Geschichte von Jan Bazuin auf, sondern reflektiert auch die Art ihrer Überlieferung: Die Quelle Tagebuch wird zum zentralen strukturierenden Element. Nach einem Prolog, der in die historische Situation im Herbst 1944 im besetzten Rotterdam einführt, folgen die Spieler*innen Tag für Tag Jans Erlebnissen. Die Einträge, die zwar neugeschrieben wurden, aber an einigen Stellen noch Originalzitate aufweisen, sind durch die animierten Zeichnungen ergänzt. Das Game lässt sich als eine Form der Visual Novel auffassen, ein ursprünglich aus Japan stammendes Genre von textbasierten Videospielen.

Auch wenn die Spielhandlung an das historische Material angelehnt ist, so waren doch Anpassungen unerlässlich, um den Stoff in ein Gameformat zu übertragen. Die Hauptfigur des Spiels heißt auch deshalb nicht Jan Bazuin sondern trägt den fiktiven Namen Jan de Boer. Während der ‚echte‘ Jan täglich Notizen macht, sind die Ereignisse des fiktiven Jan im Game auf 22 Tages-Szenen im Zeitraum zwischen November 1944 und Ende April 1945 beschränkt.

Die Eintragungen wurden stark gekürzt, vereinfacht, zusammengeführt oder zugespitzt, an anderer Stelle aber auch ausgebaut und ergänzt, etwa wenn aus knappen Anspielungen im Original-Tagebuch echte Dialoge werden, in denen die Spieler*innen aus verschiedenen Antwort- Optionen auswählen können. Die auffälligsten Änderungen stellen einige neu erfundene Nebenfiguren dar, wie etwa ein älteres Ehepaar, das in der Rotterdamer Nachbarschaft wohnt oder andere Zwangsarbeiter*innen, mit denen Jan in Kontakt kommt. Die zusätzlichen Nebenfiguren verstärken die Identifikationspotentiale und erhöhen die Interaktionsmöglichkeiten.

Andere Ergänzungen schaffen Atmosphäre oder zielen darauf, ‚Leerstellen‘ bzw. Verständnisschwierigkeiten im Original auszugleichen. Die Rolle und Präsenz von Vertretern des NS-Regimes wurde etwa bewusst ausgebaut, ebenso die von Zwangsarbeiter*innen aus anderen Ländern. Damit sollen die internationale Dimension des Masseneinsatzes, aber auch die unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen von Zwangsabrbeiter*innen aus verschiedenen Ländern vermittelt werden. Schließlich war Jan im Verhältnis privilegiert: Aufgrund der Rassenideologie der Nazis wurde er als ein aus Westeuropa stammender Arbeiter besser behandelt als die Menschen aus den osteuropäischen Regionen oder die als Verräter stigmatisierten italienischen Kriegsgefangenen.

Gameszene Forced Abroad, 2022 | © Paintbucket Games

Game-Play: Identifikation statt Interaktivität

Laut einem Rezensenten gebe es in Forced Abroad „bewusst keinen Schwerpunkt auf Spielspaß im Sinne eines interaktiven Gameplays“.14 Tatsächlich ist die Spielmechanik einfach gehalten, folgt darin aber den Prinzipien des Genres Visual Novel, das sich durch Linearität auszeichnet. Elemente der Interaktivität finden sich dennoch auf verschiedenen Ebenen. Sie zielen jedoch alle weniger auf Spielspaß im klassischen Sinne, sondern sollen die Identifikation der Spieler*innen mit dem Protagonisten unterstützen und damit das Nachempfinden seiner Situation und seiner Handlungsoptionen ermöglichen. Kurzum: Es geht um ‚Being Jan Bazuin‘.

Der Fortgang der Handlung erfolgt durch das Antippen von Jans Tagebucheinträgen. Eine Möglichkeit, Szenen zu überspringen, ist nicht vorgesehen. So folgt man den Erlebnissen und Gedankengängen chronologisch und Schritt für Schritt. Allein dadurch stellte sich eine grundlegende Identifikation mit dem Protagonisten her: Auch dieser wusste im Moment des Schreibensnicht, wie seine Geschichte ausgehen wird.

Regelmäßig gibt es Auswahlmöglichkeiten, die das Game-Schicksal von Jan leicht beeinflussen. Die sich eröffnenden Optionen stellen keine spektakulären Varianten dar. So lässt sich etwa keine Entscheidung treffen, die zu einem „Game-Over“ führt, obwohl Tod oder Ermordung von Jan durchaus realistische Szenarien gewesen wären. Auch die Flucht Jans in der letzten Szene ist alternativlos, lediglich die Begleitumstände können variieren. Die 22 Szenen sind in sich geschlossen. Unabhängig von zuvor getroffenen Einzelentscheidungen, startet jede Szene (fast) gleich.

Am Markt erfolgreiche Games müssen in der Regel den Spielenden die Möglichkeit geben, selbstwirksam in der Spielwelt handeln zu können (‚Agency‘).15 Nicht selten werden deshalb historische Kontexte zu Gunsten der Spiellogik und im Sinne einer möglichst großen Handlungsmacht und -freiheit verformt. Im Game Play von Forced Abroad kann man dagegen durchaus eine „Reduktion der Wirkmacht (Agency)“16 festhalten. Dadurch bleibt nicht nur die Quellennähe bestmöglich erhalten. Vor allem ist die geringe Agency im Game-Play auch eine Entsprechung der historischen Lebensverhältnisse eines Jugendlichen während des Kriegs in einem besetzten Land und später als Zwangsarbeiter unter dem NS-Regime.

Das Game ist zudem durchzogen von kleineren Aktivitäten, die unterschiedliche Touchbewegungen erfordern. So muss man in einer Szene Lebensmittelkarten an die deutschen Besatzer abgeben, einen Baum fällen, um an Brennmaterial zu gelangen oder einen Brief aus dem Lager in München an Jans Freundin Annie verfassen. Die Herausforderungen sind nicht komplex, stellen also keine besondere ‚Bewährungssituation‘ dar, dennoch vertiefen und highlighten sie auf spielerische Art ausgewählte inhaltliche Aspekte und tragen damit ebenfalls zur Identifikation der Spieler*innen mit der Figur bei.

Man kann zuletzt – dabei handelt es sich um eine dritte Ebene der Interaktivität – in jeder Szene einen Alltagsgegenstand, ein sogenanntes Erinnerungsstück, einsammeln und für das Erinnerungsalbum aufbewahren. Sobald das gelingt, schaltet sich im separat ansteuerbaren Album ein knapper Glossareintrag frei, der historische Hintergrundinformationen bietet. Um den Spielfluss nicht zu stören, sind diese Kontextinformationen zwar an den Spielstand gekoppelt, aber in eine Zusatzebene ausgelagert, die separat über das Menü ansteuerbar ist. Dieses Element ist erneut eine Referenz an die Quelle selbst, denn auch Jan hat Erinnerungen gesammelt und an einigen Stellen im Original-Tagebuch Zeitungsartikel eingeklebt. Vor allem aber wird an diesem Punkt besonders deutlich, dass das Spiel einen Bildungsanspruch verfolgt.

Gameszene Forced Abroad, 2022 | © Paintbucket Games

Bildungsziele: aus Jans Geschichte lernen

Digitale Spiele weisen – nicht nur für Jugendliche – vielfältige Lernpotentiale auf: von Fertigkeiten wie Koordination und Reaktionsschnelligkeit, über logisches Denken und Analysefähigkeiten bis zur Schulung von sozialen Werten wie Fairness und Solidarität. Aus Sicht der historisch-politischen Bildung können sie Geschichte erlebbar machen, in fremde Welten führen, Perspektiven- und Rollenwechsel ermöglichen sowie die Reflexion über Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens schulen.

Die Rolle eines erinnerungskulturellen ‚Wundermittels‘ können Games freilich nicht erfüllen - allein deshalb nicht, weil die Fragen, ob, was und in welcher Weise Spieler*innen tatsächlich aus Games lernen, nicht nur vom Spiel selbst abhängen, sondern ganz wesentlich von zahlreichen Kontextfaktoren wie Alter, Geschlecht, Vorwissen und Erwartungshaltung der Spielenden, der Lernumgebung oder dem Genre.17 Gerade Serious Games, also Spiele die sich per se durch ihren Lerncharakter auszeichnen, finden in der Freizeit von Jugendlichen in der Regel weniger Zuspruch als unterhaltende Blockbuster-Spiele. Die mit dem Genre verbundenen Lern-Erwartung kann in der Praxis lernhemmend wirken. Zugleich werden nicht selten dieselben Games in einer anderen Lernumgebung, d.h. im Unterricht oder im Rahmen von außerschulischen Lernangeboten, mit entsprechender mediendidaktischer Begleitung, wiederum als attraktiv wahrgenommen - gerade als Abwechslung und im Vergleich zu geläufigeren Unterrichtsmitteln.18

Die tatsächliche Lernwirkung von History Games wissenschaftlich zu erfassen, ist also kompliziert, es bedarf hierzu noch umfangreicher Forschungen, denn die akademische Disziplin der Game Studies ist gerade in Deutschland noch verhältnismäßig jung.19 Unabhängig von der nachweisbaren Wirkung bietet das Game Forced Abroad zweifelsohne vielfältige Lernpotentiale.

Zunächst ist eine wesentliche Voraussetzung für das Lernen der relativ niederschwellige Zugang. Das Spiel ist kostenlos in allen gängigen Stores als nicht allzu große App verfügbar. Die technischen Voraussetzungen sind bewusst niedrig gehalten, womit sich das Game deutlich von viele populären Hochglanz-Spielen unterscheidet. Ein handelsübliches Mobile Phone reicht aus. Nach dem einmaligen Download ist kein Datenvolumen nötig. Damit soll das Game für sehr unterschiedliche Zielgruppen und verschiedene Spielanlässe anschlussfähig sein, und eignet sich auch für den Gebrauch im Schulunterricht.20 Durch die vergleichsweise kurze Spielzeit von ca. 90 Minuten können diverse Publika erreicht werden, darunter auch Gelegenheitsspieler*innen. Allerdings sollten diese leseaffin und wohl mindestens 14 Jahre alt sein.

 

Die NS-Zwangsarbeit ist ein relativ unbekannter und zugleich historisch schwer fassbarer Themenkomplex. Im kollektiven Gedächtnis existieren zahlreiche schiefe Bilder: von der Vorstellung, es habe sich doch um ‚normale Arbeitsverhältnisse‘ gehandelt, bis hin zu Verwechslungen mit dem Holocaust. Forced Abroad hat den Anspruch, historisches Wissen zu vermitteln und Aufklärungsarbeit zu leisten. Explizit wird dieses Bildungsziel im Rahmen der Informationstexte zu den Erinnerungsstücken umgesetzt, impliziter im Rahmen der Handlung, der Dialoge, der Illustrationen, der Gamelogik und dem Regelwerk. Gerade im Zusammenspiel dieser Aspekte liegen die besonderen Lernpotentiale von Games im Vergleich zu anderen Medien wie Filmen oder Graphic Novels.

Das Game bietet einen Einblick in zentrale Zusammenhänge des NS-Zwangsarbeitssystems und in die Geschichte des Zweiten Weltkriegs aus der Perspektive eines Verfolgten. Bilder, Ton, Handlung und Interaktivität wirken zusammen und zielen auf eine größtmögliche Identifikation der Spieler*innen mit dem Hauptprotagonisten. Diese sollen sich in Jan hineinversetzen und aus seiner Sicht Entscheidungen treffen. Das fördert nicht nur das Einfühlungsvermögen; die Emotionalisierung in Kombination mit der Handlungsorientierung kann zu einem tieferen und nachhaltigeren historischen Verständnis bei den Spieler*innen führen. Wie schon bei Through the Darkest of Times ging es den Entwickler*innen bewusst nicht um spektakuläre Wendungen, sondern um die Reflexion von alltäglichem Verhalten unter den Bedingungen von Diktatur und Krieg.21

Hintergrundtext zum Erinnerungsstück Landkarte |  © Paintbucket Games

Allzu oft werden in Erinnerungen oder Biografien vergangene historische Ereignisse rückblickend beurteilt - mit dem Wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist. Historisches Verstehen bedeutet aber vor allem die Perspektive der Zeitgenoss*innen zu berücksichtigen und die jeweils möglichen Handlungsspielräume (Rudolf Vierhaus) zu reflektieren. Dies ist nicht nur eine zentrale Voraussetzung für angemessene historische Urteile, sondern insbesondere auch für eine sinnvolle Aktualisierung historischer Problemlagen, kurzum: für das Lernen aus der Geschichte.

Eine Spielszene etwa in Rotterdam, kurz vor der Deportation nach Deutschland, beschreibt das mutige Aufbegehren eines niederländischen Jugendlichen, den Jan kurz zuvor kennengelernt hat, gegen die deutschen Besatzer: Dieser stimmt die niederländische Nationalhymne an. Nun wird Jan vor die Wahl gestellt, ob er mitmacht oder wegsieht, ob er Solidarität mit dem Bekannten zeigt oder aus Angst vor den Konsequenzen schweigt. Im originalen Tagebuch ist das Singen nur erwähnt. In der Game-Version wird daraus eine interaktive Szene, die nicht nur die historisch realistischen Handlungsmöglichkeiten, sondern auch ein allgemeines moralische Dilemma aufzeigt, was auf andere Diktaturerfahrungen übertragbar ist.

So sehr Identifikation und Emotionalisierung Chancen für historisches Lernen darstellen, so sehr werden häufig auch die vermeintlichen Gefahren solcher Zugänge betont. In der Geschichtsdidaktik werden sie oft unter dem Stichwort der ‚Überwältigung‘ verhandelt. Im Falle von Forced Abroad bilden allein das gewählte textlastige Gamegenre und die Struktur des Tagebuchs eine Art natürliche Grenze für eine allzu starke immersive Wirkung.

Auch an anderen Stellen haben die Entwickler*innen pädagogisch sensibel gehandelt, an wenigen Stellen sogar auf Kosten der historischen Korrektheit. Im Sinne des Jugendschutzes wurde etwa die im originalen Tagebuch große Präsenz des Rauchens getilgt. Auf Gewaltszenen konnte im Sinne einer realistischen Darstellung nicht verzichtet werden. Im Vergleich zum originalen Tagebuch wurden diese sogar ausgebaut. Um aber den Gefahren von Abstumpfung oder gar Gewaltverherrlichung, wie sie von anderen Weltkriegs-Games gut bekannt ist, entgegenzuwirken, werden Gewalterfahrungen größtenteils auf Nebenfiguren verlagert. Auch die Darstellungsweise fällt sehr zurückhaltend aus: Entsprechende Szenen werden mit einem Blutfleck auf schwarzem Hintergrund beendet.

Forced Abroad wurde innerhalb weniger Monate mehr als 15.000mal heruntergeladen. Das ist in der Gaming-Welt kein riesiger, aber angesichts der zur Verfügung stehenden Ressourcen doch ein beachtlicher Wert. Zum Vergleich: Die gedruckte Publikation des Tagebuchs von Jan Bazuin ist bislang etwa halb so oft gekauft worden. Die Visual Novel zeigt also, dass spielerische Ansätze in die Erinnerungskultur integriert werden können, die zugleich wissenschaftliche, moralische und didaktische Ansprüche erfüllen, und auch ein breites Publikum erreichen. Forced Abroad möchte dabei einen Beitrag zu einer Erinnerungskultur liefern, die immer neue Formate ausprobiert und verbessert. Es handelte sich um das erste Spiel zum Themenkomplex Zwangsarbeit. Aufgrund der großen historischen Bedeutung ist zu hoffen, dass es nicht das letzte bleibt.

Gameszene Forced Abroad, 2022 | © Paintbucket Games

Quellen

1 Assassin’s Creed ist eine der erfolgreichsten Computerspielserien der letzten 15 Jahre. Die erste Version wurde im Jahr 2017 veröffentlicht, seitdem sind zahlreiche Nachfolger erschienen. In der historischen Welt des Spiels ist die genannte Villa im 13. Jahrhundert in der Toskana erbaut und 1499 zerstört worden. Sie ist in zwei Folge Schauplatz des Spielgeschehens, unter anderem als Unterschlupf für die Assassinen, eine Gruppe von Freiheitskämpfer, die gegen die Templer und gegen die Unterdrückung kämpfen.

2 Vgl. Game, Verband der deutschen Gamebranche: Rund 6 von 10 Deutschen spielen Games, 13.06.2022, https://www.game.de/marktdaten/rund-6-von-10-deutschen-spielen-games-2/ [Stand: 15.9.2022].

3 Vgl. Game, Verband der deutschen Gamebranche: Im Durchschnitt sind Spielerinnen und Spieler 37 Jahre alt, 13.06.2022, https://www.game.de/marktdaten/im-durchschnitt-sind-spielerinnenund-spieler-ueber-37-jahre-alt-2/ [Stand: 15.9.2022].

4 Vgl. Angela Schwarz: Digitale Spiele aus Perspektive der Geschichtswissenschaft, in: Stiftung Digitale Spielekultur (Hg.): Erinnern mit Games. Digitale Spiele als Chance der Erinnerungskultur, S. 35.

5 Vgl. Felix Zimmermann: Status Quo der Erinnerungskultur mit Games, in: Stiftung Digitale Spielekultur (wie Anm. 4), S. 12-17, hier: S. 13.

6 Vgl. Angela Schwarz, in: Games und Geschichte – historisch korrekte Computerspiele (Podcast), 29.10.2021, https://www.swr.de/swr2/wissen/games-und-geschichte-historisch-korrekte-computerspiele-swr2-wissen-2021-10-29-100.html [Stand: 15.09.2022].

7 Jan Bazuin: Tagebuch eines Zwangsarbeiters, mit Illustrationen von Barbara Yelin, hg. v. Paul-Moritz Rabe, München 2022 (= Sonderausgabe für die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit).

8 Bescheid des Bundesverwaltungsamts Köln, 28.11.1966, zit. nach: Christine Glauning: Mittendrin und außen vor: Zwangsarbeit in der NS-Gesellschaft, in: Winfried Nerdinger (Hg.): Zwangsarbeit in München. Das Lager der Reichsbahn in Neuaubing, Berlin 2018, S. 12-27, hier: S. 23.

9 Vgl. Paul-Moritz Rabe: Nachwort, in: Bazuin (wie Anm. 7), S. 142 f.

10 Vgl. Bastian Dawitz: „Forced Abroad“, Datenbank Games und Erinnerungskultur, Stiftung Digitale Spielekultur, 31.05.2022, https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de/spiele-erinnerungskultur/forced-abroad/ [Stand: 15.09.2022].

11 Vgl. Eugen Pfister/Felix Zimmermann: Erinnerungskultur, in: Olaf Zimmermann/Felix Falk (Hg.): Handbuch Games Kultur. Über die Kulturwelten von Games, Berlin 2020, S. 110-115, hier: S. 111 f.

12 Vgl. Rabe (wie Anm. 9), S. 144.

13 Vgl. Pfister/Zimmermann (wie Anm. 11), S. 111.

14 Dawitz (wie Anm. 10).

15 Vgl. Pfister/Zimmermann (wie Anm. 11), S. 112 f.

16 Dawitz (wie Anm. 10).

17 Vgl. Angela Tillmann: Digitale Spiele als Lern- und Vermittlungswerkzeuge, in: Stiftung Digitale Spielekultur (wie Anm. 4), hier: S. 28.

18 Inzwischen gibt es einige hilfreiche Plattformen, auf denen Materialien und Tipps für die Verwendung von Games in der Bildungsarbeit zur Verfügung gestellt werden, wie z.B. spielbar. de von der Bundeszentrale für politische Bildung, die Datenbank der Stiftung Digitale Spielkultur und www.games-im-unterricht.de der Medienanstalt für Baden-Württemberg.

19 Lehre und Forschung in den Games Studies an den Universitäten und Hochschulen läuft noch immer meistens „nebenbei“; die erste Game-Studies-Professur wurde an der TH Köln im Jahr 2014 eingerichtet, vgl. Gundolf S. Freyermuth: Game Studies, in: Olaf Zimmermann/Felix Falk (Hg.): Handbuch Games Kultur. Über die Kulturwelten von Games, Berlin 2020, S. 28-33, hier: S. 30 f.

20 Das NS-Dokumentationszentrum stellt für den Unterricht Begleitmaterialien zur Verfügung: https://www.nsdoku.de/fileadmin/09_Lernen_Entdecken/Departure_Neuaubing/nsdoku_forced-abroad_begleitmaterialien.pdf [Stand: 15.09.2022].

21 Vgl. Jörg Friedrich im Gespräch mit Eugen Pfister, Mona Brandt und Paul-Moritz Rabe, Geschichte und Digitale Games, NS-Dokumentationszentrum München, 22.01.2022, https://www.youtube.com/watch?v=FPkAIRjR8K0&t=285s [Stand: 15.09.2022].