Die Zeichnung aus Hannah Brinkmanns Graphic Novel über das Leben von Ernst Grube zeigt sein politisches Engagement im kommunistischen Jugendverband FDJ in den 1950er Jahren. | © Hannah Brinkmann

Artikel
von Denis Heuring

„Die Gespräche mit Ernst geben mir einen anderen Blick auf die Geschichte“. Werkstattgespräch mit Comickünstlerin Hannah Brinkmann

Hannah Brinkmann arbeitet derzeit an einer Graphic Novel über den Shoah-Überlebenden Ernst Grube. Mit dem Zeitzeugen durchforstet sie Archive – und macht Erinnerungen zu Bildern.

Liebe Hannah, Ernst Grube ist kürzlich 90 Jahre alt geworden. Wie näherst du dich als Autorin und Zeichnerin dieser ereignisreichen Biografie an?

Ernsts Leben ist unglaublich spannend und es gibt so viel zu erzählen. Aber es war schnell klar, dass es nicht ausschließlich um seine Kindheit in München und die Verfolgung während der NS-Diktatur gehen soll. Natürlich kommt die Zeit im jüdischen Kinderheim in Schwabing und in den Lagern Milbertshofen und Berg am Laim vor. Und auch die Deportation ins Ghetto Theresienstadt. Aber ich möchte in dem Buch auch seine zweite Verfolgungsgeschichte erzählen.

Was meinst du mit „zweiter Verfolgungsgeschichte“?

Das Kriegsende markierte für Ernst nicht das Ende der Verfolgung, auch wenn die Verfolgungsgeschichten vor und nach 1945 nicht miteinander zu vergleichen sind. In der Bundesrepublik wurde Ernst als Kommunist und Aktivist vom Staat über Jahrzehnte hinweg sanktioniert: Er musste zwei Mal ins Gefängnis, bekam Berufsverbot und wurde bis vor zwei Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet. Ich finde es wichtig zu zeigen, dass Ernst nach dem Krieg Opfer von nationalsozialistischen Kontinuitäten wurde. An den Gerichten war die Kommunistenverfolgung Ausdruck einer sich fortsetzenden NS-Internierungsideologie – im Sinne von: „Kommunisten haben wir auch schon vorher verfolgt. Hier können wir eigentlich weitermachen.“ Wie weit die Kommunistenverfolgung in der BRD reichte, lässt sich am Leben von Ernst veranschaulichen. 

In deinen Comics Gegen mein Gewissen und der Kurzgeschichte Hitler vor Gericht über den Rechtsanwalt Hans Litten hast du dich bereits intensiv mit historischen Ereignissen und Figuren auseinandergesetzt. Wie gelingt der Spagat zwischen historischer Dokumentation und spannendem Erzählen?

Am Ende sind meine historischen Comics ja auch erzählte Geschichten – und Geschichten haben immer auch eine Dramaturgie. Die Gratwanderung zwischen dem Erzählen einer Geschichte, die fesselt, und dem sensiblen und korrekten Umgang mit dem historischen Material ist herausfordernd. Aber genau das ist das interessante an nicht-fiktiven Themen. In der Popkultur fällt mir manchmal auf, dass bei der Bearbeitung von historischen Themen fiktive Figuren oder Sachverhalte hinzugefügt werden, um die Geschichten spannender zu machen. Da frage ich mich: Warum macht ihr das? Das Leben und echte Geschichten sind doch oft viel spannender als die Fiktion. 

Als Zeitzeuge betont Ernst Grube immer wieder: „Was ich erzähle, muss stimmen“ – Wie wirst du diesem Anspruch in Deinem Comic gerecht?

Diesen Anspruch nehme ich mir sehr zu Herzen. Es ist es sicherlich unmöglich, die Geschichte zu 100 Prozent zu reproduzieren. Zum Beispiel erinnert sich niemand an Dialoge, die er mit fünf oder sechs Jahren geführt hat. Ernst hat starke Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, vor allem an Schlüsselereignisse wie die Deportation aus dem Kinderheim in der Antonienstraße, an Ereignisse also, die ihn emotional extrem mitgenommen haben und deren Bilder sich stark eingeprägt haben. Andere Dinge wiederum gehen vielleicht eher unter. Nach diesen Dingen suche ich, soweit es möglich ist, in anderen Quellen.

…und kombinierst sie dann mit persönlichen Erinnerungen?

Damit meine Texte und Bilder möglichst wahrheitsgetreu sind, brauche ich viele Details. Wie sahen die Orte aus, welche Kleidung trugen die Menschen, wie war die Atmosphäre…? Ernst und ich führen daher viele Gespräche, ich frage viel nach. Gemeinsam durchforsten wir Archivalien und Zeugnisse. Wo ich noch mehr wissen will, hake ich nach oder konsultiere andere Quellen. Ernst hat zum Beispiel wenig konkrete Erinnerungen an den Alltag im Lager in Berg am Laim, wo er von 1942 bis 1943 lebte. Allerdings gibt es ein Tagebuch der Lager-Leiterin Else Behrend-Rosenfeld, in dem der Alltag in dieser Zeit genau beschrieben wird. Das nutze ich für den Comic.

Wie ist es für Dich, Zeitgeschichte zu verarbeiten und gleichzeitig eine Person neben sich zu haben, die diese Geschichte miterlebt hat?

Das ist exakt das, was ich immer machen wollte. Mit Ernst zu arbeiten, ihn zu besuchen, ihn zu sprechen, macht das alles viel intensiver. Es gab auch Momente, in denen ich mit Vorurteilen in das Gespräch gegangen bin, die Ernst komplett zerschlagen hat. Weil er sagt: Nein, so einfach ist das alles nicht. 

Was genau meint er damit?

Er sagt zum Beispiel, viele denken, dass die Brutalität nur durch körperliche Gewalt darstelbar ist. Aber das Gefühl eingesperrt zu sein, das Gefühl der Ausgrenzung, das seien Dinge, deren Brutalität viel tiefer geht. Die Gespräche mit Ernst geben mir einen anderen Blick auf die Geschichte, einen Blick, der menschlich ist und nicht in Büchern steht. Das beeindruckt mich sehr. Ich habe in den Gesprächen mit Ernst oft mein eigenes Politisch-Sein hinterfragt: Welche Opfer wäre ich bereits zu geben? Oder wie politisch bin ich eigentlich? Und warum ist es so wichtig, politisch zu sein? Ernst sieht seine Geschichte nie nur in der Vergangenheit, sondern auch als Warnung für die Gegenwart.