Trump und die Rückkehr des „lost cause“
Wie eingangs formuliert, wird die Legendenbildung um die „verlorene Sache“ der Südstaaten von der Anhängerschaft Donald Trumps bruchlos in die Gegenwart überführt, wenn mit der Behauptung eines neuen „lost cause“ das Ergebnis der Präsidentschaftswahl 2020 bezweifelt und so demokratische Abläufe – und die Funktionsfähigkeit der amerikanischen Demokratie schlechthin – infrage gestellt werden. Die geographische Verortung der Konfliktlinie hat sich allerdings weitgehend von der Nord-Süd-Linie gelöst und findet sich heute partiell in der Identifikation von „roten“ (republikanisch regierten) und „blauen“ (demokratisch regierten) Staaten wieder. Erstere sind meist in der Landesmitte zu finden, letztere sind vor allem an den Küsten.
Arlie Russell Hochschild konnte in ihrer berühmten emotionssoziologischen Studie Strangers in Their Own Land (2016) – quasi in Antizipation einer Trump-Präsidentschaft – zeigen, dass die von ihr befragten überwiegend konservativen weißen Bewohner*innen Louisianas sich fremd in einem Land fühlen, in dem ihre Lebensweise als rückständig verlacht wird, sie sich von bundesstaatlichen Instanzen im Stich gelassen und verraten und um das, was ihnen zusteht, nämlich die Erfüllung des amerikanischen Traums, betrogen fühlen. Die von Hochschild herausgearbeitete „deep story“ zeigt einige Ähnlichkeiten mit der „lost cause“-Erzählung. Auch hier führt Selbstviktimisierung zu Ressentiments und einer Ablehnung der Regierung und staatlicher Repräsentanten (des „establishment“ und „denen da oben“) und dazu, dass man sich alternative Organisationsformen und Identifikationsfiguren sucht. Hochschilds Befund macht deutlich, dass die scharfe Rhetorik der republikanischen Hardliner, die Bidens Wahlsieg zur „großen Lüge“ erklärt und unter der Anhängerschaft Trumps popularisiert haben, den Kulminationspunkt einer längeren Entwicklung darstellt. Der Erfolg des Trumpschen Populismus verweist auf (und befördert zugleich) eine zunehmend scharfe Polarisierung in der Gesellschaft und veranschaulicht die affektive Wirkung eines adaptierten „lost cause“-Narrativs, das die Belohnung in Aussicht stellt, sich im gemeinsamen Einstehen für eine „verlorene Sache“ für die erlittenen Kränkungen rächen und die alten Machtasymmetrien wiederherstellen zu können.
Trump hat früh, bereits in seinem Wahlkampf 2016, explizit entsprechende Identifikationsangebote gemacht und sich an die „forgotten men and women of our country – people who work hard but no longer have a voice“ gewandt und ihnen versprochen „I am your voice“.20 Seine Wahlkampfauftritte waren unterlegt mit Stücken aus Les Misérables, der Musicalversion von Victor Hugos Roman über den erfolglosen Juniaufstand der Republikaner gegen den französischen König im Jahr 1832 (auch eine „verlorene Sache“, wenn man so will). Sie integrierten damals bereits Hillary Clintons unglückliche Formulierung über die „Basket of Deplorables“, die die Trump-Anhängerschaft in ihren Augen darstellte, in ein Narrativ der Viktimisierung durch das politische Establishment, dem es sich entgegenzustellen galt.21 Diese Strategie ist für Trump 2016 aufgegangen; nach seiner Wahlniederlage 2020 hat er sie aktualisiert – mit den gleichen Verdrängungs- (repression) und Verleugnungsmechanismen (denial), die den Diskurs der ursprünglichen Repräsentanten des „lost cause“ des amerikanischen Südens charakterisierten.
„Erzählungen über ‚lost causes‘“, so der Historiker David Blight, „waren manchmal mächtig genug, um politische Regime aufzubauen oder zu zerstören, nationale und ethnische Identitäten zu formen und Landschaften mit Denkmälern zu füllen. Sie wirken in erster Linie als mächtige neue Gründungsmythen, die stets eine Politik der Klage vorantreiben, die in Vergeltung und manchmal in einen Sieg mündet.“22 Blight attestiert auch Trump und der MAGA-Anhängerschaft solch eine „Politik der Klage“ und das Bestreben, einen neuen Gründungsmythos für die USA zu schaffen. Die demokratische Grundordnung ist dabei, wie bei so vielen zeitgenössischen autoritären populistischen Bewegungen, mindestens zweitrangig, wenn sie nicht als ein zu beseitigendes Hindernis gilt. Trumps Kampagne und seine Anhängerschaft haben sich entsprechend ein historisch und nachhaltig wirkmächtiges Narrativ angeeignet, das die Wahlkampfrhetorik bestimmt und den Bürgerkrieg und seine behaupteten negativen Folgen für die Weißen beharrlich präsent hält. Die Demokraten, so ein Kommentar, treten nicht nur gegen Donald Trump, sondern auch gegen diesen Mythos an, mit dem die Südstaaten einen militärisch verlorenen Krieg über Jahrzehnte in eine Pose der Überlegenheit und vermeintlich berechtigte Ansprüche umgemünzt haben – und den Trump nun nutzt, um eine verlorene Wahl in symbolisches wie politisches Kapital zu verwandeln.23
Joe Biden hat diese Strategie verstanden und in einer Wahlkampfrede am 8. Januar 2024 in der AME Church in Charleston, dem Ort des Amoklaufes eines weißen Fanatikers im Jahr 2015, diese Überblendung explizit angesprochen: „Jetzt – jetzt leben wir in einer Ära einer zweiten verlorenen Sache. Wieder einmal versuchen einige in diesem Land, einen Verlust in eine Lüge zu verwandeln – eine Lüge, die, wenn man sie weiterleben lässt, diesem Land erneut schrecklichen Schaden zufügen wird. Diesmal geht es bei der Lüge um die Wahl 2020.“24 Beobachter*innen sind derzeit uneinig über die Wirkmacht, die diese neue Geschichte des „lost cause“ erlangen könnte. Einerseits wird darauf hingewiesen, dass die Analogiebildung in vielfacher Hinsicht hinke und kaum plausibilisierbar sei. Für Blight handelt es sich bei der Trump-Version – im Gegensatz zur verlorenen Sache der Konföderierten – um eine Art „Gangsterkult“, „voll von Ritualen der Loyalität gegenüber einem einzelnen Mann und seinen Plänen zur Schaffung einer autoritären US-Regierung“, die die amerikanische Demokratie zersetzen könnte.25 Andererseits zeigt sich überdeutlich, dass die Analogie durchaus verfängt, zumindest bei den Gruppen von Wähler*innen, die angesprochen werden sollen. Noch dazu sei Trumps Version des „lost cause“ weitaus gefährlicher für die amerikanische Demokratie als die der Südstaaten, „da sie nicht nur eine Region betrifft, sondern von nationaler Tragweite ist“.26
Auch für den politischen Analysten Larry Sabato finden sich entsprechende Resonanzen in der Zusammenschau, da es sich „in beiden Fällen […] um Rebellionen [handelt], die auf den Sturz der rechtmäßigen Regierung abzielen“.27 In beiden Fällen handelt es sich um zutiefst anti-demokratische Erzählungen: Der Süden porträtierte sich als Sklavenhalteraristokratie, die nach aristotelischem Vorbild um den patriarchalen Haushalt herum organisiert war und hierarchische, nicht egalitäre Strukturen im Zeichen eines weißen Suprematiedenkens bekräftigte. Die Trumpsche Neuauflage aktiviert diese Ideologie und stellt mit ihrer Fokussierung auf eine Person als Gallionsfigur ebenfalls die demokratische Ordnung infrage, auch weil demokratische Institutionen angegriffen und unterhöhlt werden. Eine „Ein-Tages-Diktatur“ hat Trump im Falle seines Wahlsieges bereits angekündigt.28
Der „lost cause“ in Zeiten von Black Lives Matter
„Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist nicht einmal Vergangenheit.“ So schreibt es der Südstaatenautor und Nobelpreisträger William Faulkner, der quasi seine gesamte schriftstellerische Karriere der Bearbeitung der „lost cause“-Thematik gewidmet hat, in seinem Roman Requiem for a Nun (1950). Und so ist es der Mythos (und die dazugehörige Psychopathologie) vom „lost cause“, der die Zeit überdauert hat und auch heute noch ideologisch wirksam ist, nicht nur im Süden der USA. Er hat nicht nur über die Zeit seiner Entstehung im 19. Jahrhundert hinaus fortbestanden, sondern auch während (und trotz) der erstarkten Emanzipations- und Reformbewegungen im 20. und 21. Jahrhundert. Die Dekaden der Bürgerrechtsbewegung haben zu vielfältigen Anfechtungen der Südstaatenideologie und zu einer Aufarbeitung der Geschichte geführt, ohne dass die „lost cause“-Advokaten verschwunden wären; in der Ära von Black Lives Matter ist der Mythos wieder neu aufgelegt worden – als radikaler und provinzieller ethnonationalistischer Gegenentwurf zu einem multikulturellen, pluralistischen Amerika.
Gegen diese Hartnäckigkeit kommen auch Maßnahmen zur Korrektur der tradierten Erinnerungskultur nicht an, wie etwa die Einführung eines neuen nationalen Feiertags in den USA unter Präsident Biden zum Gedenken an die Abschaffung der Sklaverei: Der „Juneteenth National Independence Day“, der 19. Juni, steht nun im zivilreligiösen Kalender und gedenkt der Abschaffung der Sklaverei auch im entlegensten Winkel des Landes: Am 19. Juni 1865 teilte der weiße Major General Gordon Granger den versklavten Schwarzen in Galveston, Texas, mit, dass sie freie Menschen und Bürgerinnen und Bürger der USA sind. Das hatte man ihnen bis dato verschwiegen, obwohl die neue Rechtslage bereits am 1. Januar 1863 mit Präsident Abraham Lincolns „Emancipation Proclamation“ in Kraft getreten war. Zeitgleich mit Granger erreichten Unions Regimenter der „United States Colored Troops“ Galveston und unterstrichen die Ansage Grangers eindrücklich. Der Kongress verabschiedete die Einführung des neuen Feiertags erstaunlich einmütig und weit weniger kontrovers als ähnliche Prozesse in der Vergangenheit. Der Senat votierte einstimmig dafür, im Repräsentantenhaus gab es wenige Gegenstimmen.
Der Tag mag für den kleinsten gemeinsamen Nenner stehen, auf den man sich derzeit in den USA berufen kann: dass die Abschaffung der Sklaverei ein Grund zum Feiern ist. Darüber hinaus ist jede weitere Form der Ausgestaltung der amerikanischen Demokratie konfliktbehaftet, insbesondere entlang der schier unüberwindbaren Gräben, die sich zwischen den MAGA-Republikaner* innen, also der Anhängerschaft Trumps, und den Aktivist*innen von Black Lives Matter auftun. Und so ist es vielleicht passend, dass derzeit in der Periodisierung der Geschichte der US-Demokratie eine „dritte Reconstruction“29 ausgemacht wird, die nach der Nachkriegszeit des Bürgerkrieges und der Zeit der Bürgerrechtsbewegung nun erneut soziale und politische Gerechtigkeit für Bevölkerungsteile einfordert, die immer noch diskriminiert werden. Sie steht dafür, über Jahrzehnte hart erkämpfte Fortschritte bei der Verwirklichung von Emanzipation und Teilhabe nicht wieder zu verspielen, indem man sich retrotopischen und rückwärtsgewandten Fantasien hingibt. Das 19. Jahrhundert ist lange vorbei.