Beim Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 tragen Trump-Anhänger*innen eine Konföderiertenfahne mit Maschinengewehr und der Aufschrift „Come and Take It“ | © picture alliance/REUTERS/Shannon Stapleton

von Heike Paul

Der lange Schatten des amerikanischen Bürgerkriegs auf die heutige US-Demokratie

Seit einigen Jahren ist in den USA die Rede von einem „zweiten“ oder einem „neuen“ amerikanischen Bürgerkrieg, der die US-Demokratie bedrohe. Man spricht meist von einer Kombination aus gesellschaftlicher Polarisierung, privaten Waffenarsenalen radikaler Milizen und wachsender Gewaltbereitschaft in Teilen der Bevölkerung als einer gefährlichen, gar explosiven Mischung.1 Wie brandgefährlich diese Entwicklung ist, wurde am 6. Januar 2021 deutlich, als Anhänger*innen des abgewählten Präsidenten Donald Trump das Kapitol stürmten. Viele von ihnen schwenkten die Konföderiertenfahne und zeigten sich qua Kostümierung als Vertreter rechtsradikaler, paramilitärischer Gruppierungen wie der „Proud Boys“. Die politische und juristische Aufarbeitung dieses bis dato einzigartigen Angriffs auf den Kongress ist längst noch nicht abgeschlossen, und doch ist festzuhalten, dass sich die amerikanische Demokratie zumindest bei diesem Ansturm letztlich als wehrhaft genug erwiesen hat, um die regelkonforme Machtübergabe gemäß dem Wahlergebnis zu vollziehen und die Amtseinführung des neuen Präsidenten Biden am 20. Januar 2021 protokollgemäß durchzuführen. 

Seither bastelt die Anhängerschaft des unterlegenen Kandidaten Trump auf all ihren medialen Kanälen an einem Geschichtsnarrativ der aggressiv vorgetragenen Selbstviktimisierung, das die Wahlniederlage Trumps bei der Präsidentschaftswahl 2020 als „gestohlenen“ Wahlsieg, als „the big lie“ tituliert. Die verlorene Wahl wird unter anderem mit der Niederlage der Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert analogisiert und in ähnlich irreführender Weise verklärt. Der damals von der weißen Südstaatenelite erfundene, in allen Selbstbeschreibungen der Südstaaten implementierte und seither erfolgreich popularisierte Mythos des „lost cause“ (der „verlorenen Sache“) wird auf die „verlorene Sache“ der MAGA-Anhänger*innen („Make America Great Again“) projiziert. Das schürt unter diesen wiederum Revanchismus und die radikale Ablehnung der amtierenden Regierung und ihrer Politik – als wäre sie, vergleichbar mit den Machtverhältnissen nach der Kapitulation der Konföderierten, Organ einer Art Fremdherrschaft und nicht die gewählte legitime Volksvertretung.

Und so wie die Südstaaten ihr grausames System der Versklavung und Plantagenwirtschaft mit Fragen der Kultur, Lebensart und Identität verknüpften und vermeintlich rechtfertigten, so wie sie die Gewalt dieses Systems verleugneten und sich als überlegene Zivilisation im Sinne des weißen Suprematiedenkens darstellten, so finden sich auch im neuen „lost cause“ zahlreiche (historische) Aspekte des Kulturkampfes. Diese haben einen deutlich vergangenheitsverklärenden und restaurativen Charakter und betreffen insbesondere die race- und gender-Regime.2 Auch hier ist das 19. Jahrhundert also nicht weit. Edward Pollard, der den Begriff des „lost cause“ einst prägte, schrieb, dass die „Konföderierten […] aus diesem Krieg hervorgegangen [sind] mit dem stolzen, geheimen, unsterblichen und gefährlichen Bewusstsein, dass sie die BESSEREN MÄNNER sind und dass nichts fehlte als günstigere Umstände und ein festerer Entschluss, um sie zu Siegern zu machen“.3 Diese Rhetorik klingt merkwürdig vertraut in einer Zeit, in der sich die in der Wahl Unterlegenen zu den eigentlichen Gewinnern und den besseren Amerikanern erklären.

Der amerikanische Bürgerkrieg und der „lost cause“

Der amerikanische Bürgerkrieg – die Kampfhandlungen zwischen den elf Konföderiertenstaaten im Süden, die sich zum neuen Bundesstaat Confederate States of America zusammengeschlossen hatten, und der Union der USA im Norden – wird in Geschichtsbüchern von 1861 bis 1865 datiert, doch seine Auswirkungen sind bis heute unübersehbar. So sehr, dass manche argumentieren, er sei nie wirklich beendet worden.4 Letzteres verweist auf zweierlei: Auf die halbherzige Durchführung der Reconstruction-Politik, die eine schnelle, wenngleich oberflächliche Aussöhnung der beiden Kriegsparteien über die Durchsetzung der verkündeten Emanzipation und rechtlichen Gleichstellung der vormals versklavten afroamerikanischen Bevölkerung stellte – und auf die anhaltenden Deutungskämpfe um die Kriegsgründe, den Sinn und Zweck des Krieges sowie die Formen der kollektiven Erinnerung. 

Auch heute noch wird virulent über die Sklaverei als Ursache des Krieges und über die Erinnerungskultur im Süden gestritten, besonders heftig in Zeiten von Wahlkämpfen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Rolle die Konföderiertenfahne und die Denkmäler von Südstaatenheroen heute noch spielen (dürfen) oder ob sie restlos aus dem öffentlichen Leben verbannt werden sollten.5

Im Jahr 1866 veröffentlichte Edward Pollard die Schrift The lost cause; a new southern history of the war of the Confederates | © Library of Congress

Die insbesondere vom Black Lives Matter-Aktivismus geforderte Demontage ist in den letzten Jahren vielerorts geschehen; vor allem im Nachgang zur Demonstration „Unite the Right“ in Charlottesville, Virginia, einem Aufmarsch verschiedener rechtsextremer Gruppen, bei dem eine Gegendemonstrantin getötet wurde.6 Wie in Charlottesville ist die Entfernung solcher Erinnerungssymbole und -stätten meist lokal und regional heftig umkämpft.7 Doch noch einmal zurück zum Ende des Krieges. Es war der Aktivismus weißer Südstaatenfrauen in der Zeit nach dem Bürgerkrieg, der qua ihrer beanspruchten „kulturellen Autorität“8 zu einem mächtigen kulturellen Einfluss in der Südstaatengesellschaft wurde: Ihre Selbstdarstellung als „Archivarinnen und Erzählerinnen der Geschichte des Südens“9 wurde in Clubs und Vereinigungen wie der Ladies’ Memorial Association (gegründet 1866) und den überaus einflussreichen United Daughters of the Confederacy (gegründet 1894) betrieben. Diese Organisationen sammelten Spenden für Gedenkprojekte, um die Geschichte der „verlorenen Sache“ zu fabrizieren, zu verbreiten und lebendig zu halten. Die „verlorene Sache“ wurde zu einer überaus „brauchbaren Vergangenheit“10 der weißen Südstaatenidentität verarbeitet sowie zu einer sentimentalen Erzählung über das Leiden der weißen Südstaatler*innen überhöht, das die Schrecken der Versklavung verdrängte, ja komplett verleugnete. Diese Erzählung wollte den Bürgerkrieg so verstanden wissen, dass er „zur Verteidigung der Rechte der Bundesstaaten und zum Schutz einer ritterlichen Lebensweise der Vorkriegszeit vor der Aggression des Nordens geführt wurde“.11 Da findet sich kein Wort über die brutale Versklavung von Menschen und die menschenverachtende ökonomische Praxis der Plantagenwirtschaft. Man imaginierte stattdessen einen „alten Süden“, „in dem vornehme weiße Männer ihre schönen und tugendhaften Frauen und Kinder beschützten und mit Würde und Stolz kämpften“.12 Die genannten Frauenorganisationen beschäftigten sich mit der Erstellung von Schulbüchern und Lesefibeln, und „indoktrinierten die weiße Jugend durch ihre konföderationsfreundlichen Lehrmaterialien und Programme“.13

Die Nachkriegsbemühungen der weißen Südstaatlerinnen zur Rehabilitierung des Südstaatenpatriarchats sowie der Restauration der gedemütigten Egos seiner Vertreter*innen zeitigten großen Erfolg und machten den Mythos des „lost cause“ für lange Zeit, letztlich bis heute, zur dominanten Zivilreligion des Südens.14 Diese symbolpolitische Diskurshoheit flankierte trotz der Kriegsniederlage die vehementen politischen und juristischen Repressionen gegen die ehemals Versklavten (u. a. „black codes“), die alle Emanzipationsbestrebungen unterliefen. Gewaltexzesse gegen die Schwarze Bevölkerung waren an der Tagesordnung, und von Gleichstellung oder gar demokratischer Teilhabe konnte keine Rede sein. Dafür sorgten auch Gruppen wie der Ku-Klux-Klan, der als der gewalttätige Arm der „lost cause“- Ideologen zu sehen ist.15 Es verwundert daher auch nicht, dass ein Anhänger der Konföderierten im Zeichen des „lost cause“ in seinem verblendeten Fanatismus 1865 Präsident Abraham Lincoln ermordete.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhielten die Verfechter*innen der „verlorenen Sache“ massive Unterstützung durch effektvolle massenkulturelle Produktionen: Die Romane von Thomas Dixon Jr. und D. W. Griffiths Stummfilmepos The Birth of a Nation (1915) sind hier zu nennen. Margaret Mitchells Roman Gone with the Wind erschien 1936 und wurde von David Selznick 1939 in Farbe verfilmt. Bereits der Titel Vom Winde verweht evoziert die verlorene Sache. Es ist ein Film, der wie kein anderer für die umfassende Verklärung und Romantisierung des alten, untergegangenen Südens steht und dabei auch noch pseudo-feministische Inhalte transportieren will – immerhin sei die Hauptfigur eine willensstarke junge Frau.16 Der Film verbreitete weltweit den unsäglichen Mythos des vermeintlich „glücklichen Sklaven“,17 der gerne dient und keinesfalls lieber in Freiheit leben möchte; und den von der Plantagenidylle des amerikanischen Südens als pastorales Paradies. Jüngst hat Sarah Churchwell diesen Film noch einmal eingehend analysiert – als „Schöpfungsmythos der Opferrolle der Weißen in Amerika“,18 als eine fundamental anti-demokratische Erzählung und als „moralische Horror-Show“.19 Churchwell ist zuzustimmen, dass der Film mit Blick auf die politische Gemengelage wieder an Aktualität gewonnen hat, denn in den vergangenen Jahren hat auch die „lost cause“-Erzählung wieder neue Verbreitung gefunden und wurde vom amerikanischen Rechtspopulismus als Narrativ für die gefühlt „abgehängten“ Weißen nicht nur im amerikanischen Süden wiederbelebt und instrumentalisiert.

Heike Paul ist Professorin für Amerikanistik/American Studies an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und war bis 2024 Direktorin der Bayerischen Amerika-Akademie in München. Forschungs- und Lehraufenthalte führten sie unter anderem an die Harvard University, ans Dartmouth College und an das Thomas Mann-Haus, L.A. 2018 wurde ihr der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis verliehen. Seit 2019 ist sie ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Zu Ihren Veröffentlichungen zählen The Myths That Made America (2014), Critical Terms in Futures Studies (Hg., 2019) und Amerikanischer Staatsbürgersentimentalismus (2021).

Heike Paul im Gespräch mit Megan Ming Francis über Race, Violence, and American Democracy bei der Tagung Fragile Demokratien – Fragile Democracies: 1923/1933/2023 im NS-Dokumentationszentrum München, 23. März 2023 | © NS-Dokumentationszentrum München, Foto: Connolly Weber Photography

Trump und die Rückkehr des „lost cause“

Wie eingangs formuliert, wird die Legendenbildung um die „verlorene Sache“ der Südstaaten von der Anhängerschaft Donald Trumps bruchlos in die Gegenwart überführt, wenn mit der Behauptung eines neuen „lost cause“ das Ergebnis der Präsidentschaftswahl 2020 bezweifelt und so demokratische Abläufe – und die Funktionsfähigkeit der amerikanischen Demokratie schlechthin – infrage gestellt werden. Die geographische Verortung der Konfliktlinie hat sich allerdings weitgehend von der Nord-Süd-Linie gelöst und findet sich heute partiell in der Identifikation von „roten“ (republikanisch regierten) und „blauen“ (demokratisch regierten) Staaten wieder. Erstere sind meist in der Landesmitte zu finden, letztere sind vor allem an den Küsten.

Arlie Russell Hochschild konnte in ihrer berühmten emotionssoziologischen Studie Strangers in Their Own Land (2016) – quasi in Antizipation einer Trump-Präsidentschaft – zeigen, dass die von ihr befragten überwiegend konservativen weißen Bewohner*innen Louisianas sich fremd in einem Land fühlen, in dem ihre Lebensweise als rückständig verlacht wird, sie sich von bundesstaatlichen Instanzen im Stich gelassen und verraten und um das, was ihnen zusteht, nämlich die Erfüllung des amerikanischen Traums, betrogen fühlen. Die von Hochschild herausgearbeitete „deep story“ zeigt einige Ähnlichkeiten mit der „lost cause“-Erzählung. Auch hier führt Selbstviktimisierung zu Ressentiments und einer Ablehnung der Regierung und staatlicher Repräsentanten (des „establishment“ und „denen da oben“) und dazu, dass man sich alternative Organisationsformen und Identifikationsfiguren sucht. Hochschilds Befund macht deutlich, dass die scharfe Rhetorik der republikanischen Hardliner, die Bidens Wahlsieg zur „großen Lüge“ erklärt und unter der Anhängerschaft Trumps popularisiert haben, den Kulminationspunkt einer längeren Entwicklung darstellt. Der Erfolg des Trumpschen Populismus verweist auf (und befördert zugleich) eine zunehmend scharfe Polarisierung in der Gesellschaft und veranschaulicht die affektive Wirkung eines adaptierten „lost cause“-Narrativs, das die Belohnung in Aussicht stellt, sich im gemeinsamen Einstehen für eine „verlorene Sache“ für die erlittenen Kränkungen rächen und die alten Machtasymmetrien wiederherstellen zu können.

Trump hat früh, bereits in seinem Wahlkampf 2016, explizit entsprechende Identifikationsangebote gemacht und sich an die „forgotten men and women of our country – people who work hard but no longer have a voice“ gewandt und ihnen versprochen „I am your voice“.20 Seine Wahlkampfauftritte waren unterlegt mit Stücken aus Les Misérables, der Musicalversion von Victor Hugos Roman über den erfolglosen Juniaufstand der Republikaner gegen den französischen König im Jahr 1832 (auch eine „verlorene Sache“, wenn man so will). Sie integrierten damals bereits Hillary Clintons unglückliche Formulierung über die „Basket of Deplorables“, die die Trump-Anhängerschaft in ihren Augen darstellte, in ein Narrativ der Viktimisierung durch das politische Establishment, dem es sich entgegenzustellen galt.21 Diese Strategie ist für Trump 2016 aufgegangen; nach seiner Wahlniederlage 2020 hat er sie aktualisiert – mit den gleichen Verdrängungs- (repression) und Verleugnungsmechanismen (denial), die den Diskurs der ursprünglichen Repräsentanten des „lost cause“ des amerikanischen Südens charakterisierten. 

„Erzählungen über ‚lost causes‘“, so der Historiker David Blight, „waren manchmal mächtig genug, um politische Regime aufzubauen oder zu zerstören, nationale und ethnische Identitäten zu formen und Landschaften mit Denkmälern zu füllen. Sie wirken in erster Linie als mächtige neue Gründungsmythen, die stets eine Politik der Klage vorantreiben, die in Vergeltung und manchmal in einen Sieg mündet.“22 Blight attestiert auch Trump und der MAGA-Anhängerschaft solch eine „Politik der Klage“ und das Bestreben, einen neuen Gründungsmythos für die USA zu schaffen. Die demokratische Grundordnung ist dabei, wie bei so vielen zeitgenössischen autoritären populistischen Bewegungen, mindestens zweitrangig, wenn sie nicht als ein zu beseitigendes Hindernis gilt. Trumps Kampagne und seine Anhängerschaft haben sich entsprechend ein historisch und nachhaltig wirkmächtiges Narrativ angeeignet, das die Wahlkampfrhetorik bestimmt und den Bürgerkrieg und seine behaupteten negativen Folgen für die Weißen beharrlich präsent hält. Die Demokraten, so ein Kommentar, treten nicht nur gegen Donald Trump, sondern auch gegen diesen Mythos an, mit dem die Südstaaten einen militärisch verlorenen Krieg über Jahrzehnte in eine Pose der Überlegenheit und vermeintlich berechtigte Ansprüche umgemünzt haben – und den Trump nun nutzt, um eine verlorene Wahl in symbolisches wie politisches Kapital zu verwandeln.23 

Joe Biden hat diese Strategie verstanden und in einer Wahlkampfrede am 8. Januar 2024 in der AME Church in Charleston, dem Ort des Amoklaufes eines weißen Fanatikers im Jahr 2015, diese Überblendung explizit angesprochen: „Jetzt – jetzt leben wir in einer Ära einer zweiten verlorenen Sache. Wieder einmal versuchen einige in diesem Land, einen Verlust in eine Lüge zu verwandeln – eine Lüge, die, wenn man sie weiterleben lässt, diesem Land erneut schrecklichen Schaden zufügen wird. Diesmal geht es bei der Lüge um die Wahl 2020.“24 Beobachter*innen sind derzeit uneinig über die Wirkmacht, die diese neue Geschichte des „lost cause“ erlangen könnte. Einerseits wird darauf hingewiesen, dass die Analogiebildung in vielfacher Hinsicht hinke und kaum plausibilisierbar sei. Für Blight handelt es sich bei der Trump-Version – im Gegensatz zur verlorenen Sache der Konföderierten – um eine Art „Gangsterkult“, „voll von Ritualen der Loyalität gegenüber einem einzelnen Mann und seinen Plänen zur Schaffung einer autoritären US-Regierung“, die die amerikanische Demokratie zersetzen könnte.25 Andererseits zeigt sich überdeutlich, dass die Analogie durchaus verfängt, zumindest bei den Gruppen von Wähler*innen, die angesprochen werden sollen. Noch dazu sei Trumps Version des „lost cause“ weitaus gefährlicher für die amerikanische Demokratie als die der Südstaaten, „da sie nicht nur eine Region betrifft, sondern von nationaler Tragweite ist“.26

Auch für den politischen Analysten Larry Sabato finden sich entsprechende Resonanzen in der Zusammenschau, da es sich „in beiden Fällen […] um Rebellionen [handelt], die auf den Sturz der rechtmäßigen Regierung abzielen“.27 In beiden Fällen handelt es sich um zutiefst anti-demokratische Erzählungen: Der Süden porträtierte sich als Sklavenhalteraristokratie, die nach aristotelischem Vorbild um den patriarchalen Haushalt herum organisiert war und hierarchische, nicht egalitäre Strukturen im Zeichen eines weißen Suprematiedenkens bekräftigte. Die Trumpsche Neuauflage aktiviert diese Ideologie und stellt mit ihrer Fokussierung auf eine Person als Gallionsfigur ebenfalls die demokratische Ordnung infrage, auch weil demokratische Institutionen angegriffen und unterhöhlt werden. Eine „Ein-Tages-Diktatur“ hat Trump im Falle seines Wahlsieges bereits angekündigt.28
 

Der „lost cause“ in Zeiten von Black Lives Matter

„Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist nicht einmal Vergangenheit.“ So schreibt es der Südstaatenautor und Nobelpreisträger William Faulkner, der quasi seine gesamte schriftstellerische Karriere der Bearbeitung der „lost cause“-Thematik gewidmet hat, in seinem Roman Requiem for a Nun (1950). Und so ist es der Mythos (und die dazugehörige Psychopathologie) vom „lost cause“, der die Zeit überdauert hat und auch heute noch ideologisch wirksam ist, nicht nur im Süden der USA. Er hat nicht nur über die Zeit seiner Entstehung im 19. Jahrhundert hinaus fortbestanden, sondern auch während (und trotz) der erstarkten Emanzipations- und Reformbewegungen im 20. und 21. Jahrhundert. Die Dekaden der Bürgerrechtsbewegung haben zu vielfältigen Anfechtungen der Südstaatenideologie und zu einer Aufarbeitung der Geschichte geführt, ohne dass die „lost cause“-Advokaten verschwunden wären; in der Ära von Black Lives Matter ist der Mythos wieder neu aufgelegt worden – als radikaler und provinzieller ethnonationalistischer Gegenentwurf zu einem multikulturellen, pluralistischen Amerika.

Gegen diese Hartnäckigkeit kommen auch Maßnahmen zur Korrektur der tradierten Erinnerungskultur nicht an, wie etwa die Einführung eines neuen nationalen Feiertags in den USA unter Präsident Biden zum Gedenken an die Abschaffung der Sklaverei: Der „Juneteenth National Independence Day“, der 19. Juni, steht nun im zivilreligiösen Kalender und gedenkt der Abschaffung der Sklaverei auch im entlegensten Winkel des Landes: Am 19. Juni 1865 teilte der weiße Major General Gordon Granger den versklavten Schwarzen in Galveston, Texas, mit, dass sie freie Menschen und Bürgerinnen und Bürger der USA sind. Das hatte man ihnen bis dato verschwiegen, obwohl die neue Rechtslage bereits am 1. Januar 1863 mit Präsident Abraham Lincolns „Emancipation Proclamation“ in Kraft getreten war. Zeitgleich mit Granger erreichten Unions Regimenter der „United States Colored Troops“ Galveston und unterstrichen die Ansage Grangers eindrücklich. Der Kongress verabschiedete die Einführung des neuen Feiertags erstaunlich einmütig und weit weniger kontrovers als ähnliche Prozesse in der Vergangenheit. Der Senat votierte einstimmig dafür, im Repräsentantenhaus gab es wenige Gegenstimmen.

Der Tag mag für den kleinsten gemeinsamen Nenner stehen, auf den man sich derzeit in den USA berufen kann: dass die Abschaffung der Sklaverei ein Grund zum Feiern ist. Darüber hinaus ist jede weitere Form der Ausgestaltung der amerikanischen Demokratie konfliktbehaftet, insbesondere entlang der schier unüberwindbaren Gräben, die sich zwischen den MAGA-Republikaner* innen, also der Anhängerschaft Trumps, und den Aktivist*innen von Black Lives Matter auftun. Und so ist es vielleicht passend, dass derzeit in der Periodisierung der Geschichte der US-Demokratie eine „dritte Reconstruction“29 ausgemacht wird, die nach der Nachkriegszeit des Bürgerkrieges und der Zeit der Bürgerrechtsbewegung nun erneut soziale und politische Gerechtigkeit für Bevölkerungsteile einfordert, die immer noch diskriminiert werden. Sie steht dafür, über Jahrzehnte hart erkämpfte Fortschritte bei der Verwirklichung von Emanzipation und Teilhabe nicht wieder zu verspielen, indem man sich retrotopischen und rückwärtsgewandten Fantasien hingibt. Das 19. Jahrhundert ist lange vorbei.

Anmerkungen

1 Vgl. Hubert Wetzel: Der zweite Bürgerkrieg, in: Süddeutsche Zeitung, 27.07.2018, URL: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/usa-der-zweite-buergerkrieg-e740608/ [aufgerufen am 15.02.2024].
2 Race- und gender-Regime sind normative Effekte eines Herrschaftsdiskurses, der den Umgang mit Rasse und Geschlecht bestimmt und sanktioniert.
3 Edward Alfred Pollard: The Lost Cause. A New Southern History of the War of the Confederates: Comprising a Full and Authentic Account of the Rise and Progress of the Late Southern Confederacy – the Campaigns, Battles, Incidents, and Adventures of the Most Gigantic Struggle of the World’s History, New York 1866, S. 729. Im Original: „[t]he Confederates have gone out of this war, with the proud, secret, deathless, dangerous consciousness that they are the BETTER MEN, and that there was nothing wanting but a change in a set of circumstances and a firmer resolve to make them the victors“.
4 Vgl. Sarah Churchwell: The Wrath to Come. Gone With the Wind and the Lies America Tells, London 2022, S. 33.
5 Vgl. Siri Hustvedt: Tear Them Down. Old Statues, Bad Science, and Ideas That Just Won’t Die, in: Cedric Essi / Heike Paul / Boris Vormann (Hg.), Common Grounds? American Democracy after Trump, Amerikastudien / American Studies 2021 / 66.1, S. 37–45.
6 Im Zuge der Verarbeitung der dramatischen Geschehnisse wurde in der Innenstadt von Charlottesville eine großformatige Fotoausstellung installiert, die Diversität und Heilung in der Stadt nach den erschütternden Ereignissen thematisiert.
7 Vgl. hierzu die Dokumentation eines weiteren solchen Konflikts, der sich in Murray, Kentucky, zugetragen hat: Gerry Seavo James / Sherman Neal II: Ghosts of a Lost Cause. A Battle for the Will of the People in Small-Town America (Dokumentarfilm), USA 2023. Southern Poverty Law Center: Save the Date: „Ghosts of a Lost Cause“ Screening in the „Friendliest Town in America“ on MLK Day, in: Southern Poverty Law Center, 08.01.2024, URL: https://www.splcenter.org/presscenter/save-date-ghosts-lost-cause-screening-friendliest-town-america-mlkday-0 [aufgerufen am 15.02.2024].
8 William Fitzhugh Brundage: The Southern Past: A Clash of Race and Memory, Cambridge, MA 2005, S. 124.
9 Fitzhugh Brundage 2005, S. 121.
10 David Currey: The Virtuous Soldier. Constructing a Usable Past in Franklin, Tennessee, in: Cynthia Mills / Pamela H. Simpson (Hg.), Monuments to the Lost Cause. Women, Art, and the Landscapes of Southern Memory, Knoxville, TN 2003, S. 133–147, hier: S. 133.
11 Ebd., S. xvii–xviii. Im Original: „[…] fought to defend states’ rights and to protect a chivalrous antebellum way of life from northern aggression […]“.
12 Ebd., S. xvii–xviii. Im Original: „[…] pictured an Old South in which genteel white men protected their beautiful and virtuous women and children, fighting with dignity and pride“.
13 Hasan Kwame Jeffries: Legacies of Belief, in: Kinshasha Holman Conwill / Paul Gardullo (Hg.), Make Good the Promises. Reclaiming Reconstruction and Its Legacies, New York, NY 2021, S. 177. Im Original: „indoctrinating white youth through its pro Confederate educational materials and programs“.
14 Vgl. Drew Gilpin Faust: Mothers of Invention. Women of the Slaveholding South in the American Civil War, Chapel Hill, NC 1996, S. 253.
15 Vgl. Joseph Patrick Kelly: Biden is Running against a Second ›Lost Cause‹ Myth, in: Kentucky Lantern, 06.02.2024, URL: https:// kentuckylantern.com/2024/02/06/biden-is-running-against-a-second-lost-cause-myth/ [aufgerufen am 14.02.2024].
16 Vgl. Heike Paul: Gone with the Wind (1939), in: Heike Paul u. a. (Hg.), Lexicon of Global Melodrama, Bielefeld 2022. S. 63–66.
17 Vgl. Sara Ahmed: The Promise of Happiness, Durham / London 2010, S. 2 und 258 (Fußnote 10).
18 Churchwell 2022, S. 13. Im Original: „creation myth of white victimhood in America“.
19 Ebd., S. 388.
20 Donald Trump in seiner Rede zur Annahme der Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Republikaner bei der Republican National Convention 2016 am 21. Juli 2016 in Cleveland, Ohio.
21 Vgl. Laura Vorberg: #BasketofDeplorables. Digital Imagined Communities, Twitter- Populism, and the Cross-Media Effects of Popular Political Social Media Communication in the 2016 US Presidential Election, in: Heike Paul u. a. (Hg.), The Comeback of Populism. Transatlantic Perspectives, Heidelberg 2019, S. 89–108.
22 David Blight: Opinion. Trump’s ›Lost Cause,‹ a kind of Gangster Cult, won’t Go Away, in: Los Angeles Times, 14.01.2024, URL: https://www.latimes.com/opinion/story/2024-01-14/lost-cause-platform-donald-trump-revision-history-confederacy [aufgerufen am: 14.02.2024]. Im Original: „Lost cause narratives sometimes have been powerful enough to build or destroy political regimes, shape national and ethnic identities, and fill landscapes with monuments. They work primarily as powerful new founding myths, always advancing a politics of grievance that turns into retribution, and sometimes victory.“
23 Vgl. Kelly 2024.
24 Joe Biden: Remarks by President Biden at a Political Event | Charleston, SC, in: The White House, 08.01.2024, URL: https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2024 /01 /08/remarks-by-president-biden-at-a-political-event-charlestonsc/ [aufgerufen am 14.02.2024]. Im Original: „Now — now we’re living in an era of a second lost cause. Once again, there are some in this country trying — trying to turn a loss into a lie — a lie, which if allowed to live, will once again bring terrible damage to this country. This time, the lie is about the 2020 election […].“
25 Vgl. Blight 2024. Im Original: „Unlike the Confederate Lost Cause, the Trump version is a kind of gangster cult, full of rituals of loyalty to a single man and his plans to fashion an authoritarian U. S. government […].“
26 Karen L. Cox: What Trump Shares With the ›Lost Cause‹ of the Confederacy, in: The New York Times, 08.01.2021, URL: https://www.nytimes.com/2021/01/08/opinion/trumpconfederacy-lost-cause.html. Im Original: „Mr. Trump’s lost cause, however, is far more dangerous because it affects more than a region; it is national in scope.“
27 Larry Sabato zitiert in Eleanor Clift: The Big Lie Is the South’s New Lost Cause, in: The Daily Beast, 12.01.2024, URL: https://www.thedailybeast.com/the-big-lie-is-the-southsnew-lost-cause [aufgerufen am 15.02.2024]. Im Original: „They’re both rebellions aimed at overthrowing the legitimate government […].“
28 Die Ankündigung machte er auf einer Wahlkampfveranstaltung in Iowa in einem Interview mit Sean Hannity. Auf dessen Frage, ob er jemals Macht missbrauchen würde, um sich an irgendjemandem zu rächen, antwortete er „Except for day one“, „außer am ersten Tag“. Vgl. URL: https://www.youtube.com/watch?v=Sgv7ebKyjnc [aufgerufen am 09.04.2024].
29 Peniel E. Joseph: The Third Reconstruction. America’s Struggle for Racial Justice in the Twenty-First Century, New York, NY 2022.