Ausstellung

TO BE SEEN. queer lives 19OO–195O

7. Okt. 2022 bis 21. Mai 2023

Die neue Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums München TO BE SEEN widmet sich den Geschichten von LGBTIQ* in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit historischen Zeugnissen und künstlerischen Positionen von damals bis in die Gegenwart zeichnet die Ausstellung queere Lebensentwürfe und Netzwerke, Freiräume und Verfolgung nach. Sie möchte bis heute andauernde Tendenzen des Verdrängens überwinden, auf gegenwärtige Diskussionen und Veränderungen antworten und zu einer diversen, vielstimmigen Erinnerung beitragen.

Die Ausstellung blickt auf vielfältige Geschlechter, Körper und Identitäten. Sie zeigt, wie queeres Leben in den 1920er Jahren sichtbarer wurde und in Teilen der Gesellschaft ein offenerer Umgang mit Rollenbildern und Begehren entstand. Homosexuelle, trans* und nicht-binäre Personen erzielten in ihrem Kampf für gleiche Rechte und gesellschaftliche Akzeptanz erste Erfolge: Sie organisierten sich, kämpften um wissenschaftliche und rechtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität und eroberten eigene Räume. 

Neben Anerkennung und Sichtbarkeit in Kunst und Kultur, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft nahmen aber auch die Widerstände gegen diese emanzipatorischen Bewegungen zu. Ab 1933 wurden insbesondere homosexuelle Männer verfolgt und in Konzentrationslager verschleppt, die Subkultur von LGBTIQ* weitgehend zerstört. Nach 1945 wurden queere Geschichten und Schicksale kaum archiviert oder erinnert. Nach langen Bemühungen der Communities darum, ihre queere Geschichte aufzuarbeiten, haben schließlich auch öffentliche Museen und Archive damit begonnen, ihre Bestände zu „queeren“ und die Geschichte von LGBTIQ* auszustellen. Im Deutschen Bundestag wird erstmals 2023 am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus an die Menschen erinnert, die aufgrund ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität verfolgt und ermordet wurden.

Die Geschichte von LGBTIQ* in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist jedoch viel mehr als eine Geschichte von Verfolgung und Ausgrenzung – mutige, selbstbestimmte Lebensentwürfen, Zusammenhalt, Innovation und Fortschritt sind Teil dieser Geschichte. Dieser Vielfalt spürt TO BE SEEN in fünf Ausstellungskapiteln nach. Ein Prolog führt außerdem in das Gesamtkonzept ein; der Epilog verweist auf queere Errungenschaften bis in die Gegenwart. 

In den beiden ersten Kapiteln „Selbstermächtigung“ und „Begegnen, bewegen – Banden bilden“ werden einzelne Menschen und Bewegungen vorgestellt, die gegen die um 1900 herrschende Geschlechterordnung aufbegehrten und für eine offenere Gesellschaft eintraten. In ihrem Kampf für gleiche Rechte und Akzeptanz solidarisierten sie sich untereinander, organisieren sich in Vereinen, gründeten Zeitschriften, prägten neue Begriffe und trafen sich in Bars und Clubs. Die queere Subkultur, mit einem Schwerpunkt in Berlin, hatte in der Weimarer Republik ihre Blütezeit.  Anfang des 20. Jahrhunderts werden Sexualität und Geschlecht zu-nehmend auch ein Thema der Wissenschaft. Das Kapitel „Wissen, Diagnose, Kontrolle“ gibt Einblicke in die frühen Anfänge der Sexualwissenschaft und ihrer Vertreter*innen. Positionen einflussreicher Personen wie der Gründer des Instituts für Sexualwissenschaften Magnus Hirschfeld werden ebenso vorgestellt wie Selbstzeugnisse einzelner „Patient*innen“. Die Ausstellung verweist hier auch auf eine schicksalhafte Ambivalenz: Die Befassung mit der Vielfalt neuer Körperbilder brachte nicht nur Sichtbarkeit, sondern führte zugleich zur Pathologisierung und erleichterte die staatliche Kontrolle.
 
Das vierte Ausstellungskapitel „Körper fühlen, Bilder sehen“ befasst sich mit neuen Vorstellungen von Körper, Geschlecht und Intimität, die ihren Ausdruck in der Kunst und Kultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden. In Literatur, Theater, Film und Bildender Kunst entstand ein Möglichkeitsraum, geschlechtliche Stereotypen infrage zu stellen und neue Körper- und Rollenbilder zu entwerfen. In Bars, Clubs und Varietés kamen Menschen mit alternativen Geschlechterbildern in Berührung. Vieles was heute als queer wahrgenommen wird, hat seinen Ursprung in dieser frühen queeren Ästhetik der 1920er-Jahre.  Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten, deren Ideologie „Andersartigkeit“ als volksgefährdend sah, wurde jede Form queeren Lebens bedroht. Ab 1934 wurden homosexuelle Männer durch die Gestapo verfolgt und der § 175 wurde drastisch verschärft. Bis 1945 wurden über 57.000 homosexuelle Männer verurteilt, bis zu 10.000 in Konzentrationslager verschleppt und mindestens die Hälfte von ihnen ermordet. Lesbischen Frauen und trans* Personen wurden mitunter andere Straftaten zur Last gelegt: etwa Prostitution oder Erregung öffentlichen Ärgernisses. Nicht wenige wurden aus politischen, sozialen oder rassistischen Gründen verfolgt.

Das Kapitel „Leben in der Diktatur“ zeigt, unter welchen Bedingungen queere Menschen während des Nationalsozialismus gelebt haben, wie sie sich anpassen, ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität verleugnen und teilweise ins Exil gehen mussten. Einzelne homosexuelle oder transidente Menschen entscheiden sich aber auch zu aktivem Widerstand gegen das NS-Regime. Die historischen Kapitel der Ausstellung werden im ersten Oberge-schoss des NS-Dokumentationszentrums präsentiert. Ergänzt wird die Ausstellung im Lernforum des Hauses durch eine Leselounge mit ausgewählter wissenschaftlicher Literatur zum Thema sowie der Station „Paul Hoecker: gefeiert, geoutet, vergessen“, die in Kooperation mit dem Forum Queeres Archiv München e.V. entstand. Paul Hoecker (1954-1910) prägte die Münchner Kunstszene des späten 19. Jahrhunderts als Künstler und Professor an der Akademie der Bildenden Künste. Nach seinem unfreiwilligen Outing als Homosexueller – im Modell seines gefeierten Werks Ave Maria wird ein Sexarbeiter erkannt – kündigte er seine Professur und zog sich aus der Kunstszene zurück. Sein Werk war lange Zeit vergessen.

Aktuelle künstlerische Positionen begleiten die historische Ausstellung. Sie sind als Interventionen im ganzen Haus zu finden. Die internationalen Künstler*innen begeben sich auf eine Spurensuche und loten eigene Formen des Erinnerns aus. Sie verweisen auf die Flüchtigkeit von Erinnerung, kombinieren Materialien aus verschiedenen Zeiten und machen verdrängte Geschichten sichtbar. Kontinuitäten von Diskriminierung und Verletzungen, aber auch der Zusammenhalt unter queeren Menschen werden thematisiert. Die Arbeiten wurden zum Teil eigens für die Ausstellung entwickelt.

„Die Ausstellung TO BE SEEN macht im wahrsten Sinne des Wortes sichtbar, mit wie viel Mut und Phantasie queere Menschen im vergangenen Jahrhundert für ihre Rechte kämpfen mussten. Sie zeigt, wie erste errungene Fortschritte in der NS-Zeit zunichte gemacht wurden und wie LGBTIQ* auch lange danach noch in der Bundesrepublik verfolgt wurden. In unserer Erinnerungskultur ist ihr bis heute fortwährender Kampf um Gleichberechtigung eine schmerzliche Lücke geblieben. Die Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums leistet einen wichtigen Beitrag dazu, diese Lücke zu schließen.“

Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien und Schirmfrau der Ausstellung

„Es war uns wichtig, die Verfolgung von Homosexuellen und LGBTIQ* zu erzählen, die lange vergessen war. Aber nicht nur das: Denn queere Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist auch eine Geschichte von mutigen selbstbestimmten Lebensentwürfen. Dieser Mut, diese Selbstbestimmtheit gepaart mit gemeinschaftlichem, kommunikativem Denken setzt sich fort in den Arbeiten der beteiligten zeitgenössischen Künstler*innen. Heute ist Queerness zum Symbol für die liberale, offene Gesellschaft geworden – ebenso wie ihre Ablehnung für illiberale Gesellschaften steht.“

Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München

„Das NS-Dokumentationszentrum München widmet sich mit seiner neuen Ausstellung einem kulturell wie auch politisch relevanten Thema, das gesellschaftlich nach wie vor größerer Aufmerksamkeit und kontinuierlicher Aufarbeitung bedarf. Leider erleben wir immer wieder, dass Menschen aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität oder sexuellen Orientierung angefeindet und ausgegrenzt werden. TO BE SEEN setzt hier an, antwortet auf aktuelle Diskussionen und sensibilisiert seine Besucher*innen für Sprache und Handeln – etwas, das ich mir verstärkt auch in der Politik, den Medien und der Öffentlichkeit wünschen würde.“

Katrin Habenschaden, Bürgermeisterin der Landeshauptstadt München

„Die so genannten goldenen 1920er Jahre waren eine Blütezeit der queeren Kunst- und Kulturszene. Vieles was wir heute unter ‚queerer Ästhetik‘ verstehen, hat in diesen frühen Jahren des 20. Jahrhunderts seinen Ursprung. Die Kunst ist sowohl Ausdruck als auch Motor für Empowerment und Veränderungen. So sind es auch heute häufig Künstler*innen, die für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt eintreten und mit den Mitteln der Kunst für Selbstbehauptung und Sichtbarkeit von LGBTIQ* kämpfen. Dass dies immer noch häufig ein Kampf ist, zeigt, dass wir in der Wahrnehmung queerer Kultur noch nicht dort sind, wo wir sein wollen.“

Anton Biebl, Kulturreferent der Landeshauptstadt München

„Indem wir uns um die Geschichten von queeren Menschen kümmern, sorgen wir uns auch um die Menschen in der Zukunft. Das ist für mich eine generationsübergreifende Solidarität für eine queere Zukunft“. 

Philipp Gufler, Künstler und Mitglied im Forum Queeres Archiv München