Die Geschichte von LGBTIQ* in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist jedoch viel mehr als eine Geschichte von Verfolgung und Ausgrenzung – mutige, selbstbestimmte Lebensentwürfen, Zusammenhalt, Innovation und Fortschritt sind Teil dieser Geschichte. Dieser Vielfalt spürt TO BE SEEN in fünf Ausstellungskapiteln nach. Ein Prolog führt außerdem in das Gesamtkonzept ein; der Epilog verweist auf queere Errungenschaften bis in die Gegenwart.
In den beiden ersten Kapiteln „Selbstermächtigung“ und „Begegnen, bewegen – Banden bilden“ werden einzelne Menschen und Bewegungen vorgestellt, die gegen die um 1900 herrschende Geschlechterordnung aufbegehrten und für eine offenere Gesellschaft eintraten. In ihrem Kampf für gleiche Rechte und Akzeptanz solidarisierten sie sich untereinander, organisieren sich in Vereinen, gründeten Zeitschriften, prägten neue Begriffe und trafen sich in Bars und Clubs. Die queere Subkultur, mit einem Schwerpunkt in Berlin, hatte in der Weimarer Republik ihre Blütezeit. Anfang des 20. Jahrhunderts werden Sexualität und Geschlecht zu-nehmend auch ein Thema der Wissenschaft. Das Kapitel „Wissen, Diagnose, Kontrolle“ gibt Einblicke in die frühen Anfänge der Sexualwissenschaft und ihrer Vertreter*innen. Positionen einflussreicher Personen wie der Gründer des Instituts für Sexualwissenschaften Magnus Hirschfeld werden ebenso vorgestellt wie Selbstzeugnisse einzelner „Patient*innen“. Die Ausstellung verweist hier auch auf eine schicksalhafte Ambivalenz: Die Befassung mit der Vielfalt neuer Körperbilder brachte nicht nur Sichtbarkeit, sondern führte zugleich zur Pathologisierung und erleichterte die staatliche Kontrolle.
Das vierte Ausstellungskapitel „Körper fühlen, Bilder sehen“ befasst sich mit neuen Vorstellungen von Körper, Geschlecht und Intimität, die ihren Ausdruck in der Kunst und Kultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden. In Literatur, Theater, Film und Bildender Kunst entstand ein Möglichkeitsraum, geschlechtliche Stereotypen infrage zu stellen und neue Körper- und Rollenbilder zu entwerfen. In Bars, Clubs und Varietés kamen Menschen mit alternativen Geschlechterbildern in Berührung. Vieles was heute als queer wahrgenommen wird, hat seinen Ursprung in dieser frühen queeren Ästhetik der 1920er-Jahre. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten, deren Ideologie „Andersartigkeit“ als volksgefährdend sah, wurde jede Form queeren Lebens bedroht. Ab 1934 wurden homosexuelle Männer durch die Gestapo verfolgt und der § 175 wurde drastisch verschärft. Bis 1945 wurden über 57.000 homosexuelle Männer verurteilt, bis zu 10.000 in Konzentrationslager verschleppt und mindestens die Hälfte von ihnen ermordet. Lesbischen Frauen und trans* Personen wurden mitunter andere Straftaten zur Last gelegt: etwa Prostitution oder Erregung öffentlichen Ärgernisses. Nicht wenige wurden aus politischen, sozialen oder rassistischen Gründen verfolgt.
Das Kapitel „Leben in der Diktatur“ zeigt, unter welchen Bedingungen queere Menschen während des Nationalsozialismus gelebt haben, wie sie sich anpassen, ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität verleugnen und teilweise ins Exil gehen mussten. Einzelne homosexuelle oder transidente Menschen entscheiden sich aber auch zu aktivem Widerstand gegen das NS-Regime. Die historischen Kapitel der Ausstellung werden im ersten Oberge-schoss des NS-Dokumentationszentrums präsentiert. Ergänzt wird die Ausstellung im Lernforum des Hauses durch eine Leselounge mit ausgewählter wissenschaftlicher Literatur zum Thema sowie der Station „Paul Hoecker: gefeiert, geoutet, vergessen“, die in Kooperation mit dem Forum Queeres Archiv München e.V. entstand. Paul Hoecker (1954-1910) prägte die Münchner Kunstszene des späten 19. Jahrhunderts als Künstler und Professor an der Akademie der Bildenden Künste. Nach seinem unfreiwilligen Outing als Homosexueller – im Modell seines gefeierten Werks Ave Maria wird ein Sexarbeiter erkannt – kündigte er seine Professur und zog sich aus der Kunstszene zurück. Sein Werk war lange Zeit vergessen.
Aktuelle künstlerische Positionen begleiten die historische Ausstellung. Sie sind als Interventionen im ganzen Haus zu finden. Die internationalen Künstler*innen begeben sich auf eine Spurensuche und loten eigene Formen des Erinnerns aus. Sie verweisen auf die Flüchtigkeit von Erinnerung, kombinieren Materialien aus verschiedenen Zeiten und machen verdrängte Geschichten sichtbar. Kontinuitäten von Diskriminierung und Verletzungen, aber auch der Zusammenhalt unter queeren Menschen werden thematisiert. Die Arbeiten wurden zum Teil eigens für die Ausstellung entwickelt.