Ansicht des Reliefs an der Außenfassade des Strafjustizzentrums München | © NS-Dokumentationszentrum München | Foto: Connolly Weber

Intervention

Künstlerische Intervention zum NSU-Prozess von Sebastian Jung

Strafjustizzentrum München 
ab 14. Juli 2020

Von 2013 bis 2017 hat vor dem Oberlandesgericht München das Hauptverfahren gegen die fünf Angeklagten im Zusammenhang mit den Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) stattgefunden. Die rechtsextremistische Terrorgruppe hatte über Jahre hinweg in Deutschland gemordet, Attentate und Überfälle verübt. Vor einigen Wochen wurde das mehr als 3.000 Seiten umfassende Urteil in dem nun in erster Instanz abgeschlossenen Strafprozess vorgelegt. Trotzdem sind viele Fragen zum NSU-Komplex nach wie vor unbeantwortet.

Der Künstler Sebastian Jung begleitete das Verfahren gegen den NSU vor dem Oberlandesgericht München mit Bleistift und Zeichenblock, seine Skizzen spiegeln den Blick der Beobachter*innen. Das anfänglich große Medieninteresse flaute über die vielen, zähen Verhandlungstage hinweg deutlich ab. Zeitweise erschienen Fragen nach Kleidung und Frisur der Hauptangeklagten präsenter als die Verbrechen selbst oder die Verstrickungen von Polizei und Verfassungsschutz in deren mühsamer Aufklärung. Aus den im Gerichtssaal des Strafjustizzentrums München angefertigten Zeichnungen zum Prozessgeschehen hat Sebastian Jung ein 2 mal 4 Meter großes Relief für die Fassade des Gebäudes geschaffen. Das Kunstwerk thematisiert die unbeantworteten Fragen, die der Prozess hinterlassen hat und den grundsätzlichen Umgang mit den Taten des NSU. In der Mitte des Reliefs befindet sich eine große Leerstelle – sie markiert den Ort, an dem üblicherweise die Zeug*innen befragt werden. Jung verweist dabei auf die Undarstellbarkeit der Verbrechen. Indem er die Perspektive der Prozessbeobachter*innen von der Empore des Sitzungssaals einnimmt, befragt er auch den Blick der Öffentlichkeit auf das Verfahren, in dem manche Beteiligte wie die Nebenkläger*innen zu wenig sichtbar waren.

Das Kunstwerk macht den Außenraum zum neuen Austragungsort und fordert damit zu einer dringend notwendigen öffentlichen Weiterbeschäftigung auf. Darüber hinaus regt die künstlerische Arbeit ein Nachdenken über die noch nicht absehbaren, langfristigen politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen des NSU-Komplexes an. Während den Künstler besonders die strukturellen Fragen hinter dem Komplex beschäftigen, will das NS-Dokumentationszentrum München mit der Intervention auch auf das Fehlen eines zentralen öffentlichen Orts, an dem an diese größte rechtsextremistische Mordserie der bundesdeutschen Geschichte erinnert wird, hinweisen.

Die Intervention an der Fassade sowie weitere Zeichnungen im Innenraum des Strafjustizzentrums sind Teil der von der Kulturstiftung des Bundes geförderten aktuellen Ausstellung Tell me about yesterday tomorrow des NS-Dokumentationszentrums München, ein interdisziplinäres Ausstellungsprojekt zur zeitgenössischen Kunst, angesiedelt zwischen Kunst, Wissenschaft, Erinnerungsarbeit, Bildung und Kultur. Mehr als 40 internationale Künstler*innen befassen sich in ihren Werken mit der Deutung von Vergangenheit und deren Anknüpfungen an unsere Gegenwart. Viele der gezeigten Werke sind neue Arbeiten, die sich mit aktuellen Themen beschäftigen. So auch Sebastian Jungs Zeichnungen, die seine Beobachtungen von Besucher*innen in den KZ-Gedenkstätten Dachau und Buchenwald, einer Großdemonstration ‚besorgter Bürger‘ 2018 in Chemnitz und dem Tätervideo des rechtsextremen Anschlags in Halle am 9. Oktober 2019 zeigen.

Sebastian Jung interessiert sich für die emotionale Mobilisierung von Massen, getragen von einer politischen Rhetorik, die allzu simple Feindbilder schürt. Er porträtiert weniger die individuellen Personen, die er in verzerrter oder überzogener Weise darstellt, sondern möchte deren Emotionen vermitteln, die ihm in der jeweiligen Situation begegnen. Jüngst hat Sebastian Jung mit seiner Online-Publikation Europa Eiswetter eine scharfsinnige Beobachtung der Gesellschaft während der Corona-Pandemie veröffentlicht (eiswetter.eu). Sebastian Jung (geboren 1987 in Jena) ist in Winzerla aufgewachsen, jener zu Jena gehörigen Plattenbausiedlung, die als Ausgangspunkt der Radikalisierung der drei NSU-Mitglieder bekannt wurde. 2015 hat er sich in der Arbeit Winzerla erstmals künstlerisch mit dem NSU beschäftigt. Jung lebt und arbeitet in Leipzig.