Digitales Geschichtsprojekt

Departure Neuaubing. Europäische Geschichten der Zwangsarbeit

Departure Neuaubing ist ein digitales Ausstellungsprojekt des NS-Dokumentationszentrums München zur Geschichte der nationalsozialistischen Zwangsarbeit und ihrer Auswirkungen bis in die Gegenwart. In Form einer interaktiven Web-App wird Geschichte durch künstlerische und erzählerische Formate zugänglich macht.

Digitale Medien bieten die Möglichkeit, Distanzen zu überwinden und transnationale wie transhistorische Verweise und Verknüpfungen aufzuzeigen. Mit der NS-Zwangsarbeit war die Verschleppung von Menschen aus vielen europäischen Ländern verbunden. Auch in München-Neuaubing als einem Zentrum der NS-Rüstungsindustrie (mit der ansässigen Reichsbahn und den Dornier-Werken), wurden Menschen aus den Gebieten der Sowjetunion, aus Polen, der Niederlande, Frankreich, Italien und weiteren Ländern zur Arbeit gezwungen. Das digitale Geschichtsprojekt Departure Neuaubing setzt an diesen historischen Zusammenhängen an und richtet den Blick auf die europäischen Verbindungslinien bis heute. Im Fokus steht dabei auch die Frage, was die historischen Erfahrungen für unsere Gegenwart bedeuten.

Ausgangspunkt bildet das Lager der ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerke in Neuaubing, eines der noch sehr wenigen erhaltenen materiellen Zeugnisse der NS-Zwangsarbeit. Bis 2025 entsteht dort ein neuer Erinnerungsort als Dependance des NS-Dokumentationszentrums. Departure Neuaubing begleitet den Entstehungsprozess und ermöglicht die partizipative Vermittlung von Wissen über den Ort, sowie die geschichtlichen, topographischen und internationalen Zusammenhänge der Zwangsarbeit.

Für die Web-Anwendung entstanden gemeinsam mit den Medienpädagog*innen von medialepfade, den Spiele-Entwickler*innen von Paintbucket Games, den Künstler*innen Fabian Bechtle und Leon Kahane, Sima Dehgani, Hadas Tapouchi, Barbara Yelin und Franz Wanner sowie mit dem Journalisten Alex Rühle und der Fotografin Alessandra Schellnegger sechs interdisziplinäre Projekte und Formate. Sie betrachten das Thema Zwangsarbeit aus unterschiedlichen Perspektiven und beschäftigen sich mit erzwungener Migration und Ausbeutung, Verlust und Erinnerung, Geschichtsnarrativen sowie Kontinuitäten der NS-Zeit.

Departure Neuaubing. Europäische Geschichten der Zwangsarbeit wurde entwickelt im Rahmen von dive in. Programm für digitale Interaktionen der Kulturstiftung des Bundes, gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) im Programm NEUSTART KULTUR. Studio operative.space hat die Web-Anwendung gestaltet.


Hadas Tapouchi: Memory in Practice

Allein im Stadtgebiet München befanden sich während des Zweiten Weltkriegs mehr als 400 Massenunterkünfte für Zwangsarbeiter*innen. Zum Teil wurden Baracken in unmittelbarer Nähe zu Arbeitsstätten oder auf den Firmengeländen errichtet, zum Teil wurden Schulen, Turnhallen oder Gasthäuser zu Unterkünften umfunktioniert. Heute ist von der Vielzahl der historischen Bauten so gut wie nichts mehr sichtbar. Departure Neuaubing bringt mit einer interaktiven Karte die Orte der Verfolgung und Ausbeutung zurück in das kollektive Gedächtnis der Stadt. Für Memory in Practice erkundete die Künstlerin Hadas Tapouchi 30 dieser Orte. Ihre Fotos machen deren ehemalige Präsenz im Stadtbild erfahrbar. Daran anknüpfend lädt die interaktive Stadtkarte die User*innen der App dazu ein, Veränderungen im urbanen Raum auch selbst zu dokumentieren und zu teilen. So entsteht eine Verbindung zwischen den physischen, historischen Orten und einem digitalen Erinnerungsraum. Hadas Tapouchi (*1981) beschäftigt sich in ihrer fotografischen und filmischen Arbeit mit historischen Bezügen und deren gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Forum DCCA: Fabian Bechtle & Leon Kahane: FREIHAM/NEUAUBING

Bis vor wenigen Jahren markierte das Gelände des ehemaligen Lagers der Reichsbahn in Neuaubing das Ende des Stadtgebiets von München. Der derzeit neu entstehende Stadtteil Freiham erweitert den urbanen Raum und entwirft Vorstellungen vom künftigen Zusammenleben. Dadurch rückt auch die historische Bedeutung der angrenzenden Orte wieder in den Blick: Zum einen das 1942 erbaute Zwangsarbeiter*innenlager der Reichsbahn, zum anderen die seit 1938 bestehende ‚Dornier-Siedlung‘, die Wohnraum für die deutschen Arbeiter*innen der in Neuaubing ansässigen Dornier-Werke bot. Gemeinsam mit dem Stadtteilmanager des Neubaugebiets Freiham, Daniel Genée, erkunden die Künstler Fabian Bechtle und Leon Kahane filmisch die Wechselbeziehungen zwischen Geschichte und Gegenwart im Münchner Westen. Das Forum demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst (Forum DCCA) ist ein Ort für künstlerische Kulturkritik. Es forscht, publiziert, veranstaltet öffentliche Formate und produziert künstlerische Beiträge. Das Forum wurde von Fabian Bechtle (*1980) und Leon Kahane (*1985) gegründet. Beide Künstler leben und arbeiten in Berlin.

Franz Wanner: Mind the Memory Gap

In der mehrteiligen Arbeit Mind the Memory Gap stellt Franz Wanner zwei Orte – Neuaubing und Ottobrunn – nebeneinander, die mit der nationalsozialistischen Rüstungsindustrie verbunden sind. Während an einem Ort die NS-Vergangenheit lange vergessen war und nun ein Erinnerungsort entsteht, wird sie am anderen Ort verdrängt. Im gleichnamigen Film Mind the Memory Gap inszeniert Wanner eine fiktive Guided Tour, in der Geschichte als Vermarktungsstrategie eingesetzt wird, bestimmte Aspekte in Szene gesetzt und andere vernachlässigt werden. Neben den beiden Filmen und den von ihm verfassten Texten regt Wanner die Diskussion von spezifischen Begriffen über ein interaktives Tool an, in dem Sprache als Mittel zur Schaffung von Realitätsvorstellungen reflektiert wird. Die User*innen können sich aktiv an der Verhandlung beteiligen. Franz Wanners (*1975) Installationen und Inszenierungen untersuchen Komplexe wie die deutsche Rüstungsindustrie sowie die Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der heutigen Gesellschaft. Er lebt und arbeitet in München.

Sima Dehgani: Jewmynka und die verlorene Zeit

In ihrer fotografischen Annäherung spürt Sima Dehgani der Geschichte des ukrainischen Dorfes Jewmynka nach. 1943 wurden fast alle Bewohner*innen des Ortes verschleppt, viele nach München und einige nach Neuaubing. Nach Kriegsende kehrten die meisten von ihnen zurück. Ihr Leben war jedoch niemals wieder wie vorher. Die Fotografin dokumentiert die Geschichten und Erinnerungen sowie aktuelle Lebensrealitäten von Zeitzeug*innen und ihren Familien. Eine besondere Rolle im familiären Gedächtnis nehmen dabei auch Gegenstände und Fotos ein, die für bestimmte Erfahrungen stehen, über die nicht gesprochen wurde. Dehganis Fotoserie vermittelt, dass sich Erinnerungen in vielfältigen Formen bewahren, und Objekte Geschichte aktivieren können. Sima Dehgani (*1985) arbeitet als freiberufliche Fotografin. Ausgangspunkt ihrer eigenen fotografischen Praxis sind meist Erfahrungen ihrer bikulturellen Identität. Sie lebt und arbeitet in München.

Alex Rühle: München, Monaco, Malgolo – und zurück

Die Geschichte der italienischen Militärinternierten ist heute größtenteils vergessen. Auch eine finanzielle Entschädigung erhielten sie nie. Im Herbst 2021 reisten der Journalist Alex Rühle, der Historiker Paul-Moritz Rabe und die Fotografin Alessandra Schellnegger durch Norditalien, um nach den Erinnerungen ehemaliger Militärangehöriger zu suchen, die während des Zweiten Weltkriegs als Kriegsgefangene Zwangsarbeit in München leisten mussten. Dabei trafen sie auf Söhne und Töchter, die von Trauma, Verlust und Vergessen berichten, aber auch von einem unbeabsichtigten Neuanfang und einem Dessert, das eine ganz besondere Rolle spielte. Alex Rühle (*1969) ist Kulturreporter im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung und Buchautor. Er lebt und arbeitet in München.

Paintbucket Games: Forced Abroad. Tage eines Zwangsarbeiters

Auf Grundlage des Tagebuchs eines ehemaligen niederländischen Zwangsarbeiters haben die Gamedesigner*innen von Paintbucket Games in Zusammenarbeit mit dem NS-Dokumentationszentrum das erste Spiel zum Thema NS-Zwangsarbeit entwickelt. Die Visual Novel Forced Abroad veranschaulicht, was die Zeit als Zwangsarbeiter in Neuaubing für den 19-jährigen Niederländer Jan Bazuin bedeutete. User*innen können den Verlauf des Games durch ihre eigenen Entscheidungen beeinflussen und erfahren dadurch auch etwas über mögliche historische und persönliche Handlungsspielräume. In einem Erinnerungsalbum können Hintergrundinformationen gesammelt werden, die zum Verständnis der komplexen Geschichte beitragen. Die Illustrationen stammen von der Comiczeichnerin Barbara Yelin. Das Buch Jan Bazuin. Tagebuch eines Zwangsarbeiters erscheint im Februar 2022 im Verlag C.H. Beck. Das Indie Studio Paintbucket Games wurde 2018 von Jörg Friedrich und Sebastian St. Schulz gegründet. Ziel ihrer Arbeit ist es, Videospiele zu entwickeln, die gesellschaftspolitisch relevante Themen behandeln und sich dabei auf eine starke Erzählung konzentrieren. Bekannt sind sie u.a. durch das vielfach ausgezeichnete Spiel Through the Darkest of Times.

Departure Neuaubing setzt die Geschichte der Zwangsarbeit auf unterschiedliche Weise in Beziehung zur Gegenwart und lädt zur Partizipation ein. Die Web-App nutzt ein breites Spektrum an Medien- und Vermittlungsformaten, um Zugänge für eine möglichst breite Gruppe an User*innen mit unterschiedlichen Vorerfahrungen und Online-Nutzungsgewohnheiten anzubieten. Sie greift aktuelle, in sozialen Netzwerken etablierte Entwicklungen wie Storytelling, Mediatisierung und Medienkonvergenz auf, die den Medienalltag insbesondere junger Menschen bestimmen. Die Inhalte sind unter departure-neuaubing.nsdoku.de lokal wie global verfügbar und ermöglichen eine aktive Auseinandersetzung mit den Themen Arbeit und Ausbeutung. Perspektivisch werden die Teilprojekte mit Workshops und Vermittlungsformaten vor Ort ergänzt. Auf diese Weise wirkt das Digitale ins Analoge zurück, Wissen und Inhalte werden kollektiv erarbeitet und in die Entstehung des neuen Erinnerungsortes in Neuaubing eingebunden. Dort, in der Ehrenbürgstraße 9, existieren große Teile des ehemaligen NS-Zwangsarbeiter*innenlagers, das sich heute durch seine vielfältigen Nachnutzungen auszeichnet. In zwei der acht noch erhaltenen Baracken entsteht ein öffentlicher Erinnerungsort mit Ausstellungen und Vermittlungsprogramm.

Departure Neuaubing wird von einem umfangreichen Begleitprogramm gerahmt. Dies beinhaltet unter anderem eine Comic-Werkstatt mit Barbara Yelin, einen Fotoworkshop mit Sima Deghani sowie eine Lehrerfortbildung zum Thema Historische Games im Unterricht. Am 23. Februar 2022 wird das Tagebuch von Jan Bazuin im NS-Dokumentationszentrum präsentiert.

 

Pressebilder

01 | Hadas Tapouchi, Excavation Site, Memory in Practice, 2021 | © Courtesy of the artist

02 | Forum DCCA: Fabian Bechtle und Leon Kahane, FREIHAM/ NEUAUBING, Filmstill, 2021 | © Courtesy of the artists

03 | Franz Wanner, Mind the Memory Gap, Filmstill, 2022 | © Courtesy of the artist

04 | Sima Dehgani, Jewmynka und die verlorene Zeit, 2021 | © Courtesy of the artist

05 | Alex Rühle, München, Monaco, Malgolo - und zurück | Foto: Alessandra Schellnegger

06 | Paintbucket Games, Forced Abroad. Tage eines Zwangsarbeiters, 2022, Still Visual Novel, Illustration: Barbara Yelin | © Courtesy of the artist

07 | Das ehemalige Zwangsarbeiter*innenlager in München-Neuaubing, 2014 | © NS-Dokumentationszentrum München, Foto: Jens Weber

08 | Departure Neuaubing. Europäische Geschichten der Zwangsarbeit, 2022, Screenshot | © NS-Dokumentationszentrum München

09 | Departure Neuaubing. Europäische Geschichten der Zwangsarbeit, 2022, Screenshot | © NS-Dokumentationszentrum München

10 | Departure Neuaubing. Europäische Geschichten der Zwangsarbeit, 2022, Screenshot | © NS-Dokumentationszentrum München

11 | Departure Neuaubing. Europäische Geschichten der Zwangsarbeit, 2022, Screenshot | © NS-Dokumentationszentrum München

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