Ausstellung

Materializing. Zeitgenössische Kunst und die Shoah in Polen

20. Okt. 2023 bis 25. Feb. 2024

Die neue Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums München Materializing untersucht die Praktiken zeitgenössischer polnischer Künstler*innen, die sich in ihren Arbeiten mit den Erinnerungen und materiellen Spuren des Holocaust auseinandersetzen. In der visuellen Kultur Polens ist die Shoah seit den 1940er-Jahren gegenwärtig – anfangs in Filmen, der Malerei, in grafischen Arbeiten und Skulpturen, und bis heute zunehmend auch in recherchebasierten Installationen, Videos und Performances. Die Werke sind Ergebnisse unterschiedlicher kreativer Herangehensweisen – sie sind Dokumentation, Gedenken, und Ausdruck von Trauer und Wut; zudem finden sich Arbeiten, die sich auf Rituale fokussieren, oder die politisierten Darstellungen von Ereignissen und Individuen sowie Manipulationen des kollektiven Gedächtnisses in den Blick nehmen. 

Die Künstler*innen Zuzanna Hertzberg, Elżbieta Janicka & Wojciech Wilczyk, Paweł Kowalewski, Agnieszka Mastalerz, Natalia Romik, Wilhelm Sasnal und Artur Żmijewski & Zofia Waślicka-Żmijewska widmen sich der Vielzahl an Lücken und Leerstellen sowohl materieller wie auch immaterieller Art, die der Verlust der nahezu gesamten jüdischen Bevölkerung Polens erzeugt hat. Der Titel der Ausstellung verweist auf die Konfrontation mit den wenigen materiellen Beweisen der in der Vergangenheit verübten Verbrechen und auf die Suche nach den Überbleibseln jener Leben, die nicht mehr gelebt werden können. 

In Polen gab es schon früh, noch während der deutschen Besatzung, erste künst-lerische Auseinandersetzungen mit dem Holocaust. ‚Holocaust-Kunst‘ entstand in den Arbeiten polnischer Künstler*innen sowie auch in den Ghettos von Warschau und Łodź, später von den Überlebenden der Shoah. Die Sprache, die in diesen frühen Werken zum Ausdruck kam, rief starke Emotionen hervor: sie war expressiv und zugleich darauf bedacht, jeden Pathos zu vermeiden. Der schöpferische Akt war eine Form der Selbsttherapie. Andere Werke standen in Beziehung zu tragischen Ereignissen, die die Künstler*innen selbst erlebt hatten – und dabei der eigenen Vernichtung häufig nur um Haaresbreite entgangen waren. Zeichnungen und Drucke, die in den Konzentrationslagern entstanden, bedienten sich häufig der ‚fratzenhaften Übersteigerung‘. Ihre künstlerische Sprache hatte sich inmitten einer Welt entwickelt, die ganz und gar aus den Fugen geraten war. 

Die Werke, die nach dem Krieg entstanden, waren anders. Sie versuchten die begangenen Verbrechen zu dokumentieren, die Widerstandskämpfer*innen zu würdigen und Symbole und Metaphern für das Menschheitsverbrechen und den Zivilisationsbruch Auschwitz zu finden, die einen Eindruck von der Katastrophe vermitteln konnten – einer Katastrophe, die das allgemeine Vertrauen in die menschliche Natur zutiefst erschütterte und alle zuvor selbstverständlichen Wahrheiten, seien sie moralischer, religiöser oder zivilisatorischer Art, zunichte gemacht hatte. Im Schatten ethischer Fragestellungen wie der, ob man nach Auschwitz überhaupt noch ein Gedicht schreiben kann, tauchten Hunderte oder gar Tausende von Darstellungen auf, die sich mit dem Holocaust auf verschiedene künstlerische Weise auseinandersetzen. 

Diese unterschiedlichen künstlerischen Techniken und Stile kommen auch in den Werken der Ausstellung Materializing zum Ausdruck. Allen Arbeiten gemeinsam ist die von den Künstler*innen verwendete Strategie: Der jeweiligen Gestaltung ging eine gründliche, in einigen Fällen wissenschaftliche, in anderen Fällen auch physische, Recherche des Themas voraus. Die meisten Werke stellen die im Ausstellungstitel genannte materielle Form in einen zeitgenössischen Kontext und verzichten auf symbolische Darstellungen oder Metaphern. Platziert in der permanenten Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums hat jede Arbeit einen Bezug zur Shoah auf polnischem Boden. 


Künstler*innen und Werke

Zuzanna Hertzberg, Mechitza. Individual and Collective Resistance of Women During the Shoah, 2019-2022

Die Installation Mechitza ist ein prägnantes Beispiel dafür, wie Hertzberg ihre diversen Aktivitäten als Künstlerin, Forschende, Aktivistin und Performerin miteinander verbindet. Unterschiedliche Bilder werden kombiniert und zu komplexen Erzählungen verwoben. Sie bieten Einblick in die Geschichten und Rollen, die jüdische Frauen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, während des Holocaust und in einigen Fällen auch später spielten. In den Geschichten dieser Frauen offenbart sich die ganze Stärke, Entschlossenheit und auch die feministische Einstellung der präsentierten Heldinnen. Das hebräische Wort ‚mechitza‘ bedeutet Teilung oder Trennung und nimmt insbesondere auf die Separierung von Männern und Frauen in der Synagoge Bezug.

Zuzanna Hertzberg (geb. 1981) ist interdisziplinäre Künstlerin, Aktivistin und Forschende. Ihre künstlerische Arbeit umfasst Malerei, Performance, Textilien und Assemblagen. Sie studierte an der Akademie der Bildenden Künste in Łódź und erwarb ihren Doktortitel an der Akademie der Bildenden Künste Warschau. Zuzanna Hertzbergs Interesse gilt Installationen und Collagen, die sie mithilfe von archivalischen Materialien realisiert. In ihrer Praxis untersucht sie, wie individuelle und kollektive Erinnerungen ineinandergreifen, und begibt sich auf Identitätssuche, indem sie sich den Vermächtnissen von Minderheiten – insbesondere Frauen – annimmt und Vergessenes ans Tageslicht bringt. Zu ihren jüngsten Ausstellungen zählen Präsentationen im Center for Jewish History in New York City und in öffentlichen Ausstellungsräumen in Polen.

Elżbieta Janicka & Wojciech Wilczyk, The Other City (Inne Miasto), 2011–2013

Die Serie The Other City besteht ursprünglich aus 28 Fotografien. Janicka und Wilczyk nutzten eine Großformatkamera, um von Häuserdächern und aus den obersten Geschossen von Gebäuden zu fotografieren. Das Ergebnis ist eines der entschiedensten zeitgenössischen Kunstprojekte zur Geschichte Warschaus, dem es gelingt, Vergangenheit und Gegenwart in Bezug zueinander zu setzen. Gegenstand dieser fotografischen Untersuchung ist das Gebiet des ehemaligen Warschauer Ghettos, das nach dem Aufstand im Ghetto (1943) in Brand gesteckt und von der deutschen Armee dem Erdboden gleichgemacht wurde, und heute massiven städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen ausgesetzt ist. Die in einem strengen, dokumentarischen Stil realisierte Serie ist ein Versuch, die riesige Fläche, über die sich das Ghetto erstreckte, visuell zu dokumentieren. 

Elżbieta Janicka (geb. 1970) ist Wissenschaftlerin und Künstlerin. Sie absolvierte ein Studium an der Université Paris VII Denis Diderot und der Universität Warschau. In ihrer fotografischen Arbeit, die in den avantgardistischen Praktiken der 1970er-Jahre und der Konzeptkunst verwurzelt ist, wie auch in ihrer Forschungsarbeit setzt sich Janicka mit der identitäts- und gemeinschaftsbildenden Funktion des polnischen Antisemitismus sowie der Position und Rolle der polnischen Mehrheit im System Holocaust auseinander. Sie arbeitet am Institut für Slavistik der Polnischen Akademie der Wissenschaften.

Wojciech Wilczyk (geb. 1961) ist einer der einflussreichsten Fotografen Polens. Wilczyk machte seinen Abschluss in Polonistik an der Jagiellonen-Universität in Krakau, veröffentlichte Gedichte, bebilderte Bücher und Fotobände. Wilczyk, der von Anbeginn seiner Karriere als Fotograf aktiv war, repräsentiert einen realistischen Stil. In seinen Fotografien entsteht eine imposante Ikonosphäre, die ein umfassendes Bild des zeitgenössischen Polens zeichnet. Wilczyk arbeitet oft über lange Zeit an seinen fotografischen Serien, für die er unbekannte Orte aufsucht und vergessene oder verdrängte Erinnerungen ans Tageslicht bringt.

Paweł Kowalewski, Strength and Beauty. A Very Subjective History of Polish Mothers (Polnishe Mame), 2015

2015 schuf Kowalewski eine Serie aus verschwindenden Bildern, Strength and Beauty. A Very Subjective History of Polish Mothers. Es sind großformatige Portraits von Frauen jüdischer Herkunft, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs lebten, darunter auch ein Portrait der Mutter des Künstlers, die eine aktive Rolle beim Aufstand im Warschauer Ghetto spielte. Für den Druck wurde eine besondere Tinte verwendet, die im Laufe der Zeit gänzlich verblasst, wodurch die Portraits in zunehmend abstraktere Schatten verwandelt werden, je länger man sie betrachtet. Die Arbeiten sind ein Kommentar zur menschlichen Tendenz, der Geschichte mit Vergessen, Missachtung oder gar Hass zu begegnen.

Paweł Kowalewski (geb. 1958) ist einer der führenden Maler und Multimedia-Künstler Polens. Auch als Mitbegründer der legendären Warschauer Gruppa, die Mitte der 1980er-Jahre die Richtung der Malerei in Polen änderte, machte er sich einen Namen. Er studierte bei Stefan Gierowski und machte seinen Abschluss an der Warschauer Kunstakademie. Seine Arbeiten oszillieren zwischen expressiver Malerei und konzeptuellen Bildern und offenbaren häufig die Absurditäten von Mechanismen, die in der Welt zu beobachten sind. Seine Werke wurden in zahlreichen Museen und Galerien in Europa gezeigt und sind in vielen öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten.


Agnieszka Mastalerz, UZ, 2020

Die Projektion bezieht sich auf eine Wandmalerei, die Symche Trachter (1893-1942) im Gebäude des Warschauer Judenrats 1942 realisiert hatte. Im Zuge der ‚Liquidierung‘ des Warschauer Ghettos wurde das Gebäude zusammen mit der Malerei zerstört und Trachter im Vernichtungslager Treblinka ermordet. UZ besteht aus einer Projektion von mehr als einem Dutzend Echogrammen, die Mastalerz von den Wänden eines Konferenzraums in einem modernen Warschauer Hotel in der Grzybowska Straße aufgenommen hat. Das Hotel steht heute in der Nähe des Ortes, an dem sich bis 1942 das Gebäude des Judenrats befand. Die Echogramme nehmen auf das letzte Werk Bezug, das Trachter geschaffen hatte und das die biblische Figur des Hiob zeigte. 

Agnieszka Mastalerz (geb. 1991) ist Multimediakünstlerin und lebt in Warschau. Sie war Studentin in Mirosław Bałkas Studio für räumliche Aktivitäten an der Akademie der Bildenden Künste in Warschau, studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig und der HFBK in Hamburg und machte schließlich ihren Abschluss in Kulturwissenschaftan der Universität Warschau. Sie arbeitet in den Medien Fotografie, Video und Installationen und nutzt ihren unverwechselbar poetischen und subtilen Stil, um Themen zu evozieren, die von Emotionen durchdrungen sind.


Natalia Romik, Hideouts. The Architecture of Survival. Vacant lot in the Jewish Cemetery (Warsaw, Poland), 2022

Die Arbeit ist Teil eines größeren Zyklus, der die Ergebnisse von Romiks intensiven Nachforschungen zu den unterschiedlichen Zufluchtsstätten (Hideouts) und Verstecken von Jüdinnen und Juden während des Zweiten Weltkriegs in Polen und der Ukraine zeigt. Viele dieser Orte suchte Romik selbst auf, um sich auch physisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Die gezeigte Arbeit basiert auf ihren Recherchen zu einem Versteck im Jüdischen Friedhof in Warschau, wo Bewohner*innen des Ghettos 1942 Zuflucht fanden. In ihrer künstlerischen Praxis macht Romik von einer Vielzahl an Techniken Gebrauch, um daraus ein umfassendes Ganzes zu erschaffen, das voller Emotionen und Erinnerungen an lang vergessene, dramatische Ereignisse ist.

Natalia Romik (geb. 1983) ist Künstlerin, Wissenschaftlerin und Kuratorin. Sie erwarb ihren MA an der Universität Warschau und ihren PhD an der Bartlett School of Architecture am University College London und ist derzeit Postdoktorandin an der Fondation pour la Memoire de la Shoah in Paris. Romik selbst sieht sich als „politische Wissenschaftlerin, Architektin und Autorin wissenschaftlicher und künstlerischer Projekte“. Ihre Kunst beschreibt sie als „künstlerische Forschungsarbeit, die auch Architektur, Jüdische Studien, Geschichte und Design mit einbezieht“. 


Wilhelm Sasnal, First of January, 2021 I Ohne Titel Untitled (Ghetto in Tarnów), 2021 I Ohne Titel Untitled (Auschwitz – Alina Szapocznikow), 2021

Die drei Malereien verweisen auf den Holocaust – manchmal auf direkte Art, mitunter auch andeutungsweise, wie es in dem sehr beziehungsreichen Oeuvre des Künstlers häufig der Fall ist, wenn Sasnal Bilder hervorruft, die Teil des kollektiven visuellen Gedächtnisses sind. 

First of January ist Teil einer Serie. Als Ausgangspunkt dienten Fotografien, die der Künstler aus dem Auto aufnahm, als er nach einem Neujahrsfest gemeinsam mit seiner Frau an der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau vorbeifuhr. 

Ohne Titel (Ghetto in Tarnów) nimmt auf eine Fotografie Bezug, die im März 1942 im Ghetto Tarnów entstanden war. Die damals vom Naturhistorischen Museum Wien in Auftrag gegebene fotografische Aufnahme war Teil einer pseudowissenschaftlichen, rassistischen Studie, die dem Zweck dienen sollte, die jüdische Bevölkerung zu klassifizieren. 

Ohne Titel (Auschwitz – Alina Szapocznikow) thematisiert das Erinnern an den Holocaust als höchst komplexen Akt, sofern dies in offizieller Form geschieht, beispielsweise in Form öffentlicher Ausschreibungen für Kunst-, Mahnmal oder Gedenkprojekte. Die Idee geht auf ein Foto des bekannten polnischen Designers Roman Cieslewicz zurück, der seinerseits das Projekt für ein Mahnmal in Auschwitz-Birkenau dokumentierte, das von der Künstlerin Alina Szapocznikow konzipiert worden war.

Wilhelm Sasnal (geb. 1972) ist Maler, Fotograf, Plakatkünstler, Illustrator, Filmemacher, und einer der prominentesten zeitgenössischen Künstler Polens. Sasnal machte seinen Abschluss in Malerei an der Kunsthochschule in Krakau. Seine Werke sind in zahlreichen Sammlungen vertreten, einschließlich der Tate Modern London oder dem Guggenheim Museum sowie dem Museum of Modern Art in New York. Seine jüngste Ausstellung, Such a Landscape (2021) im POLIN Museum in Warschau, war der Erinnerung an die Shoah gewidmet.


Artur Żmijewski & Zofia Waślicka-Żmijewska, We‘ve Been Looking in Ashes, 2021–2022

Thema der Foto- und Videoinstallation sind Objekte, die im Bereich des ehemaligen Warschauer Ghettos aus dem Boden geborgen wurden. Sie gelangten im Zuge archäologischer Arbeiten auf der Baustelle des Museums der Geschichte der polnischen Juden POLIN ans Tageslicht. Żmijewski und Waślicka-Żmijewska waren eingeladen, mit den zahlreichen Alltagsgegenständen oder dem, was davon noch übrig war, zu arbeiten – den materiellen Hinweisen auf die Leben anonymer Personen, die zum Tode verdammt wurden, weil sie jüdisch waren. In den konkreten Kontext ähnlich benutzbarer Dinge eingefügt, die in der heutigen Alltagsrealität friedlich ihre Funktion erfüllen, erzeugen die Objekte einen eindrucksvollen Kontrast zwischen den ‚Lebenden‘ und ‚Toten‘.

Artur Żmijewski (geb. 1966) ist Multimedia- und Videokünstler und einer der füh-renden Vertreter der kritischen Kunst Polens. Er machte seinen Abschluss an der Kunstakademie Warschau in der legendären Klasse Kowalnia und trat unlängst als Mitverfasser des Buches How to Teach Art (2022) hervor. Neben zahlreichen anderen Projekten war Żmijewski Kurator der 7. Berlin Biennale (2012). Artur Żmijewski gilt als einer der renommiertesten Künstler Polens; sein Werk wurde mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt.

Zofia Waślicka-Żmijewska (geb. 1984) erforscht Praktiken des Erinnerns an den Holocaust, kuratiert Kulturveranstaltungen und engagiert sich im Bereich Bildung. Sie studierte am Institut für Soziologie an der Universität Warschau. Neben ihrer Tätigkeit als Koordinatorin der internationalen Projekte, die vom Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau im Rahmen des 70. Jahrestags der Befreiung des Lagers mitorganisiert wurden, ist sie Vermittlerin an der Stiftung Forum for Dialogue sowie Pädagogin am Museum der Geschichte der polnischen Juden POLIN.