Ausstellung

„Wichtiger als unser Leben“. Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos

29. Juni 2023 bis 7. Jan. 2024

Zusammen mit dem Jüdischen Historischen Institut Emanuel Ringelblum in Warschau widmet sich das NS-Dokumentationszentrum München in der Ausstellung Wichtiger als unser Leben dem Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos, das von einzigartiger historischer Bedeutung, aber doch weitgehend unbekannt ist. Die vom Jüdischen Historischen Institut verwahrte Sammlung ist ein herausragendes Beispiel jüdischer Selbstbehauptung während der Shoah. Sie ist ein Akt zivilen Widerstands und einer der ersten Versuche, den von Deutschen initiierten Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Europas im Moment des Geschehens systematisch zu dokumentieren und zu archivieren.

Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen beginnt im September 1939 der Zweite Weltkrieg. NS-Deutschland weitet seine antijüdische Politik auf die eroberten Gebiete aus und sperrt die jüdische Bevölkerung in Ghettos ein. In Warschau, der bedeutendsten jüdischen Gemeinde in Europa und einem Zentrum des kulturellen Lebens, entsteht das größte Ghetto. Die deutschen Besatzer riegeln 1940 einen Teil der Stadt ab und verschleppen die jüdische Bevölkerung Warschaus und umliegender Gemeinden dorthin. Im Bewusstsein dieses Geschehens und der Dringlichkeit, es für die Mit- und Nachwelt zu dokumentieren, initiiert der Historiker Emanuel Ringelblum ein beispielloses Sammlungsprojekt im Ghetto. Über mehr als zwei Jahre hinweg sammelt und erstellt eine im Geheimen arbeitende Gruppe von jüdischen Akademiker*innen, Schriftsteller*innen und Aktivist*innen, die sich Oneg Schabbat (‚Freude des Sabbat‘) nennt, Zehntausende von Dokumenten über das Leben und Sterben im Ghetto: Das Oneg Schabbat- oder Ringelblum-Archiv entsteht. Die Ausstellung Wichtiger als unser Leben erzählt von diesem Unterfangen und zugleich von der vielfältigen jüdischen Gemeinschaft im Ghetto, ihrer Verfolgung und Vernichtung.

Das ursprüngliche Ziel der Gruppe Oneg Schabbat war es, das Leben im Ghetto unter der deutschen Besatzung zu dokumentieren. Jüdinnen und Juden aus Warschau und weiteren polnischen Regionen, jüdische Deportierte aus Deutschland und den besetzten Gebieten sowie aus anderen Ghettos nach Warschau Geflüchtete waren dort unter unmenschlichen Umständen zusammengedrängt. In der bedrückenden Enge des abgeriegelten Ghettos inmitten der Warschauer Innenstadt versuchten sie zu überleben. Bis zu 460.000 Männer, Frauen und Kinder waren dort zusammengepfercht; rund 100.000 von ihnen starben an Hunger und Krankheiten.

Ab 1941/42 wurde zunehmend offenbar, wohin die deutsche Besatzungspolitik führte. Im Rahmen der „Aktion Reinhardt“, die auf die Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 folgte und auf die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung in den deutsch besetzten Gebieten Polens zielte, ordneten die deutschen Behörden im Juli 1942 die „Umsiedlung der Warschauer Juden in den Osten“ an. ‚Umsiedlung‘ bedeutete dabei nichts anderes als den Tod. Mehr als 300.000 Menschen wurden vom Warschauer Ghetto aus in die nationalsozialistischen Vernichtungslager deportiert und ermordet.

Den Mitgliedern von Oneg Schabbat wurde bewusst, dass sie die deutsche Besatzung sehr wahrscheinlich nicht überleben würden. Unter dem Eindruck der mörderischen Maschinerie der Shoah begann sich die Sammlungstätigkeit der Gruppe zu verändern: Sie richtete ihren Fokus nun ganz darauf, den organisierten Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden in den deutschen Vernichtungslagern im Osten für die Nachwelt zu dokumentieren. Gesammelt wurden Beschreibungen von Deportationen, Hinrichtungen, Folter und von der Vernichtung ganzer jüdischer Gemeinden, die Warschaus mit eingeschlossen. Von den ungefähr 60 Mitarbeiter*innen von Oneg Schabbat – die genaue Zahl steht bis heute nicht fest – überlebten nur drei die Shoah. Ein Großteil des Archivs jedoch, rund 35.000 Seiten, überdauerte den Krieg, versteckt und vergraben in Blechkisten und Milchkannen, unter den Ruinen des Ghettos.

Die Ausstellung Wichtiger als unser Leben konzentriert sich auf die Zeugnisse aus dem Archiv. Indem sie die Überlieferung aus dem Oneg Schabbat- Archiv ins Zentrum der Präsentation stellt und die Dokumente und Fotos für sich sprechen lässt, bietet sie eine radikale Innensicht des Ghettos aus jüdischer Perspektive. Auf diese Weise ergibt sich ein dichtes und facettenreiches Bild des Lebens, Leidens und Sterbens im Ghetto. Neben Reproduktionen von Archivmaterial und historischen Filmausschnitten sind rund ein Dutzend Original-Exponate aus dem Archiv in der Ausstellung zu sehen. Sie alle spiegeln die große Bandbreite der gesammelten und produzierten Dokumente wider: Tagebücher, Berichte, Statistiken, Briefe, Lebensmittelkarten, Fotografien, deutsche Zeitungen, jüdische Untergrundzeitschriften und sogar Bonbonpapier – all diese Zeugnisse senden Botschaften von unterschiedlicher Schwere aus dem einer Zeitkapsel gleichenden Archiv. An Audiostationen sind zeitgenössische Texte aus dem Ghetto zu hören, die von Schauspieler*innen der Münchner Kammerspiele eigens für die Ausstellung eingesprochen wurden. Sie verleihen den Stimmen aus dem Ghetto eine beeindruckende Präsenz. 

Wichtiger als unser Leben macht das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos als Akt des Widerstands begreifbar: als einen unendlich müheund qualvollen, aber letztlich erfolgreichen Versuch, die Geschichte der Shoah von jüdischer Seite aus zu schreiben, der Auslöschung des polnischen Judentums zum Trotz.

Die Ausstellung ist gemeinsam mit dem Jüdischen Historischen Institut Emanuel Ringelblum in Warschau realisiert worden, welches das Archiv bis heute bewahrt und verwaltet. Das 1947 gegründete Institut widmet sich der Geschichte und Kultur der Jüdinnen und Juden in Polen und ist neben Yad Vashem und dem United States Holocaust Memorial Museum eine der wichtigsten Forschungseinrichtungen zum Holocaust. Das Ringelblum- Archiv, das Eigentum der Gesellschaft des Jüdischen Historischen Instituts in Polen ist, ist eine seiner wertvollsten Sammlungen. Seit 1999 ist es Teil des UNESCO-Weltkulturerbes.