Plakataktion Wo es begann am Odeonsplatz, 9. November 2019 | © NS-Dokumentationszentrum München, Foto: Connolly Weber Photography

Wo es begann. Antisemitismus in München 1919–23 Intervention

Ein Projekt des NS-Dokumentationszentrums München in Zusammenarbeit mit Studierenden der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München aus Anlass des 9. Novembers 2019.

Die Idee zu diesem Projekt entstand im Zusammenhang mit einer Übung am Historischen Seminar der LMU im Sommersemester 2019 zum Thema meines eben erschienenen Buches Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918-1923.

In Zusammenarbeit mit dem NS-Dokumentationszentrum München entwarfen zwölf Studierende eine Reihe von Plakatmotiven zur Präsentation im öffentlichen Raum (sichtbar von 1. bis 11. November 2019 am Odeonsplatz in München) und verfassten erläuternde Texte für die Webseite des Dokumentationszentrums. Es ging uns in diesem Projekt darum, zu verdeutlichen, dass die gewalttätigen Formen des Antisemitismus nicht erst 1933 begonnen haben und dass München bei dieser Entwicklung eine ganz zentrale Rolle gespielt hat.

München bot nach dem Ersten Weltkrieg die Bühne für ganz ungewöhnliche Protagonisten. Darunter waren mit Kurt Eisner der erste jüdische Ministerpräsident eines deutschen Staates sowie jüdische Schriftsteller wie Gustav Landauer, Ernst Toller und Erich Mühsam als Träger zweier Räterepubliken ebenso wie eine eher konservative jüdische Gemeinde. Nach Niederschlagung der Räterepubliken wurde München aber rasch zum Mittelpunkt nicht nur der nationalsozialistischen Bewegung, sondern auch des Antisemitismus im Deutschen Reich. Hier gab es bereits Anfang der zwanziger Jahre einen Nationalsozialisten als Polizeipräsidenten, antijüdische Tendenzen in Politik, Presse und Kirche sowie Versuche der Judenausweisungen und offene Gewalt gegen jüdische Bürger auf der Straße. Die „Stadt Hitlers“, wie Thomas Mann die bayerische Landeshauptstadt bereits im Juli 1923 nannte, bildete das ideale Testgelände für den politischen Aufstieg der hier gegründeten nationalsozialistischen Bewegung.

Leider haben die Ereignisse von damals auch heute wieder einen aktuellen Bezug. Überfälle auf Menschen, die in der Öffentlichkeit als Juden erkennbar sind, Anschläge auf Synagogen wie auch fremdenfeindliche Gewalt haben in den letzten Jahren bedrohliche Ausmaße angenommen. Ohne einen direkten Vergleich zu der genau ein Jahrhundert zurückliegenden Vergangenheit ziehen zu wollen, ist es doch wichtig, zu verstehen, wohin die zunächst von extremistischen Randgruppen ausgehende Gewalt führen kann, wenn sie in die Mitte der Gesellschaft eindringt.

Ich möchte mich bei Kirstin Frieden, Ilona Holzmeier, Julia Schneidawind, Ulla-Britta Vollhardt sowie Mirjam Zadoff herzlich für die Unterstützung bei der Umsetzung dieses Projekts bedanken.

Michael Brenner
München, im Oktober 2019

„Irgendetwas braut sich in Bayern zusammen und niemand scheint genau zu wissen, was dies ist.“

Diesen Satz schrieb der amerikanische Botschafter in Berlin, Alanson B. Houghton, am 8. November 1922 in sein Tagebuch. Man kann davon ausgehen, dass Houghton ahnte, was dieses „Irgendetwas“ war. Anfang der 1920er Jahre erreichte der – zweifellos immer dagewesene – Antisemitismus in Bayern eine bis dato ungekannte Dimension. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 und der Revolution von 1918/19 wurde vor allem in Bayern die jüdische Bevölkerung zum Sündenbock erklärt.

Überall im Freistaat – in München im Besonderen – herrschte eine Stimmung des radikalen Wandels. Die Schriftstellerin Isolde Kurz schrieb bereits im Sommer 1919 vom „Ende der Münchner Lebenslust“. Rilke bezeichnete die Stadt als einen „Ausgangspunkt von Beunruhigung“. Beunruhigt durften nun vor allem die Juden in der Stadt sein. Diese Beunruhigung sollte sich sehr schnell als berechtigt erweisen.

Die Hetze gegen Juden wurde nun allgegenwärtig. Ganz besonders waren Juden mit osteuropäischen Wurzeln betroffen. Wegen kleinster Vergehen – sofern überhaupt etwas gegen sie vorlag – konnten sie aus Bayern abgeschoben werden oder der Zuzug nach Bayern wurde ihnen verwehrt. Es herrschte eine Pogromstimmung, die vom Staat mitgetragen wurde. Ernst Pöhner, Polizeichef von München, hielt es im August 1921, als in München gegen die Lebensmittelteuerung demonstriert wurde, nicht für ausgeschlossen, dass „einige Juden aufgehängt werden“.

Der amerikanische Generalkonsul in München berichtete im Dezember 1923 an das Außenministerium in Washington, selbst der bayerische Ministerpräsident Eugen von Knilling hätte ihm gegenüber geäußert, „das jüdische Element“ sei für „einen großen Teil des deutschen Unglücks und der wirtschaftlichen Not“ verantwortlich.

In der ganzen Welt vernahm man die Entwicklung in Bayern mit großer Sorge.

Patrick Christopher Richardt

 

Quellen
Alanson B. Houghton, Tagebucheintrag vom 8.11.1922, zit. nach: Nagorski, Andrew, Hitlerland. American Eyewitnesses to the Nazi Rise of Power, New York 2012, S. 22
Kurz, Isolde, Aus den Tagen der Münchener Räterepublik, in: Neue Freie Presse vom 11.7.1919, Morgenblatt, Nr. 19712, S. 1f.
Report by Consul General in Munich to Secretary of State, 13.12.1923. USNA, Records of the Department of State Relating to Internal Affairs of Germany, 1910-29 / Microcopy 336 / Roll 79 862.00 862.4016
Rilke, Rainer Maria, Briefe zur Politik, hg. von Joachim W. Storck, Frankfurt am Main 1992, S. 268

Literaturauswahl
Brenner, Michael, Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923, Berlin 2019
Walter, Dirk, Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn 1999

Foto: gemeinfrei

„Unsere Existenz in Deutschland wird, so entsetzlich es klingt, in Frage gestellt.”

So schätzte eine Delegation des Verbands Bayerischer Israelitischer Gemeinden bereits am 8. April 1922 gegenüber der bayerischen Regierung die Situation im Land ein. Die antisemitische Stimmung in Bayern und ganz Deutschland hatte sich langsam, aber stetig entwickelt. Angefangen bei Briefen mit offen ausgesprochenen Drohungen gegenüber jüdischen Mitbürgern bis zu Gewalttaten auf offener Straße.

Auch Dr. Alfred Neumeyer (1867–1944) hatte diese Entwicklung miterlebt. Neumeyer leitete die Israelitische Kultusgemeinde München mit etwa 10.000 Mitgliedern. 1920 gründete er den Verband Bayerischer Israelitischer Gemeinden und war bis 1938 auch deren Präsident. In diesem Verband war der größte Teil der jüdischen Gemeinden Bayerns organisiert, die für Neumeyer als „die Urzelle des religiösen Lebens“ galten. Ab 1925 besaß der Verband mit der „Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung“ auch eine eigene Zeitung, deren Schriftleitung unter anderen der Autor und Jurist Ludwig Feuchtwanger innehatte. 1937 musste die Zeitung aufgrund der immer stärker werdenden Repressionen seitens der nationalsozialistischen Regierung eingestellt werden. Nach den Pogromen im November 1938 folgte dann auch die Auflösung des Verbandes.

Verheiratet war Neumeyer mit Elise Neumeyer, geborene Lebrecht. Auch sie war stark in die Gemeindearbeit involviert, doch als sich die Lage für die Juden in Deutschland immer weiter verschlechterte, beschloss das Ehepaar 1941, seinem Sohn Alexander nach Argentinien zu folgen, der bereits seit 1938 dort lebte. Dort starb Elise 1943, ein Jahr später dann auch Alfred, nachdem er seine Erinnerungen niedergeschrieben hatte.

„Sie wußten nicht, was ihnen in ihrem Alter bevorstehen sollte. Immer fühlten sie sich ganz als Deutsche, nie hatten sie Zweifel an ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Volk. Mit vollem Herzen liebten sie ihre Heimat.“ Dies schrieb Alexander Neumeyer über seine Eltern und deren Konflikt, ihre eigentliche Heimat und auch ihre Gemeinde, die sie in Deutschland und in München sahen, verlassen zu müssen.

Johanna Schmidt


Quelle
Verband Bayerischer Israelitischer Gemeinden an Ministerpräsident Hugo Graf von und zu Lerchenfeld, 30.4.1922, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, MA 102386

Literaturauswahl
Neumeyer, Alfred, Erinnerungen, in: Neumeyer, Alfred/Neumeyer, Alexander Karl/Noy-Meir, Imanuel, „Wir wollen den Fluch in Segen verwandeln“. Drei Generationen der jüdischen Familie Neumeyer. Eine autobiographische Trilogie, hg. von Robert Schopflocher und Rainer Traub, Berlin 2007

Foto: © Yad Vashem

„Die Ostjuden sind und bleiben ein schädlicher Fremdkörper im deutschen Volke.“

Mit diesen Worten läutete der Münchner Polizeipräsident Ernst Pöhner am 8. Dezember 1919 seinen persönlichen Feldzug gegen die jüdische Bevölkerung Bayerns ein. Insbesondere die seit den 1890er Jahren aus Osteuropa zugewanderten sogenannten ‚Ostjuden‘ erregten den ab Mai 1919 tätigen Polizeichef auf unvergleichliche Weise. Um das rigide behördliche Vorgehen gegen die verhasste Gruppe zu legitimieren, bediente Pöhner nebst Gefolge ein allzu einfaches Narrativ: Die Ostjuden bewegten sich überwiegend im ultralinken Milieu, sie hegten aufrührerische, wenn nicht gar umstürzlerische Tendenzen und sie seien die personifizierte Ursache der Revolution gewesen. Man dürfe weiteren Destabilisierungen von links keinen Vorschub leisten, weswegen ein hartes Durchgreifen geboten sei – am besten mittels von Ausweisungen im großen Stil.

Doch obwohl der Antisemit Pöhner nichts unversucht ließ, um die osteuropäischen Juden als Unruhestifter zu brandmarken, blieben die ersten Ausweisungsversuche unter seiner Führung weitestgehend erfolglos. Anteil daran hatten nicht nur die jüdischen Interessenverbände, die sich den Plänen der Polizei beherzt entgegenstellten, sondern auch die Zurückhaltung der SPD-geführten Landesregierung. Aus den Quellen geht überdies deutlich hervor, dass selbst auf der Führungsebene der Polizei kein Konsens über Art, Umfang und Natur der Ausweisungen bestand.

Erst als mit dem sogenannten Kapp-Putsch in Berlin vom Frühjahr 1920 das Ende der SPD-Landesregierung besiegelt und Gustav von Kahr zum bayerischen Ministerpräsidenten gewählt wurde, stieß Pöhner auf offene Ohren. Nur vier Tage nach Kahrs Amtsantritt wurde einer neuen Fremdenverordnung der Weg geebnet. Der Beschluss zielte vor allem auf Gängelung ab und vergiftete das gesellschaftliche Klima. Nichtsdestoweniger blieben die staatlichen Ausweisungsaktionen in ihrem Ausmaß weit hinter Pöhners Wünschen zurück – ein zugegebenermaßen kleiner Trost angesichts der Welle an Gewalt, Entwürdigung und blankem Hass, die über die bayerischen Juden der 1920er Jahre hinwegrollte.

Florian Meier
 

Quelle
Schreiben der Polizeidirektion München an das Staatsministerium des Inneren vom 8. Dezember 1919, Staatsarchiv München, Polizeidirektion München 4118

Literaturauswahl
Brenner, Michael, Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923, Berlin 2019
Schröder, Joachim, Die Münchner Polizei und der Nationalsozialismus, Essen 2013
Walter, Dirk, Antisemitische Gewalt und Kriminalität. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn 1999
Wilhelm, Hermann, Dichter, Denker, Fememörder. Rechtsradikalismus und Antisemitismus in München von der Jahrhundertwende bis 1921, Berlin 1989

Foto: © Scherl⁄Süddeutsche Zeitung Photo

Wohl bei kaum einem anderen Dichter klafft die Dichotomie zwischen literarischem und journalistischem Schaffen so stark wie bei Ludwig Thoma (1867–1921). Die anonymen Artikel, die der ‚Bayerndichter‘ 1920/21 im Miesbacher Anzeiger veröffentlichte, fügen sich nur schwer in das Gesamtwerk des Autors der ‚Lausbubengeschichten‘ und von Ein Münchner im Himmel ein.

Thomas Artikel im Miesbacher Anzeiger, die er honorarfrei und nur gegen Zigarrenwährung schrieb, waren meist eine spontane Reaktion auf Zeitungsmeldungen. Sie protokollieren daher, wie sehr es ihrem Autor an der Fähigkeit zur Mäßigung fehlte. In diesen Artikeln ließ Thoma sich in sprachlich primitivster Manier über alles, was als Angriff auf die überkommene Ordnung verstanden werden konnte, aus. Er hetzte systematisch gegen die Weimarer Republik und verleumdete ihre Vertreter. Sehr oft wurden dabei Literaten, Künstler, Intellektuelle und Politiker jüdischen Glaubens oder Herkunft zur Zielscheibe seiner Ausfälle, indem er ihnen pauschal die Schuld an den ungeliebten neuen Zuständen nach dem Ersten Weltkrieg zuschrieb.

Die Spannweite der Themen ist enorm und reicht von der Beleidigung oder Diffamierung von Einzelpersonen über Aufforderungen zum Mord an Politikern wie Matthias Erzberger, der tragischerweise 1921 tatsächlich ermordet werden sollte, bis hin zum Aufruf, „diese Pest [(Ost-)Juden] auszurotten“ (Berlin Weh, in: Miesbacher Anzeiger vom 7. April 1921).

Indirekte antisemitische Angriffe veröffentlichte Thoma bereits in seinen Filserbriefen und im Simplicissimus. Diese wurden aber im Gegensatz zu den Artikeln im Miesbacher Anzeiger durch das Mittel der Satire gebrochen.

Nicht selten standen Thomas Hetzschriften von 1920/21 als Leitartikel auf der ersten Seite des Anzeigers. Sie sind daher keineswegs als harmlos oder witzig gemeint zu verstehen.

Im Funkspruch an alle Berliner Regierungs- und Saujuden vom 16. März 1921 stellt Ludwig Thoma seine wüsten Anschauungen unter Beweis. Er paart seinen Hass auf Juden mit der Ablehnung der demokratischen Ordnung.

Thoma echauffiert sich in diesem Artikel über das im Reichstag beschlossene Gesetz zur Auflösung der Selbstschutzorganisationen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg gebildet hatten. Er nennt die Anordnung zur Aufhebung der Einwohnerwehren ein „Entmannungsgesetz“ und heißt die Entscheidungsträger „Berliner Saujuden“. Er verteidigt damit die Politik des bayerischen Ministerpräsidenten von Kahr, der sich entschlossen gegen die Auflösung der militanten Verbände gestellt hatte, sie aber letztlich nicht verhindern konnte. Thomas Groll gipfelt in einem direkten Mordaufruf. Gewalt ist also in Thomas Augen das Heilmittel gegen die verhassten neuen Zustände, die aus Berlin diktiert würden. Thoma paart seine Kampflust mit Heimatliebe und Antisemitismus, um gegen die Regierung zu hetzen, die gänzlich jüdisch sei. Damit machte Ludwig Thoma das Primitive durch gekonnten Schreibstil salonfähig und schloss an die nationalsozialistische Propaganda an.

Luis Markowsky

 

Quellen
Thoma, Ludwig, Berlin Weh, in: Miesbacher Anzeiger vom 7.4.1921, in: Volkert, Wilhelm (Bearb.), Ludwig Thoma. Sämtliche Beiträge aus dem Miesbacher Anzeiger 1920/21, München 1989, S. 216-218
Thoma, Ludwig, Funkspruch an alle, in: Miesbacher Anzeiger vom 16.3.1921, in: Volkert, Wilhelm (Bearb.), Ludwig Thoma. Sämtliche Beiträge aus dem Miesbacher Anzeiger 1920/21, München 1989, S. 181-183

Literaturauswahl
Benz, Wolfgang, Antisemitismus. Präsenz und Tradition eines Ressentiments, Schwalbach 2015
Gritschneder, Otto, Ludwig Thoma im Miesbacher Anzeiger (Bayerischer Rundfunk, Bayern – Land und Leute, Sendung vom 15.12.1985), München 1985
Klaus, Martin A., Ludwig Thoma. Ein erdichtetes Leben, München 2016
Rösch, Gertrud M., Ludwig Thoma als Journalist. Ein Beitrag zur Publizistik des Kaiserreichs und der frühen Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1989
Volkert, Wilhelm (Bearb.), Ludwig Thoma. Sämtliche Beiträge aus dem Miesbacher Anzeiger 1920/21, München 1989

Foto: © Münchner Stadtbibliothek ⁄ Monacensia

Ernst Toller wurde 1893 in Samotschin (Posen) geboren. Seine Geburtsstadt war, wie Toller rückblickend schreibt, bis zum Ersten Weltkrieg eine deutsche Stadt, auf die „Protestanten und Juden gleich stolz waren“. Nach seinem Schulabschluss ging er 1914 zum Jurastudium nach Grenoble, kehrte aber schon am 2. August, einen Tag nach dem deutschen Kriegseintritt, nach Deutschland zurück, um sich als Kriegsfreiwilliger zu melden. Die Kriegserlebnisse, die er bei der bayerischen Artillerie in Frankreich, insbesondere in Verdun, erfahren hatte, ließen ihn zum Pazifisten und später zum revolutionären Politiker werden. Seit Anfang 1917 aus gesundheitlichen Gründen vom Kriegsdienst freigestellt, nahm er in München sein Studium wieder auf. Er schrieb Gedichte und machte die Bekanntschaft mit Thomas Mann und Rainer Maria Rilke. Gleichzeitig engagierte er sich politisch und trat der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) unter Kurt Eisner bei, der am 7. November 1918 den „Freistaat Bayern“ ausrief und zu dessen erstem Ministerpräsidenten wurde. Nach der Ermordung Eisners wurde am 7. April 1919 in München die Räterepublik ausgerufen, und Ernst Toller wurde Vorsitzender des Revolutionären Zentralrats.

Nach der blutigen Niederschlagung der Räterepublik Anfang Mai 1919 wurde Toller steckbrieflich gesucht. Die mit seiner Ergreifung verbundene Belohnung von 10.000 Mark führte am 4. Juni 1919 zu seiner Verhaftung. Im Schloss Suresnes an der Werneckstraße in Schwabing hatte er sich drei Wochen bei einem Kunstmaler, der dort sein Atelier hatte, versteckt gehalten. Im Juli 1919 wurde er zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Während seiner Haft schrieb er unter anderem die Theaterstücke Masse Mensch, Die Maschinenstürmer, Hinkemann und Der entfesselte Wotan. Während er noch im Gefängnis saß, wurden seine Stücke in Berlin, Leipzig und anderen Städten mit großem Erfolg uraufgeführt. Der Theaterkritiker Georg Hensel nennt Toller den „Prototyp des Revolutionsdramatikers“ nach dem Ersten Weltkrieg.

Als Jude, Sozialist und Pazifist war Ernst Toller ein Feindbild der Nationalsozialisten. Nach deren Machtübernahme 1933 kehrte er von einer Lesereise nicht mehr nach Deutschland zurück. Seine Autobiographie Eine Jugend in Deutschland erschien 1933 als eines der ersten Bücher der deutschen Exilliteratur im Amsterdamer Emigrantenverlag Querido. Toller emigrierte 1934 über England in die Vereinigten Staaten. Dort nahm er sich 1939 das Leben.

Angelika Rötscher

 

Quelle
Toller, Ernst, Brief an Paul Löbe, 19.9.1923, in: Toller, Ernst, Briefe 1915–1939. Kritische Ausgabe, Bd. 1, hg. von Stefan Neuhaus, Göttingen 2018, S. 388-392, Zitat S. 390

Literaturauswahl
Frühwald, Wolfgang, Der Fall Toller, Kommentar und Materialien, München 1979
Hensel, Georg, Spielplan. Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 1978
Toller, Ernst, Eine Jugend in Deutschland. Kommentierte Ausgabe, Stuttgart 2013

Foto: © akg-images⁄ TT Nyhetsbyrån AB

Reisende, meidet Bayern!

So lautet der Titel zweier Artikel, die Kurt Tucholsky unter seinem Pseudonym Ignaz Wrobel am 27. Januar 1921 sowie am 7. Februar 1924 in der Zeitschrift Die Weltbühne veröffentlichte. Anlass für die Artikel waren antisemitische und fremdenfeindliche Aktionen wie ‚politische Schikanen‘ und Auflagen zur Einreise nach Bayern. Später folgten die Vorfälle im Zusammenhang mit dem Hitlerputsch (8./9. November 1923) und die negative Stimmung in der bayerischen Gesellschaft gegenüber Juden.

Neben Tucholsky, der selbst dem jüdischen Bildungsbürgertum entstammte, mahnten auch andere Akteure, u. a. jüdische Zeitungen, zur Vorsicht bei Reisen nach Bayern. Sie gaben Listen über judenfeindliche Kurorte und Hotels heraus. Da unter den Lesern und Leserinnen dieser Blätter wie auch der Weltbühne zahlreiche Mitglieder des Bürgertums und auch Intellektuelle waren, konnten sie durchaus eine gewisse Wirkung entfalten.

So führten der Antisemitismus und die Reisewarnungen aus diesem Teil der Presse 1924 in den Fremdenverkehrsorten tatsächlich zu Einnahmeausfällen, da jüdische und liberal gesinnte Bürger Bayern zu meiden begannen. Das beklagten auch einige Hotelbetreiber, allerdings gab es insgesamt gegen den sogenannten ‚Bäder- und Sommerfrischen-Antisemitismus‘ kein vehementes Einschreiten der Behörden. Vielmehr wurde die Diskriminierung toleriert, obwohl die deutsch-jüdische Bevölkerung durch die Weimarer Verfassung seit 1919 rechtlich gleichgestellt war.

Den ‚Bäder- und Sommerfrischen-Antisemitismus‘ gab es in dieser Zeit nicht nur in Bayern, sondern auch in anderen Teilen Deutschlands. Aber in Bayern entfaltete er eine besondere Wirkung, da antisemitische Vorurteile und ‚Preußenhass‘ unbedacht vermengt wurden. Auch der Schriftsteller Ludwig Thoma verbreitete diese Stimmung.

Am ‚Bäder- und Sommerfrischen-Antisemitismus‘ zeigt sich, wie der Antisemitismus zunehmend gesellschafts- und mehrheitsfähig wurde. Er steht beispielhaft für die gefährliche Vermengung von unbegründeten Vorurteilen und Ängsten, die Grundlage für Diskriminierung und Gewalt sein kann.

Adrian Hofmann


Quellen
Kurt Tucholsky [Pseud. Ignaz Wrobel], Reisende, meidet Bayern!, in: Die Weltbühne, 17. Jg., Nr. 4 vom 27. Januar 1921, S. 114
Ders. [Pseud. Ignaz Wrobel], Reisende, meidet Bayern!, in: Die Weltbühne, 20. Jg., Nr. 6 vom 7. Februar 1924), S. 164-167

Literaturauswahl
Bajohr, Frank, „Unser Hotel ist judenfrei“. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2003
Bavaj, Riccardo, Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Bonn 2005
Brenner, Michael, Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923, Berlin 2019
Gallus, Alexander, Heimat „Weltbühne“. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012
Papp, Kornélia, Auserwählt und verfolgt. Deutsch-jüdische Identitätsstrategien im Vorfeld des Holocaust, Münster 2009
Scheer, Regina, Kurt Tucholsky. „Es war ein bisschen laut“, Berlin 2008

Foto: © Bayerische Staatsbibliothek München

Antisemitische Gewalttaten in Bayern

Antisemitische Gewalt ist in unserem kollektiven Gedächtnis eng mit den Ereignissen im Dritten Reich und vor allem den Pogromen vom 9. November 1938 verbunden. Doch das Phänomen des gewaltbereiten Antisemitismus war bereits in den Jahrzehnten zuvor zu beobachten. Seine Hochburg war in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg der Freistaat Bayern. Hiervon zeugt etwa die Chronik völkisch-nationalsozialistischer Gewalttaten in Bayern, welche 1927 von der sozialdemokratischen Münchener Post veröffentlicht wurde. Diese listet eine Auswahl von Gewaltverbrechen der NSDAP und ihrer Parteiorganisationen in den Jahren 1920 bis 1927 sowohl gegen politische Gegner als auch gegen Juden auf. Die Aufstellung ist nicht erschöpfend, viele Zwischenfälle, wie zum Beispiel mehrere Übergriffe auf den Münchner Rabbiner Leo Baerwald, werden darin nicht berücksichtigt.

Während für das Jahr 1920 lediglich besonders radikale Hetze durch den Völkischen Beobachter, die NS-Parteizeitung, vermerkt wurde, stieg in den folgenden Jahren die Zahl der erwähnten Übergriffe auf Privatpersonen und jüdische Institutionen, wie Synagogen, stark an. Diese Entwicklung ist eng verknüpft mit der Gründung der paramilitärischen Sturmabteilung der NSDAP, der sogenannten SA. Am 11. August 1921 rief der Völkische Beobachter zum Beitritt zur SA auf, um den ‚schweren Kampf‘ gegen die Juden führen zu können. Damit war die Formierungsphase der SA, welche parallel zur Gründung und Formierung der NSDAP verlief, abgeschlossen.

Die Gründung dieser Organisation war eine wesentliche Voraussetzung für den Anstieg antisemitischer Übergriffe. In nur wenigen Fällen waren diese nämlich geplant. Meist waren es spontane Aktionen der SA, die nach Veranstaltungen, aufgehetzt durch antisemitische Reden, wahllos jüdisch erscheinende Passanten terrorisierte. So wurden in München im Juli 1922 jüdische Passanten überfallen und im Dezember Münchner Studenten jüdischer Herkunft misshandelt. Die jüdische Herkunft war jedoch für die SA-Truppen auf Grund der Integration der jüdischen Bevölkerung in die Münchner Gesellschaft nur schwer erkennbar. Man suchte deshalb gezielt in ‚jüdischen Vierteln‘ und folgte antisemitischen Klischees bei der Opferwahl. Häufig führte dies jedoch zu Verwechslungen, wie im Dezember des Jahres 1922, als die Münchner SA einen Amerikaner gewaltsam auf Beschneidung kontrollierte. Schnell stellte sich heraus, dass der Überfallene nicht jüdischer Herkunft war; er kam weitestgehend unversehrt davon. An den genannten Beispielen zeigt sich, dass sich die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Bayern bereits in den frühen 1920er Jahren ihrer freien Religionsausübung und körperlichen Unversehrtheit nicht mehr sicher sein konnten. Die Veröffentlichung derartiger Vorfälle in der Presse verdeutlicht aber auch, dass der gewaltbereite Antisemitismus eine bei den Zeitgenossen durchaus bekannte Problematik war.

Michael Kammerer

 

Quelle
Chronik völkisch-nationalsozialistischer Gewalttaten in Bayern, in: Münchener Post vom 4. Juli 1927

Literaturauswahl
Brenner, Michael, Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923, München 2019
Siemens, Daniel, Sturmabteilung. Die Geschichte der SA, München 2019
Walter, Dirk, Antisemitische Gewalt und Kriminalität. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn 1999

1928 kam die NSDAP bei den Reichstagswahlen auf lediglich 2,6 Prozent der Stimmen – die Partei schien an ihr Ende gelangt zu sein. Ein Jahr zuvor hatte der Münchner Lion Feuchtwanger (1884–1958) mit seinem Schlüsselroman Erfolg den Aufstieg der „Wahrhaft Deutschen“ um Rupert Kutzner, der für Adolf Hitler steht, zu porträtieren begonnen. Der monumentale Zeitroman erschien 1930 und gilt als eines der ersten Werke, das sich der Struktur- und Motivationsanalyse der völkischen Bewegung widmete.

Bis in die Mitte der zwanziger Jahre genoss Lion Feuchtwanger seine Erfolge als Dramatiker und Theaterkritiker im Wirkungskreis der Schwabinger Bohème. Doch das einstmals liberale München war immer mehr zu einem Hort des Reaktionären geworden. Antisemitische Tendenzen waren weit verbreitet und stellten auch für die Familie Feuchtwanger ein bis dahin unbekanntes Ausmaß der Bedrohung dar. Geboren in eine jüdisch-orthodoxe Unternehmerfamilie, die fest in das Münchner Leben integriert war, thematisierte Feuchtwanger das Judentum oder jüdische Personen im historischen Gewand. Mit seinem Roman Jud Süß gelang ihm 1925 ein internationaler Bestseller.

Während einer Vortragsreise in England und Amerika im Jahr 1933 überraschte ihn die Machtübernahme Hitlers. Feuchtwanger kehrte nicht nach Deutschland zurück. Sein Vermögen wurde beschlagnahmt, und der Doktortitel wurde ihm aberkannt. Im August 1933 wurde ihm aufgrund seiner offenen Feindschaft gegenüber dem Nationalsozialismus die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Die Werke Feuchtwangers wurden verboten und Opfer der Bücherverbrennung. Er selbst flüchtete mit seiner Frau nach Sanary-sur-Mer in Südfrankreich, einer kleinen Gemeinde, die zu einem wichtigen Ort für die deutsche Exilgemeinschaft heranwuchs. 1940 wurde Feuchtwanger in Frankreich interniert. Er konnte flüchten und gelangte über Spanien und Portugal in die USA. Dort ließ er sich in Los Angeles in Kalifornien nieder, wo er 1958 starb.

Das Nachwirken Feuchtwangers ist zwiegespalten: Zählte er in der Weimarer Republik noch zu den wirkungsstärksten Literaten, die auch international große Aufmerksamkeit generieren konnten, so blieb der Exil-Autor in der Bundesrepublik lange Zeit wenig beachtet.

Sebastian Doff-Sotta

 

Quelle
Lion Feuchtwanger, Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz, Berlin 2015 (zuerst 1930), S. 35

Literaturauswahl
Heusler, Andreas, Lion Feuchtwanger. Münchner – Emigrant – Weltbürger, Salzburg 2014
Jaretzky, Reinhold, Lion Feuchtwanger. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1984
Specht, Heike, Die Feuchtwangers. Familie, Tradition und jüdisches Selbstverständnis im deutsch-jüdischen Bürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2006
Weinrich, Harald, Wie zivilisiert ist der Teufel? Kurze Besuche bei Gut und Böse, München 2007

Woran lag es, dass ausgerechnet München zur ‚Hauptstadt der Bewegung‘ wurde?

Der verlorene Weltkrieg, Revolution und Gegenrevolution schwächten die junge Demokratie und ihre Glaubwürdigkeit in München mehr als in anderen Städten. Freikorps, wie das von Ritter von Epp, zerschlugen 1919 die Räterepublik und waren Sammelbecken für später führende Nationalsozialisten wie Ernst Röhm, Hans Frank und Rudolf Heß. Argumente gegen die Räterepublik wurden von antisemitischer Hetze abgelöst. Nach dem blutigen Ende der Räterepublik entwickelte sich München zum Mittelpunkt der antidemokratischen Bewegung. Die Angst vor dem Bolschewismus führte 1919 zur Gründung von sogenannten Einwohnerwehren, die mit ihrer antidemokratischen Haltung zusätzlich die Republik destabilisierten.

Der preußische General Ludendorff – der sich einem Verständigungsfrieden entgegengestellt hatte – kam nach München und wurde zum Steigbügelhalter des Gefreiten Hitler, weil er dessen ‚Potenzial‘ erkannte. Dieser wiederum bediente sich der alten Eliten ‒ vom Putsch 1923 bis zum Tag von Potsdam 1933. Der deutschnationale bayerische Justizminister Franz Gürtner oder Richter wie Georg Neithardt sorgten für milde Urteile gegen den Eisner-Mörder Graf Arco und die Putschisten Hitler und Ludendorff, deren vorzeitige Entlassung aus der Landsberger Festungshaft und für die Aufhebung des NSDAP-Verbots. Etablierte rechtsextreme Organisationen, wie die Thule-Gesellschaft, und neu gegründete, wie etwa die Organisation Consul, wurden vom Münchner Polizeipräsidenten Ernst Pöhner aktiv unterstützt, indem er deren Verfolgung nach Mordanschlägen und terroristischen Aktionen vereitelte.

Die Existenzsorgen der Bevölkerung, unter anderem ausgelöst durch die dramatische Versorgungslage nach dem Ersten Weltkrieg und die enorme Inflationsrate, führten auch dazu, dass die NSDAP nicht nur Zulauf von verunsicherten Handwerkern und kleinen Geschäftsleuten verbuchte. Die Verlegerfamilien Hanfstaengl und Bruckmann und Flügelfabrikant Bechstein führten Hitler in die bessere Gesellschaft ein, die die NSDAP auch finanziell unterstützte. Dies überzeugte Anhänger der Monarchie von deren antisemitischem, völkisch-nationalistischen Programm. Intellektuelle wie Thomas Mann registrierten sehr früh, dass das Pendel von links nach rechts ausschlug. Entscheidend trugen die völkisch-antisemitische Presse und deutschnationale Verleger zu dieser Entwicklung bei.

Miriam Brand

 

Quelle
Thomas Mann, Brief an die New Yorker Zeitschrift The Dial, Juni 1923, in: Thomas Mann, Werke – Briefe – Tagebücher. Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe, hg. von Heinrich Detering u. a., Bd. 15.1, Frankfurt am Main 2002, S. 694

Literaturauswahl
Brenner, Michael, Der lange Schatten der Republik. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923, Berlin 2019
Heusler, Andreas, Das Braune Haus. Wie München zur Hauptstadt der Bewegung wurde, München 2008
Nerdinger, Winfried (Hg.), München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS-Dokumentationszentrums München, München 2015

Die zwischen 1908 und 1940 auf Türkisch und Arabisch geschriebenen Tagebücher des Münchner Orientalisten und Historikers Karl Süßheim (1878–1947) gehören zu den wichtigsten Zeugnissen ihrer Zeit und insbesondere der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. So schrieb Süßheim nach der Revolution im November 1918 in sein Tagebuch: „Die Münchner Juden haben ganz klar Angst vor Pogromen. Weil Eisner [Revolutionär und erster Ministerpräsident des „Freistaats Bayern“] von Geburt her Jude ist, ist ein Teil der Münchner Bevölkerung gegen ihn und gegen die Juden überhaupt aufgebracht.“ Süßheim schildert damit die antisemitische Stimmung viele Jahre vor der NS-Machtübernahme und auch vor dem Hitler-Putsch von 1923.

Die antisemitischen Ressentiments gegen die in München ansässigen Juden wurden mehr und lauter. Süßheim spürte dies vor allem bei seinen Studenten an der Ludwig-Maximilians-Universität.Karl Süßheim wurde am 21. Januar 1878 in Nürnberg geboren. Sein Vater führte ein erfolgreiches Hopfenunternehmen, ließ seinen Söhnen Max und Karl aber weitere Möglichkeiten neben der Kaufmannslehre offen. Max wurde später sozialdemokratischer bayerischer Landtagsabgeordneter. Karl hatte konservativere politische Ansichten. 1896 begann er sein Geschichtsstudium und zog nach erfolgreichem Abschluss und Promotion 1910 nach München. Dort lehrte er an der Ludwig-Maximilians-Universität, erst als Privatdozent und schließlich als außerordentlicher Professor. Seine Fachgebiete waren die Geschichte der islamischen Welt, Türkisch, Persisch und modernes Arabisch.

Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme und dem Erlass des ‚Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‘ im April 1933 verlor Süßheim seine Anstellung an der Münchner Universität und lebte lediglich von den Einnahmen seines Privatunterrichts. 1938 wurde er kurzzeitig im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Auf Grund des stetig wachsenden Verfolgungsdrucks emigrierten Süßheim und seine Familie 1941 nach Istanbul. Dort verstarb der jüdische Orientalist schließlich 1947, seine Familie ließ sich später in den USA nieder.

Anna-Theresa Mayr

 

Quelle
Süßheim, Karl, Tagebucheintrag vom 16.11.1918, in: Flemming, Barbara/Schmidt, Jan (eds.), The Diary of Karl Süssheim (1878–1947). Orientalist between Munich and Istanbul, Stuttgart 2002, S. 186

Literaturauswahl
Brenner, Michael, Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923, Berlin 2019
Diefenbacher, Michael (Hg.), Die Süßheims. Unternehmer, Politiker, Wissenschaftler, Sammler, Nürnberg 2018
Flemming, Barbara/Schmidt, Jan (eds.), The Diary of Karl Süssheim (1878–1947). Orientalist between Munich and Istanbul, Stuttgart 2002
Jochem, Gerhard/Rieger, Susanne, Prof. Karl Süßheim: Historiker und Orientalist. 09.07.2016, www.rijo.homepage.t-online.de/pdf/DE_MU_JU_suessheim.pdfKarl Süßheim, www.bsb-muenchen.de/ns-raubgutforschung/restitutionen/karl-suessheim/ [letzter Zugriff: 20.08.2019]

 

Foto: © Scherl⁄Süddeutsche Zeitung Photo

‚Film der Humanität‘ – das erste Opfer der Filmzensur durch die NSDAP

Das Drama Nathan der Weise des Dichters Gotthold Ephraim Lessing aus dem Jahr 1779 spielt in Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge. Im Mittelpunkt des Stücks steht die ‚Ringparabelt‘, in der von dem jüdischen Protagonisten Nathan die Gleichwertigkeit von Judentum, Christentum und Islam metaphorisch dargestellt wird. Die Handlung schließt mit einer Versöhnung der verschiedengläubigen Protagonisten. Lessings Nathan  gilt als Standardwerk der Aufklärung und steht für Humanität, Toleranz und Religionsfreiheit.

Der deutsche Literaturklassiker wurde 1922 durch den deutsch-jüdischen Regisseur Manfred Noa verfilmt. Der Film wurde in den Münchner Emelka-Studios, den späteren Bavaria Film-Studios, gedreht.

Im September 1922 wurde der Film der Filmprüfstelle München vorgelegt. Die zwei hinzugezogenen Gutachter, Vertreter der Polizei und der katholischen Kirche, sprachen sich gegen eine Zulassung des Films aus. Sie befürchteten angesichts des grassierenden Antisemitismus eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung. Die Prüfstelle folgte dieser antisemitisch unterfütterten Argumentation nicht.

„… dass es ein Jude sei, der im Vordergrund des Inhalts des Films stünde und dass in unserer politisch erregten Zeit … es Anstoss erregen könne, dass ein Jude Träger der Handlung sei.“ (Plädoyer des Polizeipräsidiums München für ein Verbot des Films Nathan der Weise laut Protokoll der Filmoberprüfstelle Berlin, 28. Dezember 1922)

Am 29. Dezember 1922 wurde der Film in Berlin uraufgeführt. Beworben wurde das Werk mit dem Slogan Der Film der Humanität. Die Presse berichtete über den Erfolg des Films und dass sich das Publikum, von einem Gefühl der Menschlichkeit überwältigt, zu spontanem Beifall habe hinreißen lassen. Auch kommerziell war die Produktion ein großer Gewinn.

Anders war die Situation in München, wo der Film am 9. Februar 1923 anlief. Bereits nach der Entscheidung der Filmprüfstelle, den Film freizugeben, hatten Nationalsozialisten im Oktober 1922 versucht, die Filmkopien zu vernichten. Der Besitzer der Regina Lichtspiele, der Nathan der Weise auf den Spielplan gesetzt hatte, wurde noch am Tag der Münchner Uraufführung davor gewarnt, dass er einen Angriff seitens der Nationalsozialisten zu erwarten hätte, wenn er den Film nicht aus dem Programm nähme. Daraufhin wurde eine Sondervorführung für einen Vertreter der Parteiführung der NSDAP organisiert, um ihn davon zu überzeugen, dass der Film frei von jüdischer Propaganda sei. Dieser aber hetzte am nächsten Tag im Völkischen Beobachter, dass der Film ein „von verlogener und geheuchelter Humanität triefendes, echt jüdisches Machwerk“ sei. So sah sich der Direktor der Lichtspiele dazu gezwungen, den Film sofort abzusetzen. Kein anderer Münchner Kinobetreiber wagte es danach, den Film vorzuführen.

„Am Abend wurde Herr Sensburg, Besitzer der Regina Lichtspiele, antelephoniert. Eine Stimme ... gab ihm kategorisch bekannt, daß, falls er den Film nicht vom Programm nähme, ‚seine Bude am nächsten Abend … kurz und klein geschlagen wird‘.“ (Lichtbild-Bühne Nr. 9, Februar 1923)

Obwohl der Film durch die öffentlichen Behörden freigegeben worden war, konnte die NSDAP, als inoffizielle Instanz, eine Zensur bewirken. Das erfolgreiche Vorgehen zeigt, dass die Partei bereits sehr früh über große politische Macht verfügte und diese uneingeschränkt nutzte. Der starke Kontrast zwischen Berlin, wo der Film mit ‚rauschendem Beifall‘ als ‚Film der Humanität‘ gefeiert wurde, und München, wo die Nationalsozialisten genug Druck ausüben konnten, dass der Film nach zwei Tagen abgesetzt werden musste, macht deutlich, wie stark die spätere ‚Hauptstadt der Bewegung‘ bereits 1922 antisemitisch geprägt war.

Helen Schütt

 

Quellen
Lichtbild-Bühne vom 9.12.1922, Werbeanzeige für „Nathan der Weise“
Lichtbild-Bühne Nr. 9, Februar 1923
Zensur, Film-Oberprüfstelle O.B.V.100.22., 28.12.1922, Deutsches Filminstitut – DIF e.V.

Literaturauswahl
Brenner, Michael, Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923, Berlin 2019
Drößler, Stefan, Der Fall „Nathan der Weise“, in: Nathan der Weise. Edition Filmmuseum 10, 2006, DVD-Beiheft
Klapdor, Heike, „Ein Traum, was sonst?“ Manfred Noas Lessing-Film Nathan der Weise (1922), in: Gegenwart historisch gesehen. Kultur und Politik 1789–1848 filmisch reflektiert, München 2018, S. 27-40
Loiperdinger, Martin, Nathan der Weise. Faschistische Filmzensur, Antisemitismus und Gewalt anno 1923, in: Lessing Yearbook XIV (1982), S. 61-69

Foto: © Filmmuseum München