© NS-Dokumentationszentrum München, Foto: Connolly Weber Photography

Artikel
von Mirjam Zadoff

10 Jahre nsdoku – 80 Jahre Kriegsende

Rede von Mirjam Zadoff zur Wiederöffnung des nsdoku am 8. Mai 2025

Wir haben Sie vermisst. Fünf Monate lang war das nsdoku geschlossen, und sehen Sie es mir nach, wenn ich ganz unparteiisch finde: wenn dieses Haus geschlossen hat, leuchtet München weniger. Und das feiern wir heute! Wir feiern, dass genau vor zehn Jahren unter meinem Vorgänger, Winfried Nerdinger, ein Ort der Erinnerung und Diskussion geschaffen wurde, dort, wo einmal das ‚Braune Haus‘ stand. 

Wir feiern mit strahlend neuen Räumen und mein Dank gilt der Landeshauptstadt, dass wir diese Sanierungen vornehmen konnten. Das Haus ist jetzt sicherer, heller und barriereärmer. Nicht erst nach dem Anschlag am 5. September 2024 war es notwendig, sich dieser Themen anzunehmen. 

Gemeinsam mit den Architekten des Hauses, dem Büro Scheel Wetzel, konnten wir das lange geplante Café umsetzen, mein Herzensprojekt. Es wird von Karsten Schmitz betrieben und von Tuncay Acar geleitet. Mit beiden verbindet uns die Begeisterung für Kunst, Inklusion und Vielfalt. Mit Markus Miessen verbindet uns die Begeisterung für Design und demokratische Räume. Und so hat das Gestaltungsbüro Studio Miessen das Raumkonzept sowohl für den Vorplatz, als auch das Foyer und den ersten Stock entwickelt, wo jetzt verschiedene Sitzelemente dazu einladen, sich zu unterhalten, zu diskutieren und zu streiten. Die Graphikagentur Zeichen und Wunder hat unserem Jubiläum ein Design gegeben, und mit dem Büro Abele entsteht eine neue Beschilderung im Haus. In Zusammenarbeit mit allen ist ein Haus entstanden, dass heller, freundlicher und einladender ist. 

Alle Fotos: © NS-Dokumentationszentrum München, Foto: Connolly Weber Photography

Wir feiern auch, dass heute vor genau 80 Jahren das faschistische Deutschland die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet hat. Ein Tag der Freude für ganz Europa und große Teile der Welt. Der Krieg im Pazifik zog sich noch bis in den September 1945. Aber wohl für niemanden war der Moment so besonders, wie für die Überlebenden und befreiten Häftlinge. 

Ruth Klüger war damals 13 Jahre alt und sie beschrieb diese Tage in folgenden Worten:

„Wenn Sie nach dem Kriegsende fragen, dann kommt für mich unvergesslich das Gefühl, das Gespür für diese Zeit wieder hoch. Das war im April 1945, und ich verbinde es mit Sonne, Wärme. Und ich hatte nur den Gedanken, aber mehr als den Gedanken, so ein innerliches Gefühl: Wir sind am Ziel angekommen, jetzt fängt das Leben an, und das Leben wird nie wieder gefährlich sein. […] Wir sind von einem Todesmarsch geflohen und haben uns als nicht-jüdische Deutsche ausgegeben, das gelang uns irgendwie, und wir landeten in der bayerischen Stadt Straubing. Das Kriegsende ist so positiv besetzt für mich wie nichts Anderes im Leben.“

Ruth Klüger hat uns auch eine große Aufgabe, eine Herausforderung mitgegeben. Nämlich, dass das Gedenken nicht bequem werden dürfe, keine, so schrieb sie, „gemütliche, badewasserlaue Annehmlichkeit“. Denn die Erinnerung sei „eigentlich immer ein Graus, eine Zumutung und eine einzige Kränkung der Eigenständigkeit. […] Darum haben wir die Nostalgie erfunden, das heißt den Kitsch der Erinnerung, die Verklärung, mit der wir so gern Blut, Schweiß und Kotze der wirklichen Gedächtnisprodukte verpacken.“ 

Den Vorwurf des Erinnerungskitsches machte Klüger auch Museen, Gedenkstätten und Dokumentationszentren, die in ihren Ausstellungen und Vermittlungsangeboten Permanenz, und einen abgeschlossenen Prozess des Erinnerns und Lernens aus der Geschichte suggerieren würden. Doch das Bewahren eines Ortes verdecke jedwede Authentizität und bestätige lediglich vorgeformte Erwartungen: „Wer in Auschwitz etwas zu finden meint, hat es wohl schon im Gepäck mitgebracht“, bemerkte sie. Später relativierte die Literaturwissenschaftlerin ihre harsche Kritik am Gedenken in Deutschland und erklärte, das Gedenken habe sich verfeinert und sei genauer geworden. Doch der Gegensatz bleibt: Sammlungen, Displays und Erklärungen versuchen ein Fazit aus Diktatur und Genozid zu ziehen. Der Wunsch, aus der Katastrophe zu lernen, ist zugleich ein Versuch, dem irrwitzigen Morden nachträglich einen Sinn einzuschreiben. Am Ende steht als positives Ergebnis die Stabilität der Demokratie, unsere vermeintliche Menschlichkeit, ein diffuses „Nie Wieder“ und vieles mehr. 

Hannah Arendt zufolge bedarf es nach Krieg, Genozid und der Erfahrung staatlicher Gewalt eines neuen sozialen Vertrags, einer Absicherung nach innen wie nach außen, die keine Verletzungen mehr zulässt und vulnerable Minderheiten schützt. Erinnerungsorte, Ausstellungen und Museen stehen gewissermaßen für die ästhetische Umsetzung dieser Versicherung, indem sie das Grauen in Aufklärung und Wissen übersetzen. Trotzdem – und hier hallt Ruth Klügers Kritik nach – laufen wir Gefahr, die Kränkung, die Zumutung, die Trauer und den Schmerz der Betroffenen aus dem Blick zu verlieren und durch eine rationale, distanzierte Erzählung zu neutralisieren. Aber so einfach ist es nicht: Die Realität ist kompliziert geworden und deshalb braucht ein Haus wie dieses immer wieder eine Korrektur, eine Anpassung und eine Aktualisierung. Durch Ausstellungen, die beweglich bleiben, aber ebenso durch Raum für Gespräch und Austausch –  gerade dann, wenn diese Räume Gefahr laufen, im Getöse der Positionierungen und Polarisierungen verloren zu gehen. 
 

„May you live in interesting times“ 

Sie erinnern sich vielleicht, so lautete der Titel der Kunstbiennale in Venedig vor einigen Jahren – ‚mögen Sie/mögest Du in interessanten Zeiten leben‘. Das ist kein frommer Wunsch, sondern ein der chinesischen Sprache zugesprochener Fluch. Würde man einander etwas Gutes wünschen, dann genau das Gegenteil, nämlich in uninteressanten, langweiligen Zeiten zu leben. Zeiten, die in den Geschichtsbüchern in ein oder zwei Sätzen zusammengefasst werden könnten, weil sie so arm an Krisen, Kriegen oder Konflikten sind. ‚Interesting times‘ – interessante Zeiten wie diese verlangen uns einiges ab an Solidarität, Empathie, an moralischer Urteilssicherheit, an der Fähigkeit zuzuhören, aber auch Zuversicht und Zukunftsfähigkeit. Und wenn Sie sich fragen, woher das alles nehmen, und wenn sie wieder einmal verzagt und mutlos die Zeitung beiseitelegen, dann kommen Sie vorbei, an den Max-Mannheimer-Platz. Trinken Sie einen Espresso, gehen Sie durch die Ausstellungen, besuchen Sie einen Workshop und machen Sie mit. Denn die Gegenwart hat viel mit unserer Vergangenheit zu tun. 

Allein die Tatsache, dass es dieses Haus gibt, dass wir diese Arbeit – mit Ihnen, mit den Menschen in dieser Stadt – machen dürfen, ohne Einschränkungen und Einmischungen einer Regierung, ist nicht – und nicht mehr - selbstverständlich. Diese Freiheit wurde von vielen Menschen hart erkämpft, sie wurde uns anvertraut, zur fürsorglichen Obhut, damit wir sie schützen und als unseren größten Schatz betrachten. Die Freiheit einer demokratischen, offenen Gesellschaft, deren Aufgabe es ist, alle Menschen in diesem Land zu schützen, unabhängig von Geschlecht, Sexualität, Abstammung, Religion, Sprache, Heimat oder Herkunft. Eine Gesellschaft, die nur so demokratisch und liberal bleiben kann, wenn ihre Grenzen offen, ihre Wissenschaft und Kunst unbeeinträchtigt und ihre Exekutive menschlich bleiben. Wenn sich das ‚Rechts‘ vom ‚Rechtsextremen‘ abgrenzt, im Bewusstsein dessen, wohin Faschismus führt. 

So steht es im Grundgesetz geschrieben. Für dieses Grundgesetz haben Menschen gekämpft, darauf haben sie gehofft, davon haben sie geträumt. Menschen, deren Geschichten wir erzählen. Unter ihnen ist zum Beispiel Maria Luiko. Die Münchner Künstlerin, die als Jüdin deportiert und ermordet wurde und deren Marionette Chanele sie jetzt hier im Haus finden. Oder Katja Pringsheim, deren Porträt von Franz von Lenbach Ihnen seit heute in der Ausstellung begegnet, nachdem es Anfang des Jahres das große Feuer in Los Angeles unbeschadet überstanden hat. Ein Gemälde von Maria Pöltl, deren Sohn Georg als ‚Asozialer‘ verfolgt und ermordet wurde. Theodor Wonja Michael, der als Komparse in Kolonialfilmen rassistische Stereotype bedienen und Zwangsarbeit leisten musste. Wir stellen seinen Bierkrug aus. Heinrich Rothschild, dessen Hutgeschäft in der Sendlinger Straße war –wir haben einen seiner Hüte jetzt bei uns. Alice Bendix, die Leiterin des jüdischen Kinderheims in der Antonienstraße, deren Speisegeschirr wir in unsere Obhut nehmen durften. Die oder der unbenannte Deportierte, die oder der in Kaunas ermordet wurde und dort ein Tablettenrörchen mit der Aufschrift „Veronal“ hinterlassen hat. Die Niederländerin Lies Bueninck, die mit einer Stickerei in den Agfa Kamerawerken im Verborgenen an ihre Tochter erinnerte. Sie musste Zwangsarbeit leisten, weil sie eine jüdische Familie versteckt hatte. Die Eltern von Olga Mannheimer, die 1968 mit ihren Kindern aus dem antisemitischen Warschau fliehen mussten, und deren Umzugskiste ihre Tochter uns nun anvertraut hat. Tom Seidmann Freud, Sigmund Freuds Nichte, die einige Jahre hier in München lebte, und deren wunderbare Kinderbücher und Zeichnungen vergessen sind, weil ihre Bücher verbrannt wurden. Und Ernst Grube, der heute hier ist, hat uns seinen gelben Stern gegeben, den er im Kinderheim in der Antonienstraße wie alle anderen Kinder aus einem gelben Stoffballen schneiden und auf seine Jacke nähen musste. Sie alle sind mit der Intervention Erinnerung ist … hier bei uns eingezogen.

© NS-Dokumentationszentrum München, Foto: Connolly Weber Photography

Erzählt werden ihre Geschichten nicht wie üblich von uns, den Kurator*innen und Ausstellungsmacher*innen, sondern von anderen Menschen, deren persönlicher Blick die Vielstimmigkeit dieser Ausstellung ausmacht: Erb*innen, Angehörige, Kunstschaffende, Sammler*innen, Literat*innen. Unter ihnen ist der britische Keramikkünstler Edmund de Waal, die Münchner Autorinnen Lena Gorelik und Olga Mannheimer, die Erbin Almut Jöde, der Kurator Eric Otieno Sumba, Laura Altmann, Hamado Dipama, Miriam Gebhardt oder die Präsidentin der Musikhochschule Lydia Grün und viele andere. Ich danke auch den Leihgeber*innen wie Barbara Murken, Thomas Schubauer, Paul Maria Wittmann sowie dem Münchner Stadtarchiv und dem Münchner Stadtmuseum. Die Menschen, von denen diese Ausstellung erzählt, hätten ein anderes Leben geführt, wenn ihnen das Glück beschieden gewesen wäre, in einem Land zu leben, das von einer Verfassung geschützt wird.

Eine weitere Veränderung in der Ausstellung, die mir besonders am Herzen liegt, ist die Erinnerung an das Attentat am Olympia-Einkaufszentrum am 22. Juli 2016, ein Jahr nach der Eröffnung dieses Hauses. Viel zu lange hat es gedauert, bis wir das rechtsterroristische Attentat – nun endlich – mit einem Filmausschnitt und der Broschüre Tell Their Stories in die Dauerausstellung aufgenommen haben. Ich freue mich sehr, dass Angehörige und Vertreter*innen der Initiative München OEZ Erinnern! heute hier sind. 

Und ich freue mich, dass die Videoinstallation overexposed/underexposed von Daniel Asadi Faezi und Mila Zhluktenko ab heute hier zu sehen ist. Sie ist vergangenes Frühjahr hier in München entstanden. Wir hatten die beiden außergewöhnlichen Filmemacher*innen angesprochen, um gemeinsam eine Form der Erinnerung an politischen Terror in München zu entwickeln. Im Fokus stehen exemplarisch acht Orte in München, an denen Menschen zwischen 1970 und 2016 durch rechtsextremistische, rassistische oder antisemitische Terroranschläge ermordet wurden. Manche der Taten sind weit über die Grenzen Münchens hinaus bekannt, andere sind bis heute nicht im kollektiven Gedächtnis verankert. Der Film zeigt, wie unterschiedlich diese Orte von Menschen wahrgenommen werden und wie anders München aussieht, wenn man Gewalt erfahren hat. Es ist ein künstlerisches, poetisches Projekt, und es fügt sich in das Konzept des Hauses, das spätestens seit der 2019 gezeigten Ausstellung Tell me about yesterday tomorrow für eine innovative Form des Erzählens steht. 

Daniel Asadi Faezi und Mila Zhluktenko bei der Wiedereröffnung des nsdoku | © NS-Dokumentationszentrum München, Foto: Connolly Weber Photography

Nach zehn Jahren ist das NS-Dokumentationszentrum aus der Münchner Kulturlandschaft nicht mehr wegzudenken, aber auch weit darüber hinaus. Unsere Wechselausstellungen touren um die Welt: nach Melbourne, Australien, oder Johannisburg, Südafrika. Wir haben in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Preisen erhalten – für Ausstellungen, Design, Onlineprojekte und vieles mehr. Wir werden international als Expert*innen zu den Themen Kunst und Erinnerung, transnationales Gedenken, Graphic Novels und innovative Workshops und Seminarformate eingeladen. All das verdanke ich der Zusammenarbeit mit meinen Kolleg*innen, eine Zusammenarbeit, die von Sympathie, Vielstimmigkeit und Offenheit geprägt ist. You’re the best. 

In seinem Appell an die Jugend, der in den Grundstein des NS-Dokumentationszentrums eingelassen wurde, hat Max Mannheimer daran erinnert, dass es nicht um Schuld ginge, sondern um Verantwortung. Lassen Sie uns diese Verantwortung ernst nehmen, antifaschistisch bleiben und vor allem: menschlich.