Ruth Klüger hat uns auch eine große Aufgabe, eine Herausforderung mitgegeben. Nämlich, dass das Gedenken nicht bequem werden dürfe, keine, so schrieb sie, „gemütliche, badewasserlaue Annehmlichkeit“. Denn die Erinnerung sei „eigentlich immer ein Graus, eine Zumutung und eine einzige Kränkung der Eigenständigkeit. […] Darum haben wir die Nostalgie erfunden, das heißt den Kitsch der Erinnerung, die Verklärung, mit der wir so gern Blut, Schweiß und Kotze der wirklichen Gedächtnisprodukte verpacken.“
Den Vorwurf des Erinnerungskitsches machte Klüger auch Museen, Gedenkstätten und Dokumentationszentren, die in ihren Ausstellungen und Vermittlungsangeboten Permanenz, und einen abgeschlossenen Prozess des Erinnerns und Lernens aus der Geschichte suggerieren würden. Doch das Bewahren eines Ortes verdecke jedwede Authentizität und bestätige lediglich vorgeformte Erwartungen: „Wer in Auschwitz etwas zu finden meint, hat es wohl schon im Gepäck mitgebracht“, bemerkte sie. Später relativierte die Literaturwissenschaftlerin ihre harsche Kritik am Gedenken in Deutschland und erklärte, das Gedenken habe sich verfeinert und sei genauer geworden. Doch der Gegensatz bleibt: Sammlungen, Displays und Erklärungen versuchen ein Fazit aus Diktatur und Genozid zu ziehen. Der Wunsch, aus der Katastrophe zu lernen, ist zugleich ein Versuch, dem irrwitzigen Morden nachträglich einen Sinn einzuschreiben. Am Ende steht als positives Ergebnis die Stabilität der Demokratie, unsere vermeintliche Menschlichkeit, ein diffuses „Nie Wieder“ und vieles mehr.
Hannah Arendt zufolge bedarf es nach Krieg, Genozid und der Erfahrung staatlicher Gewalt eines neuen sozialen Vertrags, einer Absicherung nach innen wie nach außen, die keine Verletzungen mehr zulässt und vulnerable Minderheiten schützt. Erinnerungsorte, Ausstellungen und Museen stehen gewissermaßen für die ästhetische Umsetzung dieser Versicherung, indem sie das Grauen in Aufklärung und Wissen übersetzen. Trotzdem – und hier hallt Ruth Klügers Kritik nach – laufen wir Gefahr, die Kränkung, die Zumutung, die Trauer und den Schmerz der Betroffenen aus dem Blick zu verlieren und durch eine rationale, distanzierte Erzählung zu neutralisieren. Aber so einfach ist es nicht: Die Realität ist kompliziert geworden und deshalb braucht ein Haus wie dieses immer wieder eine Korrektur, eine Anpassung und eine Aktualisierung. Durch Ausstellungen, die beweglich bleiben, aber ebenso durch Raum für Gespräch und Austausch – gerade dann, wenn diese Räume Gefahr laufen, im Getöse der Positionierungen und Polarisierungen verloren zu gehen.
„May you live in interesting times“
Sie erinnern sich vielleicht, so lautete der Titel der Kunstbiennale in Venedig vor einigen Jahren – ‚mögen Sie/mögest Du in interessanten Zeiten leben‘. Das ist kein frommer Wunsch, sondern ein der chinesischen Sprache zugesprochener Fluch. Würde man einander etwas Gutes wünschen, dann genau das Gegenteil, nämlich in uninteressanten, langweiligen Zeiten zu leben. Zeiten, die in den Geschichtsbüchern in ein oder zwei Sätzen zusammengefasst werden könnten, weil sie so arm an Krisen, Kriegen oder Konflikten sind. ‚Interesting times‘ – interessante Zeiten wie diese verlangen uns einiges ab an Solidarität, Empathie, an moralischer Urteilssicherheit, an der Fähigkeit zuzuhören, aber auch Zuversicht und Zukunftsfähigkeit. Und wenn Sie sich fragen, woher das alles nehmen, und wenn sie wieder einmal verzagt und mutlos die Zeitung beiseitelegen, dann kommen Sie vorbei, an den Max-Mannheimer-Platz. Trinken Sie einen Espresso, gehen Sie durch die Ausstellungen, besuchen Sie einen Workshop und machen Sie mit. Denn die Gegenwart hat viel mit unserer Vergangenheit zu tun.
Allein die Tatsache, dass es dieses Haus gibt, dass wir diese Arbeit – mit Ihnen, mit den Menschen in dieser Stadt – machen dürfen, ohne Einschränkungen und Einmischungen einer Regierung, ist nicht – und nicht mehr - selbstverständlich. Diese Freiheit wurde von vielen Menschen hart erkämpft, sie wurde uns anvertraut, zur fürsorglichen Obhut, damit wir sie schützen und als unseren größten Schatz betrachten. Die Freiheit einer demokratischen, offenen Gesellschaft, deren Aufgabe es ist, alle Menschen in diesem Land zu schützen, unabhängig von Geschlecht, Sexualität, Abstammung, Religion, Sprache, Heimat oder Herkunft. Eine Gesellschaft, die nur so demokratisch und liberal bleiben kann, wenn ihre Grenzen offen, ihre Wissenschaft und Kunst unbeeinträchtigt und ihre Exekutive menschlich bleiben. Wenn sich das ‚Rechts‘ vom ‚Rechtsextremen‘ abgrenzt, im Bewusstsein dessen, wohin Faschismus führt.