Demonstration für Demokratie mit ca. 300.000 Menschen in München, Theresienwiese, 08.02.2025, Foto: Thomas Vonier/Süddeutsche Zeitung Photo

Artikel
von Denis Heuring, Paul-Moritz Rabe und Mirjam Zadoff

Resilient oder in Gefahr? Demokratien in Zeiten der Polykrise

Im März 2023 richtete das NS-Dokumentationszentrum München in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Goethe-Institut die internationale Tagung „Fragile Demokratien. 1923 /1933 /2023“ aus. An drei Tagen diskutierten Expert*innen1 aus Politik-, Geschichts-, Kultur-, Natur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gemeinsam mit zahlreichen Besucher*innen über den Zustand der Demokratie – in Vergangenheit und Gegenwart, in Deutschland und verschiedenen Regionen der Welt.2 Den Anlass bildete zum einen die sich zum 90. Mal jährende Machtübernahme der Nationalsozialisten zwischen Januar und März 1933, und zum anderen der gescheiterte Umsturzversuch zehn Jahre zuvor, der sogenannte „Hitler-Putsch“ vom 8. und 9. November 1923. Beide Ereignisse erinnern daran, dass Demokratien sowohl plötzlich als auch schleichend enden können, sowohl durch Gewalt als auch durch eine friedliche Übergabe der Macht an autoritäre Herrscherstrukturen, durch einen offenen Umsturzversuch wie durch die allmähliche Zersetzung des Systems von innen.

 

Wenn sich Geschichte ähnelt

Fast zwei Jahre sind seit der Tagung vergangen, und die Sorge um die Demokratie ist akuter denn je. Tatsächlich hat sich seit der Tagung die Situation weiter zugespitzt. Während Deutschland im Frühsommer 2024 den 75. Geburtstag des Grundgesetzes feierte und damit an die aus dem Nationalsozialismus entstandene Verantwortung der Bundesrepublik erinnerte, ist die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestufte AfD Thüringen als stärkste Kraft in das Landesparlament eingezogen – und das auf den Tag genau 85 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. Bei den nationalen Ergebnissen der Wahlen zum EU-Parlament im Juni 2024 wurde die AfD zweitstärkste Partei in Deutschland; im Osten des Landes wurde sie mit Abstand stärkste Kraft. Ähnliche Prognosen lassen mit Sorge auf die Bundestagswahl am 23. Februar 2025 blicken.

Andererseits: Seit Ende 2023 gehen Hundertausende Menschen in deutschen Städten für Demokratie und gegen Rechtsextremismus auf die Straße. Schockiert über das öffentlich gewordene Geheimtreffen von AfD-Politiker*innen, Neonazis und Unternehmer*innen in Potsdam, die Skandale um einen rechtsextremen Europaabgeordneten, rassistische Gesänge in einer Nobel-Disko auf Sylt, die rassistischen Fake-Flugtickets als Wahlwerbung der AfD oder zuletzt die Geschehnisse um die Abstimmung im Bundestag rund um den Entwurf für ein sogenanntes „Zustrombegrenzungsgesetz“ erinnern die Demonstrierenden immer wieder lautstark an die historische Verantwortung Deutschlands. Banner und Sprechchöre rufen die Erosion der Weimarer Demokratie und den Aufstieg der Nationalsozialsten ins Gedächtnis. Fotomontagen statten AfD-Politiker*innen mit Nazi-Attributen aus. Und auch wenn sich die Endphase der Weimarer Republik nicht mit dem aktuellen Zustand unserer Demokratie gleichsetzen lässt, so führen diese Analogien eines deutlich vor Augen: Die gegenwärtige Sorge um die Demokratie speist sich hierzulande nicht zuletzt aus dem Wissen um die deutsche Vergangenheit.

Auch wenn Historiker*innen immer wieder darauf hinweisen, dass alarmistische Vergleiche Gefahr laufen, zu vereinfachen und Differenzen aus dem Blick zu verlieren, ist die Sorge um unser demokratisches System nachvollziehbar. Denn dass ungeachtet der 80 Jahre zurückliegenden nationalsozialistischen Diktatur und ihrer Verbrechen, Politiker*innen im heutigen Deutschland wieder SA-Losungen im Mund führen4, dass am Vatertag Männer in Wehrmachtsuniform5 unterwegs sind, oder in einem Münchner Bierkeller der Hitlergruß6 gezeigt wird, gehört zum beunruhigenden Zustand der letzten Jahre. Es muss wohl etwas dran sein an der Furcht vor den „echoes of history“, dem Widerhall der Geschichte, vor dem schon der Mark Twain zugeschriebene und zum geflügelten Wort gewordene Ausspruch „History never repeats itself, but it does rhyme“ warnte.

Während Deutschland, das trotz oder wegen seiner Diktaturerfahrungen im 20. Jahrhundert noch immer zu einer der gefestigtsten Demokratien der Welt gehört, sich um seinen liberalen Rechtsstaat sorgt, sind anderenorts schon längst jene „Brandmauern“ eingerissen worden, die man hierzulande noch zu stabilisieren versucht. In Italien regiert mit Georgia Meloni seit 2022 eine postfaschistische Politikerin, die auf europäischer Ebene Kompromisse eingeht, aber im eigenen Land bereits an einer Verfassungsänderung arbeitet, die das Parlament schwächen soll. In Frankreich reagierte Emmanuel Macron auf den klaren Sieg des rechtspopulistischen Rassemblement National bei den Europawahlen 2024 mit der Auflösung der Nationalversammlung; die Partei von Marine Le Pen landete bei den vorgezogenen Parlamentswahlen zwar hinter dem Linksbündnis Nouveau Front Populaire und Macrons Ensemble und verfehlte die angestrebte absolute Mehrheit. Durch diese Wahlergebnisse befindet sich die Republik aktuell in einer Phase der politischen Instabilität. In Ungarn, Viktor Orbáns „illiberaler Demokratie“, ein Begriff der auf Benito Mussolini (1883–1945) zurückgeht7, werden rechtsstaatliche Prinzipien schon so lange ausgehöhlt, dass Europa sich längst daran gewöhnt hat – ein Umstand, der die demokratische Fragilität der EU auf erschreckende Weise veranschaulicht. Und in Österreich wurde Ende 2024 mit der FPÖ zum ersten Mal eine rechtsextreme Partei mit der Regierungsbildung beauftragt.

Blickt man noch etwas weiter, sieht es nicht besser aus: Der anfangs liberal agierende Recep Tayyip Erdoğan baute die Türkei in den vergangenen zwei Jahrzehnten Stück für Stück in ein autokratisches Präsidialsystem um. Der russische Präsident Vladimir Putin, auf den Deutschland zu Beginn seiner Amtszeit große Hoffnungen gesetzt hatte, hat sich in zaristischer Manier zum Alleinherrscher gemacht. Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem Angriffskrieg auf die Ukraine bestätigte er seine neoimperialen Ambitionen. In Indien, der einst bevölkerungsreichsten Demokratie der Welt, nutzte Premierminister Narendra Modi seine beiden ersten Amtszeiten, um die Verfassung des Landes in den Dienst einer hindu-nationalistischen und minderheitenfeindlichen Politik zu stellen. Die Demokratieentwicklung auf dem afrikanischen Kontinent wird durch post- und neokoloniale Abhängigkeiten gebremst und erlebte jüngst aufgrund von Staatsstreichen und Putsch-Versuchen herbe Rückschläge. Und im Herbst 2024 kehrte mit Donald Trump der wohl einflussreichste Populist unserer Zeit an die Spitze der Demokratie zurück, die bis zu seiner ersten Amtszeit als die stabilste galt. Am 6. Januar 2021, als Trump seine Anhängerschaft zum Sturm auf das Kapitol ermutigte, bestätigte sich, was aufmerksame Kommentator*innen schon zuvor festgestellt hatten: Amerika war auf dem Weg zu einem „Weimerica“.8 Heute herrscht die traurige Gewissheit, dass Millionen von US-Amerikaner*innen ihre Stimme bewusst einem verurteilten Kriminellen und skrupellosen Machtmenschen anvertraut haben, der demokratische Prinzipien missachtet und sich dafür feiern lässt. Unterstützt durch den reichsten Mann der Welt, Tech-Milliardär Elon Musk.

Sturm auf das Kapitol am 06.01.2021 in Washington D.C. | © picture alliance / Pacific Press | Lev Radin

Vom „Ende der Geschichte“ zum „Ende der Demokratie“?

Diese Entwicklungen mögen mit Blick auf die jüngere Zeitgeschichte überraschen. Nach dem Ende des Kalten Kriegs und dem Kollaps der Sowjetunion war man in weiten Teilen der damaligen „westlichen Welt“ von einem Siegeszug der Demokratie ausgegangen. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama konstatierte damals das „Ende der Geschichte“, weil die Menschheit den „Endpunkt der ‚ideologischen Evolution‘“ erreicht habe.9 Die liberale Demokratie kapitalistischer Prägung habe sich gegenüber alternativen Herrschafts- und Regierungsformen durchgesetzt. 30 Jahre später scheint sich diese hoffnungsvolle Spekulation zerschlagen, ja sogar in ihr Gegenteil verkehrt zu haben. 

Der weltweite und nachhaltige Siegeszug der liberalen Demokratien blieb aus. Stattdessen nähren aktuelle Messungen des globalen Demokratieniveaus die Sorge, dass wir eher dem allmählichen „Ende der Demokratie“ entgegenblicken. Seit 2012 gibt es weltweit mehr Staaten, die sich autokratisieren, als Länder, die sich demokratisieren.10 Laut Untersuchungen des schwedischen V-Dem Institute (Varieties of Democracy) leben heute 71 % der Weltbevölkerung, rund 5,7 Milliarden Menschen, in elektoralen oder geschlossenen Autokratien – also entweder in Systemen, in denen sich zwar unterschiedliche Parteien zur Wahl stellen können, der Wahlausgang jedoch durch unfaire Wahlbedingungen und eingeschränkte Grundrechte wie Meinungs-, Presse- oder Versammlungsfreiheit stark beeinflusst wird, oder in diktatorisch geführten Staaten, in denen demokratische Institutionen und Prozesse vollständig abgeschafft wurden.11 Das V-Dem Institute stuft Nationen wie Ungarn, Russland oder die Türkei als elektorale Autokratien ein. Auf der langen Liste der geschlossenen Autokratien beziehungsweise Diktaturen stehen Nationen wie China, Iran, Nordkorea oder Libyen.

Lediglich ein Drittel der Weltbevölkerung besitzt hingegen demokratische Rechte und Freiheiten: 16 % leben heute in sogenannten elektoralen Demokratien – also in Ländern wie Argentinien, Südafrika oder, inzwischen Israel –, und nur knapp 13 % in sogenannten liberalen Demokratien wie Deutschland, Chile oder Japan. Liberal sind diese Demokratien, weil sie dem Individuum das moralische Vorrecht gegenüber dem sozialen Kollektiv einräumen, die Gleichheit aller Menschen proklamieren und soziale Institutionen und politische Gestaltung in den Dienst des gesellschaftlichen Zusammenlebens stellen. Sie garantieren Bürger- und Freiheitsrechte und charakterisieren sich durch politische Gewaltenteilung, also durch ein ausbalanciertes Interagieren und gegenseitiges Kontrollieren von Exekutive, Legislative und Judikative, sowie durch eine vitale Zivilgesellschaft. Diese Staatsform, die Fukuyama als die „endgültige menschliche Regierungsform“ und ein „nicht verbesserungsbedürftiges Ideal“ bezeichnete12, steht gegenwärtig einer politischen Realität gegenüber, die sich durch demokratische Erosion und autokratische Regression, also der weiteren Autokratisierung von Autokratien, auszeichnet.

Doch wie besorgniserregend sind die aktuellen Tendenzen? Läuten sie tatsächlich so etwas wie das „Ende der Demokratie“ ein? Oder gehören antidemokratische Angriffe und systemische Fissuren schlicht zur modernen Demokratiegeschichte?

In der Tat erleben wir nicht die erste Autokratisierungsbewegung seit der Entstehung der modernen Demokratie, die spätestens im 19. Jahrhundert Prinzipien wie Volkssouveränität, Repräsentation und Freiheit gegen absolutistisch-feudale Herrschaftsvorstellungen durchgesetzt hatte. Allein im 20. und 21. Jahrhundert lassen sich drei größere Wellen ausmachen: Auf die kurze Demokratisierungsphase unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg, die in Deutschland die Gründung der Weimarer Republik inklusive der Einführung des allgemeinen Wahlrechts mit sich brachte, folgte bald schon eine erste Autokratisierungswelle, die mit Mussolinis „Marsch auf Rom“ 1922 begann und bis zur Niederlage der faschistischen Diktaturen im Jahr 1945 andauerte. Die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Phase der Demokratisierung erreichte ihren Zenit Anfang der 1960er Jahre und flachte dann wieder ab. Dafür baute sich eine zweite Autokratisierungswelle auf – sie zeigte sich beispielsweise in Form der vornehmlich linksgerichteten Militärdiktaturen in Lateinamerika –, die bis in die 1970er Jahre hineinreichte. Nach dem Demokratisierungsschub, der unter anderem durch das Ende der Diktaturen in Griechenland (1974), Portugal (1974) und Spanien (1975) eingeläutet wurde und sich durch den Zerfall der Sowjetunion (1991) weiter verstärkte, begann um die Jahrtausendwende eine dritte Welle der Autokratisierung, die bis heute andauert.13

Die unterschiedlichen Phasen der Demokratisierung und Autokratisierung lassen sich historisch betrachtet somit als dialektische Verläufe beschreiben, die von den jeweiligen systemischen Gegebenheiten sowie der Zufälligkeit der Ereignisse abhängen und eben keinen vermeintlichen Endpunkt in der ideologisch-systemischen Synthese der liberalen Demokratie finden. Bislang galt noch immer: Zwar können einzelne Demokratien sterben, die Demokratie an sich hat jedoch bis heute überlebt. 

Aber bleibt das auch weiterhin so? Die amerikanischen Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt und Steven Levitsky betitelten ihre viel beachtete Auseinandersetzung mit der demokratischen Regression der vergangenen Jahrzehnte mit „How Democracies Die“ (2018), während der britische Historiker David Runciman für seine im selben Jahr erschienene Analyse den Titel „How Democracy Ends“ wählte. Die Buchtitel verdeutlichen, dass die konkrete Beschäftigung mit den Herausforderungen, vor denen einzelne demokratische Staaten stehen, und die theoretischen Diskussionen über das Überleben der Demokratie beziehungsweise das Leben in einem möglicherweise postdemokratischen Zeitalter Hand in Hand gehen.14 Die Sorge gilt heute nicht nur einzelnen Demokratien, sondern zugleich auch der Demokratie als Staatsform. 

Das liegt nicht zuletzt daran, dass immer weniger eindeutig ist, was eigentlich unter Demokratie zu verstehen ist, wer sie verteidigt, und wer sie angreift. Während sich etwa die Feind*innen der Demokratie in den 1920er und 1930er Jahren in ihrem Anliegen, den Parlamentarismus durch Einparteiensysteme und „Führerkult“ ersetzen zu wollen, offen zu erkennen gaben, ist es heute weitaus schwieriger, anti-demokratische Strategien und Figuren zu identifizieren. Wenn sich Politiker*innen wie Trump, Orbán aber auch die AfD-Spitzen hierzulande als die „wahren Demokraten“ respektive „Volksvertreter“ und damit als die eigentlichen „Verteidiger der Demokratie“ inszenieren, wird der Begriff der „Herrschaft des Volkes“ umgedeutet und ausgehöhlt. Zurück bleiben Bürger*innen, die weder zuverlässig zwischen Freund und Feind noch zwischen den unterschiedlichen Auslegungen der Demokratie unterscheiden können.

Zugleich gefährdet das populistische Denken alle Ebenen des demokratischen Zusammenlebens, indem es eine Weltsicht populär macht, die von verfeindeten Fronten und unüberwindbaren Gräben ausgeht. Egal, ob wir über Identität sprechen, über Kultur oder Außenpolitik, die Gegensätze scheinen unversöhnlich, ein Schwarz und Weiß, Pro und Kontra ohne Grautöne oder solidarische Momente. Hinzu kommt, dass liberale Gesellschaften sich mehr und mehr mit Streitpunkten beschäftigen, die von Populist*innen vorgegeben und in sozialen Medien verbreitet werden, während strukturelle Probleme aus dem Fokus zu geraten scheinen. Die systematische und verdeckte Beschlagnahmung der demokratischen Idee durch ihre Widersacher*innen scheint viel bedrohlicher als offene Umsturzversuche.

Der zur  Tagung erschienene Band Fragile Demokratien versammelt Beiträge internationaler Expert*innen aus verschiedenen Disziplinen. Aus unterschiedlichen inhaltlichen Perspektiven aber auch mit ihren verschiedenen biographischen und kulturellen Prägungen diskutieren die Autor*innen Entwicklungen, Herausforderungen und Chancen für demokratische Staatsformen. Sie blicken dabei auf verschiedene Länder und Regionen der Welt und liefern historische ebenso wie gegenwartsorientierte Analysen. Sie gehen auch übergreifenden Fragestellungen nach: Welche Faktoren schwächen Demokratien? Ab wann sind Demokratien nicht nur herausgefordert, sondern bedroht? Was müssen Demokrat*innen tun, um sich gegen anti-demokratische, autoritäre oder faschistische Tendenzen zu wappnen? Und wie kann eine (bessere) demokratische Zukunft aussehen?

(Anti-)Fragile Demokratien als Zukunftsmodell 

Lässt sich dennoch hoffen, dass sich die Demokratie auch diesmal gegen das ihr oft prophezeite Ende zur Wehr setzen kann? Beispiele wie Polen, wo sich die Bürger*innen bei der Wahl im Oktober 2023 ihre liberale, offene Gesellschaft zurückgeholt haben, oder Indien, wo Premierminister Modi im Juni 2024 die absolute Mehrheit verloren hat, nähren die Hoffnung, dass die Demokratien dieser Welt auf Angriffe zu reagieren wissen. 

Die größte Stärke der Demokratie, so sieht es etwa die Ökonomin Vanessa A. Boese, liegt in der systemimmanenten Anpassungsfähigkeit.15 Die gelebte Demokratie ist kein unveränderlicher Idealzustand, sondern stets flexibel und in der Lage, auf Krisen und Herausforderungen zu reagieren. Gerade angesichts drängender globaler Zukunftsfragen – von der Klimakrise, über Migration, soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Stabilität bis zur Digitalisierung der Arbeits- und Lebenswelt und den weltweiten kriegerischen Konflikten – bieten Autokratien, die den Status quo innerhalb der eigenen Grenzen mit aller Macht zu erhalten versuchen, keine wirklichen Lösungsansätze. Demokratien, so Boese, seien im Gegensatz zu Autokratien nicht nur von universalem Wert sind – als ideales politisches Ökosystem für die Entfaltung des in die Gemeinschaft eingebundenen Menschen (zoon politikon) –, sondern haben auch instrumentelle und strukturelle Vorteile. So sind beispielsweise Wirtschaftswachstum und Armutsbekämpfung in demokratischen Staaten im Durchschnitt erfolgreicher als in Autokratien, was sich wiederum positiv auf die politische Stabilität auswirkt. Von einer prosperierenden Marktwirtschaft, in der ein wachsender Mittelstand nach rechtsstaatlicher Stabilität und politischer Teilhabe verlangt, geht häufig eine nachhaltig demokratisierende Wirkung aus. Zwar zeigen Länder wie China oder Singapur, dass rasanter ökonomischer Aufschwung nicht immer einen demokratischen Unterbau benötigt, doch in der Gesamtschau scheitern die allermeisten Autokratien daran, breiten gesellschaftlichen Wohlstand zu gewährleisten – ganz zu schweigen von Strukturen sozialer Absicherung.16

Auch um die Gesundheitsversorgung ist es in Demokratien in der Regel besser bestellt als in autokratischen Systemen. Während der Corona-Pandemie etwa, einer globalen Krise unvorhersehbaren Ausmaßes, starben mehr Menschen in autokratisch regierten Staaten als in demokratischen, obwohl jene oft rigoroser, schneller und weitreichender auf die Notlage reagierten als die an parlamentarische Abstimmungen und Bürgerrechte gebundenen Länder. Ein Vergleich zwischen der strikten Vorgehensweise Chinas und dem liberalen, auf bürgerlicher Verantwortung basierenden Umgang in westeuropäischen Staaten führt dies vor Augen.17

Demokratien stärken das friedliche Miteinander innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen. Sie bekämpfen sich in der Regel nicht gegenseitig, sondern versuchen im Verbund nach friedlichen Lösungen zu suchen. Empirisch gesehen sind daher Regionen umso sicherer, je mehr Demokratien sich dort befinden.18 Darüber hinaus begünstigen Demokratien den inneren Zusammenhalt, ein Zusammenhalt, der sich in liberalen Gesellschaften gerade deshalb verfestigt, weil er nicht gegeben ist, sondern immer wieder neu ausgehandelt werden muss. 

Versteht man, im Sinne Hannah Arendts, Politik als das stete Miteinander-Reden und Miteinander-Handeln von Menschen zum Zwecke einer Verbesserung des Allgemeinwohls19, dann bietet die Demokratie die besten systemischen Voraussetzungen dafür, die sich wandelnden Interessenlagen und divergierenden Bedürfnisse in Einklang zu bringen und einen immer wieder neuen und tragfähigen Konsens herzustellen. Die Pluralität und Heterogenität von Sichtweisen und Menschen fungiert damit als Motor des demokratischen Fortschritts. Gerade aus den Unterschieden entwickeln sich Strategien, mit Unvorhergesehenem und Unbekanntem umzugehen. 

Mit Blick auf die Dynamik, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Demokratie spricht der libanesische Wirtschaftswissenschaftler Nassim Nicholas Taleb deshalb bewusst nicht von stabilen oder robusten Systemen, sondern von anti-fragilen.20 Demokratien seien glücklicherweise kein robustes Bollwerk, sondern ein flexibles Konstrukt, das permanent auf veränderte Realitäten reagiert, Widersprüche aushält und das durchaus durch dosierte Erschütterungen gestärkt werden kann. Demokratien entwickeln Widerstandskraft und Handlungsfähigkeit allerdings nur dann, wenn sie von den in ihnen lebenden Bürger*innen nicht als starre oder vollendete Form, sondern als nie endender Versuch verstanden werden, sich mit den Bedürfnissen, Herausforderungen und Widersacher*innen ihrer Zeit auseinanderzusetzen. Je besser es Demokratien gelingt, die immer wieder neue Zusammensetzung des démos, die damit einhergehende Neuordnung der Interessenlagen sowie den vielstimmigen Umgang mit künftigen Herausforderungen zum integrativen Bestandteil zu machen, desto stabiler bzw. anti-fragiler werden sie – und desto länger wird ein Ende auf sich warten lassen.

Dabei sind Demokratien aber nicht gleich Demokratien, weder im synchronen noch im diachronen Vergleich. Jede Demokratie hat ihre eigene Entstehungsgeschichte und ist von landesspezifischen Konstellationen geprägt. Bei all ihrer Verschiedenheit stehen demokratische Staatsformen aber nicht selten vor ähnlichen Herausforderungen. Sie beeinflussen sich in ihren Entwicklungen gegenseitig und können füreinander, im Positiven wie im Negativen, Vorbild- oder Modellcharakter haben. Die Gegenwart und Zukunft der Demokratien hängt nicht zuletzt davon ab, wie sie voneinander und miteinander lernen und auf globale Herausforderungen – von der fortschreitenden Digitalisierung bis zur Klimakrise – reagieren. 

Denis Heuring ist Literaturwissenschaftler und Romanist. Er unterrichtete französische und spanische Literaturwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er 2018 mit der Dissertation Verdrängen und Erinnern im Theater. Bürgerkrieg und Diktatur im spanischen Drama nach 1975 promoviert wurde. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter des NS-Dokumentationszentrums München realisiert er interdisziplinäre Publikations- und Veranstaltungsprojekte. Seine Expertise liegt in den Bereichen transnationale Erinnerungskultur, Literaturtheorie und Medienethik.

Paul-Moritz Rabe ist Historiker mit Schwerpunkten NS-Geschichte, Stadtgeschichte und Public History. Er studierte Geschichte und Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und war dort zwischen 2012 und 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zeitgeschichte. Seine Dissertation Die Stadt und das Geld. Haushalt und Herrschaft im Nationalsozialismus (2017) wurde mit mehreren Forschungspreisen ausgezeichnet. Er ist seit 2017 am NS-Dokumentationszentrum München tätig, wo er die Bereiche Forschung und Publikationen sowie den entstehenden Erinnerungsort Neuaubing leitet. Zuletzt erschien das von ihm herausgegebene Buch Jan Bazuin. Tagebuch eines Zwangsarbeiters (2022, illustriert von Barbara Yelin).

Mirjam Zadoff ist Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München. Zuvor war sie Professorin für Geschichte und Inhaberin des Alvin H. Rosenfeld Chairs in Jewish Studies an der Indiana University Bloomington. Gastprofessuren führten sie unter anderem nach Zürich, Berkeley, Berlin oder Augsburg. Aktuell lehrt sie an der LMU und der TUM München. Sie ist Herausgeberin und Autorin zahlreicher Bücher, Ausstellungskataloge und Artikel, darunter zuletzt: Gewalt und Gedächtnis. Globale Erinnerung im 21. Jahrhundert (2023); TO BE SEEN. Queer Lives 1900-1950 (2023), Trotzdem sprechen (2024); sowie Fragile Demokratien (2024).

Anmerkungen

1 Die Herausgeber*innen dieses Sammelbandes haben es den Autor*innen freigestellt, ob und wie sie gendern.
2 Vgl. Fragile Demokratien – Fragile Democracies: 1923/1933/2023, Internationale Tagung vom 22. bis 24. März 2023, NS-Dokumentationszentrum München; Informationen zu den Konferenzinhalten sowie mitgefilmte Beiträge finden sich unter: www.nsdoku.de/fragile-demokratien [aufgerufen am 7. 6. 2024].
3 Vgl. zum Beispiel URL : www.wahlrecht.de/umfragen/landtage/index.htm [aufgerufen am 4. 6. 2024].
4 Vgl. „Höcke wegen NS-Parole zu Geldstrafe Verurteilt“, in: Tagesschau, 14.5.2024, URL: www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/hoecke-verurteilt-100.html [aufgerufen am 7. 6. 2024].
5 Vgl. „Polizei ermittelt wegen öffentlicher Auftritte in Wehrmachts-ähnlichen Uniformen und Fahrzeugen am Vatertag“, in: Deutschlandfunk, 11. 5. 2024, URL: www.deutschlandfunk.de/polizeiermittelt-wegen-oeffentlicher-auftritte-inwehrmachts-aehnlichen-uniformen-undfahrzeugen-am-104.html [aufgerufen am 7. 6. 2024].
6 „‘Sieg Heil‘-Rufe in Münchner Traditionslokal“, in: SZ Online, 12. 6. 2024, URL: www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchenpolizei-augustiner-keller-hitlergruss-siegheil-lux.78fjo2RU1Chi5TLVBq8UYg [aufgerufen am 12. 6. 2024].
7 Vgl. Agnes Heller: Von Mussolini bis Orban: Der illiberale Geist, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, August 2017, URL: www.blaetter.de/ausgabe/2017/august/von-mussolini-bis-orban-der-illiberale-geist [aufgerufen am 7. 6. 2024].
8 Vgl. etwa Roger Cohen: Trump’s Weimar America, in: The New York Times, 14. 12. 2015, URL: www.nytimes.com/2015/12/15/opinion/weimar-america.html [aufgerufen am 4. 6. 2024]; Niall Ferguson: “Weimar America?” The Trump Show is No Cabaret, in: Bloomberg, 6. 9. 2020, URL: www.bloomberg.com/view/articles/2020-09-06/trump-s-america-is-no-weimar-republic [aufgerufen am 4. 6. 2024].
9 Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992, zit. nach Herfried Münkler: Die Zukunft der Demokratie, Wien 2022, S. 33 f.
10 Vgl. Vanessa A. Boese: Demokratie in Gefahr?, in: APuZ. Zeitschrift der Bundeszentrale für Politische Bildung, Zustand der Demokratie, 2021/26–27, S. 24–31, hier: S. 29.
11 Vgl. V-Dem Institute: Democracy Report 2024. Democracy Winning and Losing at the Ballot, URL: www.v-dem.net/documents/43/v-dem_dr2024_lowres.pdf [aufgerufen am 1. 6. 2024].
12 Vgl. Fukuyama 1992, zit. nach Münkler 2022, S. 34.
13 Vgl. zum Beispiel Boese 2021, S. 28 f. [aufgerufen am 6. 5. 2024] sowie Anna Lührmann/Staffan A. Lindberg: A Third Wave of Autocratization is Here: What is New about It?, in: Democratization 2019/7, S. 1095–1113.
14 Vgl. Colin Crouch: Postdemokratie, Berlin 2008.
15 Vgl. Boese 2021, S. 31.
16 Ebd.
17 Vgl. Seraphine F. Maerz u.a.: Worth the sacrifice? Illiberal and authoritarian practices during Covid-19, in: V-Dem Working Paper 2020/110, URL: www.v-dem.net/media/publications/wp_110_final.pdf [aufgerufen am 7. 6. 2024] sowie Boese 2021, S. 30.
18 Vgl. Boese 2021, S. 31.
19 Vgl. Hannah Arendt: Was ist Politik?, München 2003.
20 Vgl. Nassim Nicholas Taleb: Antifragile. Things That Gain from Disorder, New York 2012.