Im März 2023 richtete das NS-Dokumentationszentrum München in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Goethe-Institut die internationale Tagung „Fragile Demokratien. 1923 /1933 /2023“ aus. An drei Tagen diskutierten Expert*innen1 aus Politik-, Geschichts-, Kultur-, Natur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gemeinsam mit zahlreichen Besucher*innen über den Zustand der Demokratie – in Vergangenheit und Gegenwart, in Deutschland und verschiedenen Regionen der Welt.2 Den Anlass bildete zum einen die sich zum 90. Mal jährende Machtübernahme der Nationalsozialisten zwischen Januar und März 1933, und zum anderen der gescheiterte Umsturzversuch zehn Jahre zuvor, der sogenannte „Hitler-Putsch“ vom 8. und 9. November 1923. Beide Ereignisse erinnern daran, dass Demokratien sowohl plötzlich als auch schleichend enden können, sowohl durch Gewalt als auch durch eine friedliche Übergabe der Macht an autoritäre Herrscherstrukturen, durch einen offenen Umsturzversuch wie durch die allmähliche Zersetzung des Systems von innen.
Wenn sich Geschichte ähnelt
Fast zwei Jahre sind seit der Tagung vergangen, und die Sorge um die Demokratie ist akuter denn je. Tatsächlich hat sich seit der Tagung die Situation weiter zugespitzt. Während Deutschland im Frühsommer 2024 den 75. Geburtstag des Grundgesetzes feierte und damit an die aus dem Nationalsozialismus entstandene Verantwortung der Bundesrepublik erinnerte, ist die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestufte AfD Thüringen als stärkste Kraft in das Landesparlament eingezogen – und das auf den Tag genau 85 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. Bei den nationalen Ergebnissen der Wahlen zum EU-Parlament im Juni 2024 wurde die AfD zweitstärkste Partei in Deutschland; im Osten des Landes wurde sie mit Abstand stärkste Kraft. Ähnliche Prognosen lassen mit Sorge auf die Bundestagswahl am 23. Februar 2025 blicken.
Andererseits: Seit Ende 2023 gehen Hundertausende Menschen in deutschen Städten für Demokratie und gegen Rechtsextremismus auf die Straße. Schockiert über das öffentlich gewordene Geheimtreffen von AfD-Politiker*innen, Neonazis und Unternehmer*innen in Potsdam, die Skandale um einen rechtsextremen Europaabgeordneten, rassistische Gesänge in einer Nobel-Disko auf Sylt, die rassistischen Fake-Flugtickets als Wahlwerbung der AfD oder zuletzt die Geschehnisse um die Abstimmung im Bundestag rund um den Entwurf für ein sogenanntes „Zustrombegrenzungsgesetz“ erinnern die Demonstrierenden immer wieder lautstark an die historische Verantwortung Deutschlands. Banner und Sprechchöre rufen die Erosion der Weimarer Demokratie und den Aufstieg der Nationalsozialsten ins Gedächtnis. Fotomontagen statten AfD-Politiker*innen mit Nazi-Attributen aus. Und auch wenn sich die Endphase der Weimarer Republik nicht mit dem aktuellen Zustand unserer Demokratie gleichsetzen lässt, so führen diese Analogien eines deutlich vor Augen: Die gegenwärtige Sorge um die Demokratie speist sich hierzulande nicht zuletzt aus dem Wissen um die deutsche Vergangenheit.
Auch wenn Historiker*innen immer wieder darauf hinweisen, dass alarmistische Vergleiche Gefahr laufen, zu vereinfachen und Differenzen aus dem Blick zu verlieren, ist die Sorge um unser demokratisches System nachvollziehbar. Denn dass ungeachtet der 80 Jahre zurückliegenden nationalsozialistischen Diktatur und ihrer Verbrechen, Politiker*innen im heutigen Deutschland wieder SA-Losungen im Mund führen4, dass am Vatertag Männer in Wehrmachtsuniform5 unterwegs sind, oder in einem Münchner Bierkeller der Hitlergruß6 gezeigt wird, gehört zum beunruhigenden Zustand der letzten Jahre. Es muss wohl etwas dran sein an der Furcht vor den „echoes of history“, dem Widerhall der Geschichte, vor dem schon der Mark Twain zugeschriebene und zum geflügelten Wort gewordene Ausspruch „History never repeats itself, but it does rhyme“ warnte.
Während Deutschland, das trotz oder wegen seiner Diktaturerfahrungen im 20. Jahrhundert noch immer zu einer der gefestigtsten Demokratien der Welt gehört, sich um seinen liberalen Rechtsstaat sorgt, sind anderenorts schon längst jene „Brandmauern“ eingerissen worden, die man hierzulande noch zu stabilisieren versucht. In Italien regiert mit Georgia Meloni seit 2022 eine postfaschistische Politikerin, die auf europäischer Ebene Kompromisse eingeht, aber im eigenen Land bereits an einer Verfassungsänderung arbeitet, die das Parlament schwächen soll. In Frankreich reagierte Emmanuel Macron auf den klaren Sieg des rechtspopulistischen Rassemblement National bei den Europawahlen 2024 mit der Auflösung der Nationalversammlung; die Partei von Marine Le Pen landete bei den vorgezogenen Parlamentswahlen zwar hinter dem Linksbündnis Nouveau Front Populaire und Macrons Ensemble und verfehlte die angestrebte absolute Mehrheit. Durch diese Wahlergebnisse befindet sich die Republik aktuell in einer Phase der politischen Instabilität. In Ungarn, Viktor Orbáns „illiberaler Demokratie“, ein Begriff der auf Benito Mussolini (1883–1945) zurückgeht7, werden rechtsstaatliche Prinzipien schon so lange ausgehöhlt, dass Europa sich längst daran gewöhnt hat – ein Umstand, der die demokratische Fragilität der EU auf erschreckende Weise veranschaulicht. Und in Österreich wurde Ende 2024 mit der FPÖ zum ersten Mal eine rechtsextreme Partei mit der Regierungsbildung beauftragt.
Blickt man noch etwas weiter, sieht es nicht besser aus: Der anfangs liberal agierende Recep Tayyip Erdoğan baute die Türkei in den vergangenen zwei Jahrzehnten Stück für Stück in ein autokratisches Präsidialsystem um. Der russische Präsident Vladimir Putin, auf den Deutschland zu Beginn seiner Amtszeit große Hoffnungen gesetzt hatte, hat sich in zaristischer Manier zum Alleinherrscher gemacht. Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem Angriffskrieg auf die Ukraine bestätigte er seine neoimperialen Ambitionen. In Indien, der einst bevölkerungsreichsten Demokratie der Welt, nutzte Premierminister Narendra Modi seine beiden ersten Amtszeiten, um die Verfassung des Landes in den Dienst einer hindu-nationalistischen und minderheitenfeindlichen Politik zu stellen. Die Demokratieentwicklung auf dem afrikanischen Kontinent wird durch post- und neokoloniale Abhängigkeiten gebremst und erlebte jüngst aufgrund von Staatsstreichen und Putsch-Versuchen herbe Rückschläge. Und im Herbst 2024 kehrte mit Donald Trump der wohl einflussreichste Populist unserer Zeit an die Spitze der Demokratie zurück, die bis zu seiner ersten Amtszeit als die stabilste galt. Am 6. Januar 2021, als Trump seine Anhängerschaft zum Sturm auf das Kapitol ermutigte, bestätigte sich, was aufmerksame Kommentator*innen schon zuvor festgestellt hatten: Amerika war auf dem Weg zu einem „Weimerica“.8 Heute herrscht die traurige Gewissheit, dass Millionen von US-Amerikaner*innen ihre Stimme bewusst einem verurteilten Kriminellen und skrupellosen Machtmenschen anvertraut haben, der demokratische Prinzipien missachtet und sich dafür feiern lässt. Unterstützt durch den reichsten Mann der Welt, Tech-Milliardär Elon Musk.