Quellen
Archiv des Bezirks Oberbayern, Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, Patientenakten Nr. 9350.
Eintritt frei
Direktorenwitwe, Opfer der NS-‚Euthanasie‘
Charlotte O. (Pseudonym) wuchs als Tochter wohlhabender Gutsbesitzer mit ihrem Bruder und ihrer Schwester in der Nähe von Moskau auf. Sie besuchte keine Schule, sondern bekam zu Hause Privatunterricht. Mit 22 Jahren heiratete sie einen promovierten Chemiker, der später Direktor einer Fabrik in Moskau wurde. Die Ehe blieb kinderlos.
Nach der russischen Oktoberrevolution floh sie 1917 zusammen mit ihrem Ehemann vor den Bolschewiken nach Deutschland, in die Stadt München. Über viele Jahre ihres Lebens ist nichts bekannt. Nachdem sie Witwe geworden war, verarmte die einst vermögende Charlotte O. Im Altersheim bekam sie Probleme mit den Mitbewohnern und fühlte sich verfolgt. Sie wurde in die Psychiatrische Abteilung des Krankenhauses Schwabing überwiesen. Charlotte O. wollte jedoch gerne wieder ins Heim zurück, sagte, sie wisse nicht, weshalb sie ins Krankenhaus gekommen sei, forderte Gerechtigkeit und gleiche Behandlung für alle. Da das Heim sie nicht mehr aufnehmen wollte und sie nicht alleine leben konnte, wurde Charlotte O. am 22.6.1939 in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar verlegt.
Charlotte O. war sich der Vorurteile bewusst, die gegenüber Anstaltspatienten herrschten. An eine Freundin schrieb sie am 18.9.1939: „Warum kommst Du denn nicht? Du weißt wohl nicht, dass ich von hier nicht wegkommen kann, wenn Du mich nicht abholst? Du traust Dich vielleicht nicht nach Haar zu kommen, aber glaube das nur nicht, wenn dumme Menschen so was schwätzen: es wird Dir nichts passieren. Sei doch so gut und hole mich von hier sehr bald“ (BAObb, EH, Patientenakten Nr. 9350).
Als sie sich am 8.5.1941 den Oberarm brach, wurde Charlotte O. ärztlich nur minimal versorgt: „Bei der Unruhe und Uneinsichtigkeit der Patientin und der aussichtslosen Prognose außer Mitella [Armtragetuch] keine Therapie“ (ebd.). In den folgenden zwei Jahren wurde sie zwischen verschiedenen Abteilungen hin- und herverlegt. Über ihren Zustand ist in der Krankengeschichte kaum etwas dokumentiert. Im Dezember 1943 starb Charlotte O. an einer Lungenentzündung. Die Aktenführung der Krankengeschichte legt eine Tötung durch überdosierte Medikamente nahe.
Archiv des Bezirks Oberbayern, Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, Patientenakten Nr. 9350.