Quellen
Stadtarchiv München, JUDAICA-Memoiren 55, Bericht Kiky Gerritsen-Heinsius, deutsche Übersetzung aus dem Niederländischen.
Eintritt frei
Bei den Agfa-Camerawerken leisteten Frauen aus dem Widerstand Zwangsarbeit im KZ-Außenlager
Der Widerstand gegen das NS-Regime war ein Phänomen, das in unterschiedlichsten Formen im gesamten von Deutschland beherrschten Kontinent auftrat. Das Regime reagierte auf diese Herausforderung mit besonderer Härte und skrupelloser Gewalt gegenüber allen Formen von Opposition und Verweigerung. Widerstand einerseits, Verfolgung und Disziplinierung andererseits, fanden jedoch häufig an unterschiedlichen, vielfach weit voneinander entfernten Orten statt. So konnte auch München zu einem Ort der Repression von Widerstand werden, der anderswo geleistet wurde.
Exemplarisch spiegelt sich dieses Phänomen im Schicksal der 190 Niederländerinnen, die im Oktober 1944 über das KZ Ravensbrück nach München verlegt wurden. Die meisten waren wegen Widerstandsaktivitäten im Konzentrationslager Herzogenbusch (auch „Kamp Vught“ genannt, ca. 50 km südlich von Utrecht) inhaftiert gewesen. Der Vormarsch alliierter Truppen führte Anfang September 1944 zur Räumung des Lagers. Nur wenige Frauen wurden freigelassen. Die verbliebenen weiblichen Gefangenen wurden am 6. September 1944 in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert und von dort aus teilweise zur Zwangsarbeit an andere Orte überstellt.
Am 12.10.1944 kamen die 190 Niederländerinnen gemeinsam mit etwa 60 anderen Frauen, u. a. aus Frankreich, Belgien, Slowenien, Polen, Russland und Tschechien, nach München. Unter ihnen waren auch niederländische Jüdinnen, die erfolgreich ihre Herkunft verschleiern konnten. Ihr Bestimmungsort war ein Außenkommando des Konzentrationslagers Dachau in München-Giesing, wo sie als Zwangsarbeiterinnen für Agfa (Aktien Gesellschaft für Anilinfabrikation) eingesetzt werden sollten. Agfa war Teil des Industriekonglomerats I.G. Farben AG und betrieb an der heutigen Tegernseer Landstraße das Agfa Camerawerk. Hier waren in den letzten Kriegsmonaten annähernd 500 weibliche KZ-Häftlinge bei der Fertigung von Bauteilen für die V-1- und V-2-Raketen sowie von Zündern für Flakgranaten eingesetzt. Die niederländischen Frauen wurden in den leerstehenden Räumen eines nahegelegenen Neubaus untergebracht. Das Areal war mit Stacheldraht eingezäunt und verfügte über vier Wachtürme. Lagerführer war der Angehörige der Waffen-SS und der Dachauer Wachmannschaft Kurt Konrad Stirnweis.
Beispielhaft für das Schicksal der Frauen steht Kiky Heinsius, von der ein Lebensbericht vorliegt. Dieser Text ist gewissermaßen das Vermächtnis einer Gruppe niederländischer Frauen, deren Schicksal in München inzwischen in Vergessenheit geraten ist. Kiky Heinsius wurde wurde am 12.4.1921 in Amsterdam geboren. Während der Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren war Kikys Vater, ein Diamantarbeiter, häufig arbeitslos. Die Mutter besserte als Haushaltshilfe das Einkommen auf. Den Eltern, die der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei nahestanden und sich in der Arbeiter*innenbildungsbewegung engagierten, war eine gute Schulbildung der Kinder sehr wichtig. Kiky erwies sich als fleißige Schülerin. Sie entwickelte eine große Vorliebe für Literatur und besuchte, anders als die meisten Arbeiter*innenkinder, das Gymnasium, wo sie Ende der 1930er-Jahre Abitur machte. Während der Besatzung war die Stimmung im Hause Heinsius stark anti-Deutsch.
Kikys Aktivitäten im Widerstand waren die Folge ihrer persönlichen Kontakte zu Jüdinnen*Juden und ihrer Bereitschaft, Freund*innen in Not Hilfe zu leisten. Erledigte sie anfänglich Einkäufe in Geschäften, die für Jüdinnen*Juden verboten waren, erweiterte sich mit der Verschärfung der judenfeindlichen Maßnahmen auch ihr Widerstandshandeln. Unmittelbar betroffen war Kiky 1941, als ihr bester Freund Rudolf (Rudy) Richter im Juni bei einer als Vergeltungsaktion bezeichneten Razzia in Amsterdam verhaftet und mit anderen jungen jüdischen Männern nach Mauthausen verschleppt wurde, wo er am 31.8.1941 ums Leben kam. Als ein anderer jüdischer Freund, Leendert (Leo) Zwart aus Harderwijk, 1942 den Befehl erhielt, sich in einem Arbeitslager zu melden, tauchte Kiky gemeinsam mit ihm unter. Leo Zwart wurde jedoch am 6.11.1942 auf offener Straße verhaftet und über das Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz deportiert, wo er am 28.2.1943 ermordet wurde. Kiky war damit ins Fadenkreuz der Polizei geraten. Ihre Wohnung wurde durchsucht; sie selbst wurde vom SD verhört, durfte aber wieder gehen. Aus Angst vor Entdeckung stellte Kiky daraufhin die illegale Tätigkeit vorübergehend ein. Anfang 1943 half sie erneut: der junge Jude Siegfried (Sieg) Goldsteen war aus einem Straflager geflüchtet und suchte ein Versteck. Kiky brachte ihn zunächst in ihrer Wohnung unter und sorgte später für weitere konspirative Unterkünfte. In der Folgezeit intensivierte sie ihre risikoreiche Hilfstätigkeit für untergetauchte Juden, versteckte Flüchtige in ihrer Wohnung, arbeitete mit andern „stillen Helfern“ zusammen und fungierte als Kurier. In der Nacht vom 1. zum 2.2.1944 wurde Kikys Wohnung durchsucht. Kiky und Sieg wurden verhaftet, weil man herausfand, dass Sieg Jude war. Kiky wurde ins KZ Vught verschleppt, kam von dort in das Konzentrationslager Ravensbrück und später zur Zwangsarbeit in das Agfa Kamerawerk in München.
Der Alltag der nach München verschleppten Frauen war geprägt von dem Bemühen, trotz einförmiger und erschöpfender Zwangsarbeit ein Mindestmaß an persönlicher Würde und Lebensqualität in einer feindlich gesinnten Umwelt zu sichern. Eine besondere Bedrohung stellten die massiven Luftangriffe der alliierten Bomberverbände dar. Während der Tages-Angriffe wurden die Frauen in der Fabrik eingesperrt; der Zutritt zu den Luftschutzräumen blieb ihnen verwehrt, aber sie konnten sich in den Fabrikkellern in Sicherheit bringen. Während nächtlicher Angriffe blieb den Frauen nur das Souterrain ihres Unterkunftsgebäudes. Signifikant – und ein wichtiger Hinweis auf das Selbstverständnis der Frauen als Widerstandskämpferinnen – ist ihr solidarisches Miteinander und das kollektive Aufbegehren gegen die bedrückenden Arbeits- und Lebensbedingungen: Wegen unzureichender Ernährung und stetig steigender Leistungsanforderungen verweigerten die Frauen im Januar 1945 die Arbeit – angesichts der lebensbedrohlichen Repressionen ein seltenes Beispiel von Mut und Solidarität. Sie konnten nicht ahnen, dass der SS-Lagerführer in Anbetracht des nahen Kriegsendes außer Strafappellen und Verhören kaum noch Machtmittel besaß, um die streikenden Frauen zu bestrafen.
Nach der Einstellung der Produktion am 23.4.1945 und angesichts der näherrückenden amerikanischen Truppen veranlasste die Leitung des KZ Dachau Ende April 1945 die Evakuierung der Frauen und erteilte dem Lagerführer Stirnweis einen Marschbefehl in Richtung Innsbruck. Aufgrund der besonnenen und menschlichen Haltung von Stirnweis konnten die Frauen jedoch nach einem zweitägigen Fußmarsch am 30.4.1945 beim Walserhof in Wolfratshausen von amerikanischen Soldaten befreit werden.
Stadtarchiv München, JUDAICA-Memoiren 55, Bericht Kiky Gerritsen-Heinsius, deutsche Übersetzung aus dem Niederländischen.