Christopher Street Liberation Day, New York City 1970 | © Getty Images / Fred W. McDarrah

Michaela Dudley

Weimar 2.0: Reflexionen zwischen Regenbogen und ‚Rosa Winkel‘

Michaela Dudley (*1961) ist Buchautorin, Journalistin, gelernte Juristin (Juris Dr., US), Queerfeministin und scharfzüngige Kabarettistin. Ihr Essay wurde im Katalog zur Ausstellung TO BE SEEN. queer lives 1900–1950 veröffentlicht.

„Die Entmenschlichung fängt mit dem Wort an, die Emanzipierung aber auch“1, so ermahne ich seit Jahren – in Interviews, in Kabarettstücken, in Kolumnen, in Vorträgen, in Workshops.  Der geflügelte Spruch, der meiner Feder entstammt, ruft dabei Bilder eines phönixartigen Aufstieges ins Gedächtnis. Eines Aufstieges aus der Asche, wohl bemerkt. Gewagt, aber gewollt. Mit dem Leitsatz bin ich also darauf bedacht, nicht lediglich eine Lamentation zu artikulieren, sondern auch gleichsam zur Liberation aufzurufen. Das Zitat fungiert als Maxime meines neuen Essaybands zum Thema Rassismus2, es eignet sich jedoch ebenfalls als Appell gegen andere Formen der Ausgrenzung und Vernichtung. Dazu zählt eindeutig die systematische, jahrhundertelange Verfolgung der LGBTIQ*-Community.

 

TO BE SEEN. queer lives 1900–1950 widmet sich dieser Thematik mit dem Fokus auf der facettenreichen und folgenschweren deutschen Verstrickung. Die Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums München sprengt dabei den Rahmen, und zwar mit einer diversen Auswahl an Kunstwerken und Exponaten, die Licht ins Dunkel einer entsetzlich finsteren Geschichte bringen. Um die Sichtbarkeit geht es. Die Protagonist*innen von damals, aufgrund ihrer sexuellen Selbstbestimmung erbarmungslos verfolgt, erhalten damit nun die Anerkennung, die sie verdienen. Die Ausstellung begleitet sie auf ihrem Leidensweg, in ihrer Leidenschaft. Sie waren Opfer, aber auch Tatkräftige, und sie werden als Menschen porträtiert. In Anbetracht dessen ehrt und rührt es mich, in dem vorliegenden Katalog nebst den Werken anderer Künstler*innen und  Kommentator*innen mit einem Beitrag erscheinen zu dürfen.

Meine Bilder male ich zwar mit Worten, aber meine Botschaft entsteht trotzdem, und gerade deswegen, auf einem grundierten Hintergrund. Maler*innen grundieren für gewöhnlich ihre Leinwand von der Mitte nach außen hin, um die Spannung im Gewebe möglichst gleichmäßig zu verteilen. Von der richtungsweisenden Technik möchte ich ebenfalls Gebrauch machen. Ich beginne vielmehr inmitten der Geschichte und teile nach allen Seiten aus, um die Spannung in meinem eigenen Gewebe zum Ausdruck zu bringen.

Es ergibt sich die Frage, ob dieser Anlass der richtige dafür sei, mit nicht einmal dünn verschleierten Ich-Botschaften aufzuwarten. Die Frage stelle ich mir selbst, während ich in den Spiegel blicke. Geht es nicht eher um andere? Mein schielendes Selbstporträt antwortet, es geht um uns. Um uns alle. Und das stimmt eigentlich auch. Die Menschen, die diese Ausstellung ehrt, konnten über ihr oft fatales Verhängnis kaum ausführlich reden. Dementsprechend haben wir die moralische Verpflichtung, ihre Schicksale zu protokollieren, indem wir die Mosaiksteine ihrer Leben auflesen und sorgfältig zusammenfügen. Gleichwohl obliegt es uns, Brücken zu jenen Vorgänger*innen, ja Vorreiter*innen zu bauen, indem wir das eigene Leben reflektiert unter die Lupe nehmen. Stehen wir auf ihren Schultern? Oder stehen wir der Sache und somit uns selbst im Wege? Wie nützen wir diese gottverdammte „Gnade der späten Geburt“? Wofür setzen wir uns ein? Und ja, die Gretchenfrage schlechthin:

Gelingt es uns, in ihnen uns selbst zu erkennen? Hoffentlich.

Dr. Michaela Dudley, 2019 | © Dr. Michaela Dudley, Foto: Carolin Windel

Das dafür geeignete Mittel ist meines Erachtens das Storytelling, nämlich die sinnstiftende Erzählung aus dem eigenen Leben, um eine nicht zuletzt generationenübergreifende Gemeinschaft zu bilden und aufrechtzuerhalten. Dabei geht es wohl um Empathie und nicht zuletzt um Empowerment. Also Selbstbemächtigung statt Selbstbemitleidung. Für mich ist das Sujet Diskriminierung alles andere als eine Abstraktion. Diskriminierung erfahre ich mehrfach, nämlich intersektional.3 Denn ich bin eine Berlinerin mit afroamerikanischen Wurzeln, eine trans* Frau und eine Feministin. Ich komme wortwörtlich „vom anderen Ufer“, und zwar in etlicher Hinsicht. Das Licht der Welt erblickte ich 1961 im Schatten der Freiheitsstatue.

In kurzer Abfolge erlebte ich, wie die Kennedy-Brüder, Malcolm X und Martin Luther King ermordet wurden. Die Jim-Crow-Segregation erfuhr ich mit fünf Jahren in den Südstaaten. Im vermeintlich offeneren Norden der USA war es aber auch nicht ganz ohne. Gelegentlich spielte ich mit Kindern, deren Eltern Auschwitz-Birkenau und Dachau knapp überlebt hatten. Natürlich waren sie weiß, und gerade deshalb konnte ich nicht verstehen, warum andere Weiße sie böse beleidigten, auf sie einschlugen und noch dazu die Außenwände ihrer Häuser mit diesem komischen Sonnenrad besprühten. Mein Vater, ein deutschsprechender Kampfveteran der Air Force, der im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, klärte mich auf: „Leider sind wir Schwarzen nicht die einzigen Menschen, die gehasst werden.“

Eine weitere Aufklärung stand mir bevor. Im Sommer 1969, wenige Wochen vor der Mondlandung und Woodstock, brodelte es in der New Yorker Christopher Street. Ebenda wurde die queere Kneipe Stonewall Inn zum Dreh- und Angelpunkt einer Razzia korrupter Polizisten. Eine Schwarze trans* Frau namens Marsha P. Johnson (1945–1992) und eine bunte Palette anderer Gäste hatten von solchen menschenunwürdigen Schikanen die Schnauze voll. Marsha rief zum Widerstand auf. Als sie bei den Stonewall-Unruhen den ersten Stein warf4, war das die Initialzündung der modernen LGBTIQ*-Bewegung. Sechs Tage lang tobte es in Greenwich Village, und die Wellen brandeten rund um den Globus auf. Nicht seit der grundlegenden Arbeit des Berliner Arztes und Sexualforschers Magnus Hirschfeld (1868–1935) hatte es so einen bedeutenden Vorstoß in puncto Gay Rights gegeben.

Damals war ich allerdings zu jung, um die Folgen von Stonewall zu begreifen. Doch mit meiner Sozialisierung als Knabe war ich bereits zu dieser Zeit nicht ganz einverstanden. So wagte ich meine ersten Gay-Schritte als präpubertäre Prinzessin. Während die meisten Kerle draußen im Sandkasten wühlten, ergötzte ich mich am Schminktisch meiner Mutter, und ich zog die Mädchenklamotten meiner Cousinen an. Meine Oma väterlicherseits wusste Bescheid. Die Dame, bereits in den 1890er Jahren als Tochter ehemaliger Versklavter geboren, war glücklicherweise tolerant. Ich solle mich nicht schämen, anders zu sein, beteuerte sie, derweil sie mir durch die Locken fuhr. Ich müsse mich aber schützen. Unbedingt schützen. Es war also ein Vergnügen mit Vorbehalt. Rouge und Mascara konnte ich mir im Alltag abschminken. „Freedom scares a lot of people, and that fear scars many more.“ Diese Worte erwiesen sich als Prophezeiung.

Aktivistin und Dragartist Marsha P. Johnson demonstrierte am Bellevue Hospital in New York City gegen die unwürdige Behandlung von Obdachlosen und LGBTIQ*. | Foto: Diana Davies, 1968-1975 | © New York Public Library / Digital Collection

In meiner Jugend wurde ich bedroht und beschimpft, verwünscht und sogar vergewaltigt, so sehr ich auch versucht hatte, mein Queersein zu verbergen. Erst eine Dekade nach Stonewall fühlte ich mich so richtig imstande, den Drahtseilakt eines Doppellebens zu bewältigen. Dienstuniform und Drag. Ich war nämlich zur Seeoffiziersausbildung in San Francisco, meinem inneren Kompass gehorchend. Aber auch da, in der queeren Hauptstadt, verfinsterte sich der Regenbogen, und zwar nicht allein wegen des charakteristischen  Küstennebels. Der Bürgermeister George Moscone wie auch der Stadtrat Harvey Milk, ein unermüdlicher Gay-Rights-Aktivist, wurden erschossen. Deren Attentäter, der ehemalige Stadtrat Dan White, erhielt ein skandalös mildes Urteil, woraufhin sich die wütenden White Night Riots entfachten. Die Polizei revanchierte sich gegen das Aufbegehren. Beamte überfielen zahlreiche Etablissements, die von Schwulen und Lesben frequentiert wurden, und gossen damit mehr Öl ins Feuer. Das Castro-Viertel lag in Schutt und Asche.

Doch damit nicht genug: Unmittelbar danach brach die AIDS-Krise über San Francisco und über die ganze Welt herein. Die Mainstreamgesellschaft reagierte auf das tödliche Virus mit Händeringen, die Moralisten setzten auf Hetzparolen. Von der Kanzel aus gifteten Hassprediger gegen HIV-Positive. Das Hautkarzinom Kaposi-Sarkom sei „Schwulenkrebs“ oder „die Rache Gottes“5, und man müsse uns verbannen, schlichtweg einsperren. Absurde Forderungen, die wiederum nicht ohne historische Präzedenz gewesen waren. m Jurastudium Mitte der 1980er Jahre ist mir das strukturelle Ausmaß der Anti-Gay-Diskriminierung bewusst geworden. Dort, im Lande der „unbegrenzten Freiheit“, wurden einvernehmliche homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen noch in vielen Bundesstaaten strafrechtlich geahndet. Auch diesbezügliche Zwangseinweisungen in die Psychiatrie und unfreiwillige Konversionstherapien fanden statt.

Brennende Polizeiautos bei den White Night Riots im Zuge der Ermordung von Harvey Milk, San Franciso, 21. Mai 1979 | © Alamy Stock

Erst ein paar weitere Jahrzehnte später setzte sich Präsident Obama, nach anfänglichem Zögern, für LGBTIQ*-Rechte ein, darunter für die gleichgeschlechtliche Ehe und für den Schutz der trans* Soldat*innen. Als jedoch Donald Trump ins Weiße Haus einzog, warf er mit ein paar Tweets und Unterschriften die mühsam erkämpften Rechte zur sexuellen Selbstbestimmung de facto und de jure um ein halbes Jahrhundert zurück.6  Auch heutzutage, nach Trumps Ablösung durch den Demokraten Joe Biden, setzen US-Republikaner*innen ihre Kulturkämpfe fort. Floridas Gouverneur Ron DeSantis will mit dem als „Don’t say Gay“ Law bekannt gewordenen Schulgesetz den Unterricht über Geschlechtsidentität vom Kindergarten bis zur dritten Klasse verbieten.7 Georgia, Texas und andere Bundesstaaten wetteifern, um trans* Jugendliche in Rekordzeit aus dem Sport auszuschließen. 

Der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) beklagt: „In vielen Fällen schüren religiöse und politische Führer ein Klima des Hasses.“8 Weltweit wird Homosexualität in sage und schreibe 69 Ländern weiterhin kriminalisiert, und in elf Staaten steht darauf sogar die Todesstrafe.9 Auf europäischer Ebene zählen die Regierungen in Polen, wegen der Ausrufung sogenannter „LGBTQ-freier Zonen“10, und Ungarn, angesichts des „Werbeverbotes“11 gegen Homo- und Transsexualität, zu den Problemkindern. Was die Behandlung queerer Menschen auf dem Balkan betrifft, da stehen Länder wie Bulgarien, Bosnien und Herzegowina, zumindest inoffiziell, auch unter kritischer Beobachtung.12

Ja, ich führe Buch. Denn das Leben hat mich längst zur Aktivistin gemacht. Die Beschäftigung mit dem Hass ist also nolens volens zu meinem Beruf und zu meiner Berufung geworden. Bisweilen komme ich anderen und sogar mir selbst wie eine Art Kassandra vor. Eine Begebenheit, die ich mit meinem Chanson Jubel, Trubel, Heiserkeit13 aufzuarbeiten versuche. Ausgerechnet in der bunten Republik Deutschland, meiner Wahlheimat, erdreiste ich mich, vor „Weimar 2.0“14 eindringlich zu warnen. Eine Queerdichterin versus Querdenker*innen? So ähnlich. Denn wir stecken wieder in den Goldenen Zwanzigern, gleichsam zwischen Aufbruch und Apokalypse. Covid-19 übernimmt die Rolle der Spanischen Grippe, und die Politik wurde längst von der Pandemie infiziert.

Aufkleber mit der queerfeindlichen Parole „LGBT-freie Zone“, herausgegeben in der polnischen Zeitschrift Gazeta Polska | © Wikimedia Commons / Silar / Matinee71 / CC BY-SA 4.0

Diesmal sind die Demagogen digitalisiert. So organisieren wir ein paar Flashmobs gegen die Flammenwerfer, und wir basteln immer wieder mal an neuen Hashtags, um den homo- und transfeindlichen Hetzparolen Einhalt zu gebieten. Toll, wir sind woke, aber so was von. Doch aufgewacht bedeutet noch lang nicht durchdacht. In unserer geschichtsvergessenen Spaßgesellschaft bauen wir Safe Spaces auf noch ungeräumten Minenfeldern auf.

Der Tanz auf dem Vulkan entfaltet sich in allen schillernden Farben, und zwar ausgerechnet beim CSD, dem Corporate Sponsor Défilé. Offiziell heißt das Spektakel immer noch Christopher Street Day. Aber die einstige Pride-Parade mausert sich, hierzulande wie auch weltweit, zu einem Event, bei dem Markennamen es schaffen, Menschen wie Magnus Hirschfeld oder Marsha P. Johnson in den Schatten zu drängen. Party und Konsum statt echter Partnerschaft mit Konsensbildung. Am einfachsten meidet man das Haifischbecken kontroverser Themen überhaupt. Wenn das nicht geht, schwimmt man lieber irgendwie mit dem Strom. Diese Schwarmmentalität pflegt man fürwahr als „Zeitgeist“ zu etikettieren. Eine nachvollziehbare Bezeichnung. Dem jetzigen Zeitgeist, der übrigens sowohl innerhalb als auch jenseits der queeren Gemeinschaft herrscht, mangelt es allerdings am Zeitgefühl. Er fließt weitgehend unbekümmert an der Vergangenheit vorbei.

Wer kennt noch die Redewendung „am 17. Mai geboren“? Genau diese kaiserzeitliche Bezeichnung für „homosexuell“ fungierte als eine saloppe Anspielung auf Paragraf 175 des im Jahre 1872 in Kraft getreten Reichsstrafgesetzbuches, wodurch sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts verboten waren. Das Gesetz bot den Nationalsozialisten eine Steilvorlage, als sie 1933 an die Schalthebel der Macht gelangten. 1935 hoben sie die Höchststrafe von sechs Monaten bis auf fünf Jahre an. Mittels des Zusatzes 175a gegen die „schwere Unzucht“, darunter die männliche Prostitution, wurde die Freiheitsstrafe bis auf zehn Jahre Zuchthaus verschärft.15 Während der willkürlichen Schreckensherrschaft wurden bis zum Jahre 1945 circa 57.000 Männer gemäß Paragraf 175 von deutschen Gerichten verurteilt. Davon landeten Tausende in Konzentrationslagern, wo sie den berüchtigten „Rosa Winkel“ als Kainsmal tragen mussten. Dabei war die Gestapo, im Unterschied zur Kriminalpolizei, zu jedweder Zeit dazu berechtigt, Schutzhaft gegen männliche Homosexuelle anzuordnen, und zwar trotz eines Freispruches.16 Überdies wurden zum Teil auch Frauen, die als lesbisch galten, von den Nazis verfolgt, inhaftiert, zur Zwangsarbeit verdammt und ermordet. Einige endeten beispielsweise im KZ Ravensbrück oder wurden als Psychiatrieinsassinnen in sogenannten Heilstätten wie Bernburg gemäß der auch als „Sonderbehandlung“ bezeichneten Aktion 14f13 Opfer der NS-„Euthanasie“.17 

Das Deutsche Strafgesetzbuch von 1871 in der Ausstellung TO BE SEEN. queer lives 1900-950 | © NS-Dokumentationszentrum München

Diese Ausstellung beschäftigt sich mit der historischen Situation bis Anfang der 1950er Jahre. Doch auch im Anschluss war der Spuk noch nicht vorbei. Der Bonner Amtsgerichtsrat Richard Gatzweiler und der römisch-katholische Volkswartbund forderten 1951, lesbische sexuelle Handlungen unter Strafe zu stellen. „Was soll man aber mit einem Baum tun, dem die Fruchtbarkeit versagt ist?“, hieß es in Anlehnung an biblische Metaphern.18 Misogynie und patriarchales Gedankengut bilden seit eh und je wohl auch integrale Bestandteile der Homofeindlichkeit.

Es dauerte vier weitere Dekaden, bis die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Homosexualität aus ihrem Diagnoseschlüssel für Krankheiten strich. Die Ironie des Schicksals dabei: Es geschah ausgerechnet am 17. Mai 1990. Beschämenderweise wurde in Deutschland der Paragraf 175 erst 1994 abgeschafft. 2006 wurde der 17. Mai von der UNO zum internationalen Aktionstag gegen die Homophobie erklärt, namentlich auf Geheiß der damaligen LSVD-Sprecherin Sabine Gilleßen und des Franzosen Louis-Georges Tin. Die WHO brauchte wiederum bis 2018, um die Transsexualität nicht mehr als psychische Störung zu charakterisieren.

Mobile mit wichtigen Ereignissen in der LGBTIQ*-Geschichte nach 1950 in der Ausstellung TO BE SEEN. queer lives 1900-1950 | © NS-Dokumentationszentrum München

In Deutschland hoffen wir nun auf die Abschaffung des menschenunwürdigen Transsexuellengesetzes und dessen Ersatz durch das Selbstbestimmungsgesetz. Hierzulande wächst eigentlich die Zustimmung für die Regenbogen-Community insgesamt, die Akzeptanz wird sogar auf 86 Prozent taxiert.19 Gleichzeitig aber sinkt bei denjenigen, die uns nicht wohlgesonnen sind, die Hemmschwelle zur Hetze und zur Gewalt. Wir Betroffenen müssen uns entlang verschiedener Fronten verteidigen. Nicht nur gegen die Tätlichkeiten und das Gegeifer der üblichen, üblen Verdächtigen aus dem braunen Sumpf. Nein, wir haben es leider auch mit den etwas salonfähigeren Fundamentalist*innen zu tun, die allerdings nicht davor zurückschrecken, sich der Pseudowissenschaft und des Populismus zu bedienen. Beispielsweise zum angeblichen Schutz des Feminismus. J.K. Rowling und Alice Schwarzer lassen grüßen, und zwar aus dem Bunker der Binarität beziehungsweise dem Tante-Emma-Laden des vorigen Jahrhunderts.

Meinungsfreiheit? Ja, aber wie wäre es mit der Meinungsverantwortung, mit der historisch verankerten Meinungsverantwortung? Auch die „rechtskonforme“ Polemik gegenüber marginalisierten Menschen kann für diese gravierende Konsequenzen haben. Das bekam ein gewisser Herr namens Rudolf Brazda auf brutale Weise zu spüren, wobei seine Geschichte und sein robuster Wille zum Überleben gerade deswegen inspirieren. Rudolf Brazda, der im KZ Buchenwald inhaftiert war, gilt nämlich als der letzte noch lebende Zeitzeuge, der als KZ-Häftling den „Rosa Winkel“ tragen musste.20 Er starb fast hundertjährig im Jahre 2011. Der Regenbogen kommt nach dem Sturm, aber die trügerische Ruhe vor dem nächsten Sturm sollten wir nicht verkennen.

Quellen

1 Michaela Dudley, Race Relations: Essays über Rassismus, Bad Lippspringe 2022, S. iii. Siehe auch S. 166

2 Ebd. Siehe auch Michaela Dudley, Marathonlauf der Mehrfachdiskriminierung, in: das goethe, Kulturmagazin des Goethe-Instituts (Beilage in: Die Zeit), 2022/1, S.22

3 Siehe Kimberlé Crenshaw, On Intersectionality: Essential Writings, New York 2017

4 Michaela Dudley, Und sie warf den ersten Stein von Stonewall, in: Glitter – die Gala der Literaturzeitschriften, 2020/4, S.27–34. Dazu die musikalische Hommage: Michaela Dudley, Owed to Marsha. GEMA-Werknummer 24392279. Uraufführung am 25.8.2021, Sendung Kulturzeit, 3sat-Fernsehen, Mainz

5 Arndt Peltner, Manche starben im Gottesdienst: AIDS und Religion in San Francisco, in: Deutschlandfunk Kultur [gelesen am 24.4.2022]

6 Michaela Dudley, Wie wollen wir leben?, in: TAZ [gelesen am 28.4.2022]

7 Sonja Thomaser, „Don’t Say Gay Gesetz“-Gesetz: Disney-Erb:in outet sich als trans, in: Frankfurter Rundschau [gelesen am 22.4.2022]

8 LGBT-Rechte weltweit: Wo droht Todesstrafe oder Gefängnis für Homosexualität, in: LSVD [gelesen am 22.4.2022]

9 Ebd. Siehe auch Lucas Ramón Mendas u.a., ILGAWorld, State-Sponsored Homophobia: Global Legislation Overview Update, Genf 2020

10 Tagesschau, Diskriminierung: EU geht gegen Ungarn und Polen vor, in: Tagesschau, 15.7.2021 [gelesen am 15.7.2021]. Parallel zum Fernsehbeitrag von Astrid Corral, NDR Brüssel

11 Ebd.

12 Deutsche Welle, Queer Balkan – Im Kampf um gleiche Rechte, in: DW [gelesen am 11.4.2022]

13 Michaela Dudley, Jubel, Trubel, Heiserkeit, GEMA-Werknummer 20909652

14 Michaela Dudley, Der Tanz auf dem Vulkan: Berlin in den Goldenen Zwanzigern, in: taz [gelesen 20.5.2022]

15 Michaela Dudley, Der Regenbogen und die Wolken, in: Veganverlag [gelesen am 20.5.2020]

16 Ebd. Siehe auch Laurie Marhoefer, Lesbianism, Transvestitism, and the Nazi State: A Microhistory of a Gestapo Investigation, 1939–1943, in: The American Historical Review, 2016/121, S. 1167–1195 [gelesen am 4.3.2022]

17 Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück,  Gedenkzeichen für die lesbischen Häftlinge im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück [gelesen am 12.5.2022]

18 Andreas Pretzel, NS-Opfer unter Vorbehalt: Homosexuelle Männer in Berlin nach 1945,  Berlin u.a. 2002, S.306f. Siehe auch Gottfried Lorenz, Homosexuellenverfolgung in Hamburg, Ausstellung Staatsbibliothek Hamburg, 27.2.2007

19 Jacob Poushter und Nicholas Kent, The Global Divide on Homosexuality persists, in: Pew Research Center [gelesen am 28.5.2022]

20 Vgl. Anm. 6