Tagung

Fragile Demokratien – Fragile Democracies: 1923/1933/2023

Internationale Tagung vom 22. bis 24. März 2023

Vor 90 Jahren gelangte Adolf Hitler in Deutschland an die Macht. Im Januar 1933 ernannte ihn Paul von Hindenburg zum Reichskanzler. Wenige Wochen später, am 24. März 1933, ließ er das sogenannte Ermächtigungsgesetz verabschieden und besiegelte damit endgültig das Ende der ersten deutschen Demokratie. Bereits 10 Jahre zuvor, am 9. November 1923, hatten die Nationalsozialisten versucht, von München aus die Macht im Deutschen Reich an sich zu reißen, waren jedoch mit einem gewaltsamen Putschversuch gescheitert. 

Der ‚Hitlerputsch‘ 1923 und die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 zeigen exemplarisch, dass Demokratien sowohl plötzlich als auch schleichend enden können. Sie verweisen zugleich auf das mögliche Spektrum von antidemokratischen Entwicklungen, die vom offenen Umsturzversuch von außen bis zur allmählichen Zersetzung des Systems von innen reichen. In den vergangenen 100 Jahren tauchten weltweit immer wieder politische Gruppen und Figuren auf, die demokratische Systeme anzweifelten, aushöhlten oder angriffen – nicht selten mit Erfolg: angefangen bei Mussolini, Franco und Hitler bis hin zu Autokraten jüngerer Zeit wie Orbán, Erdoğan, Bolsonaro, Putin, Modi, Trump oder Meloni. Welche politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen fördern den Aufstieg von autokratischen Bewegungen? Und wie kommt es dazu, dass sich Teile der Bevölkerung gegen die eigene Souveränität entscheiden? 

Rückzug des Demokratischen

Seit rund zwei Jahrzehnten erlebt die Welt eine Autokratisierungswelle. Es gibt heute mehr Länder, die sich autokratisieren, als Länder, die sich demokratisieren – Tendenz steigend. Demokratien sind im weltweiten systemischen Vergleich in der Minderzahl. Selbst in Nationen mit vermeintlich stabilen demokratischen Verhältnissen wurden im Jahr 2021 grundlegende Bürgerrechte angegriffen. Dem Democracy Report 2023 des Göteborger Forschungsinstituts V-Dem (Varieties of Democracy) zufolge lebten im Jahr 2022 72% der Weltbevölkerung in Autokratien, nur etwa 13% in sogenannten liberalen oder vollständigen Demokratien. Auch der Economist Democracy Index der britischen Zeitung The Economist veröffentlichte 2022 ernüchternde Zahlen:  Als vollständige Demokratien stuft der Report lediglich 21 der 167 untersuchten Nationen ein – und damit 6,4 % der Weltbevölkerung. 

Einschätzungen wie sie der Economist Democracy Index oder der Democracy Report von V-Dem darstellen, beschreiben den Zustand und die Qualität von Demokratien weltweit anhand von Indikatoren wie den Grad der politischen Teilhabe, die Funktionsweise von Regierung oder Justiz, die Themen Medienfreiheit, Bürgerrechte oder Entwicklung der politischen Kultur. Ihre Auswertung bietet die Grundlage für die graduelle Einteilung der jeweiligen politischen Systeme in unterschiedliche Kategorien: Full Democracies, Flawed Democracies, Hybrid Regimes, Authoritarian Regimes (The Economist) – oder Liberal Democracies, Electoral democracies, Electoral Autocracies, Closed Autocracies (V-Dem). 

Was bedroht Demokratien?

Ziel der Tagung Fragile Demokratien im NS-Dokumentationszentrum ist es, nachzuvollziehen, wie sich dieser Rückzug des ‚Demokratischen‘ feststellen und erklären lässt. Dafür werden historische Lehren mit Gegenwartsdiagnosen in Beziehung gesetzt. Die Geschichte der Weimarer Republik dient dabei als historische Folie: Der ‚Hitlerputsch‘ 1923 und die Ermächtigungsgesetze der NSDAP vom 24. März 1933 sind die Ausgangspunkte für die Erörterung der Leitfragen. Beide Ereignisse bilden die Pole eines Spektrums antidemokratischer Angriffe, vom radikalen Umsturz bis zur systemischen Aushöhlung. Die Erosion der Weimarer Republik zwischen 1923 und 1933, die ein komplexes Zusammenspiel aus historischen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren sowie kontingenter Ereignisfolgen darstellt, soll deshalb zunächst im Spiegel der aktuellen historischen Forschung betrachtet werden. Im Anschluss werden gegenwärtige demokratieschwächende Entwicklungen untersucht und Autokratisierungstendenzen historisch eingeordnet.  Internationale Vertreter*innen aus Geschichts-, Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften analysieren und diskutieren an drei Tagen die Fragilität von Demokratien in verschiedenen Regionen der Welt, in Vergangenheit und Gegenwart. Spezifische historische Konstellationen werden dabei genauso in den Blick genommen wie sich ähnelnde Muster und Faktoren. Es wird außerdem auch um die Frage gehen, wie sich demokratische Gesellschaften gegenüber autoritären und faschistischen Tendenzen wappnen können.  

Themen und Panels

Tag 1 – Der Zerfall der Weimarer Demokratie

Der erste Tag widmet sich der Erosion der Weimarer Republik. Vier Vorträge von Michael Wildt, Daniel Hedinger, Stefanie Middendorf und Mark Jones sowie daran anknüpfende Diskussionen (Moderation Dirk Rupnow bzw. Moshe Zimmermann) beleuchten den Zerfall der ersten deutschen Demokratie im Licht neuester Forschungen. In der Abendveranstaltung „When History Rhymes …“ Vom Nutzen und Nachteil des historischen Vergleichs diskutieren Shulamit Volkov, Ulrich Herbert und Astrid Séville gemeinsam mit Moderatorin Alexandra Föderl-Schmidt über mögliche Erkenntnisgewinne wie auch Risiken und Herausforderungen des historischen Vergleichs und der Analogiebildung.

Tag 2 und 3 – Zur Entwicklung des Demokratischen seit 1945

Der Blick auf die Entwicklung (und den Rückgang) demokratischer Strukturen seit 1945 ist bewusst auf unterschiedliche Länder und Kontinente gerichtet. Die Kernfragen lauten: Welche historischen Strukturen tragen zur Schwächung von Demokratien heute bei? In welchen gesellschaftlichen und politischen Bereichen lässt sich die Erosion des Demokratischen feststellen? Und welche Rolle spielt die demokratische Praxis in der Bewältigung der Polykrise des 21. Jahrhunderts? 

Akteur*innen und Institutionen
Das Panel widmet sich den politischen Subjekten, die durch ihr individuelles und kollektives Entscheiden und Handeln das demokratische System mit Leben füllen. Zwei Vorträge von Thomas Etzemüller und Claudia Zilla zeigen exemplarisch, welche Rolle die politischen Institutionen und deren Glaubwürdigkeit für den Erhalt und die Stabilität von Demokratien spielen. Die Diskussion moderiert Felix Heidenreich. 

Diversität und Mitbestimmung
Wer darf mitbestimmen? Wer darf die Gesellschaft mitgestalten und wer nicht? In diesem Panel geht es um Bürgerrechte und um die Frage, wer von ihnen profitiert. Dabei ist auch zu prüfen, was Mitbestimmung mit systemischer Identifikation zu tun hat: Identifizieren sich diejenigen, die mitbestimmen und mitgestalten (dürfen), stärker mit dem System, in dem sie leben – und verteidigen es daher auch bereitwilliger? Diese und weitere Fragen diskutieren Mark Terkessidis und Naita Hishoono mit Ali Fathollah-Nejad. 

Wirtschaft und Wachstum
Die Weltwirtschaftskrise 1929 und die darauffolgende Große Depression waren entscheidende Triebfedern für den Zerfall der Weimarer Republik und für den Aufstieg der Nationalsozialisten. Doch nicht nur der Zustand der Wirtschaft bestimmt über den Grad demokratischer Stabilität. Auch das Wirtschaftssystem selbst steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Frage, welche demokratischen Rechte der Bevölkerung zugestanden werden. Es diskutieren Adam Tooze und Dipo Faloyin mit Benjamin Zeeb. Den zweiten Tag beschließt die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Megan Ming Francis mit einem Vortrag über Race, Inequality and American Democracy, moderiert von Heike Paul.

Erinnerung und Geschichte
Nationen definieren sich seit dem 19. Jahrhundert über eine gemeinsame Geschichte, dazu bedienen sie sich mythischer Erzählungen, die zumeist nur die Erfahrung einer Mehrheit wiedergeben. Die Diversifizierung von nationalen Narrativen sollte Teil der demokratischen Kultur sein, ist es aber oft besonders dann nicht, wenn es um das Gedächtnis von Gewalt und Genozid geht. Über den Umgang mit Erinnerung und Geschichte in Russland und Frankreich diskutieren Martin Schulze Wessel und Élise Julien. Das Panel moderiert Stefanie Schüler-Springorum. 

Medien und Öffentlichkeit
Die Medien nehmen als sogenannte ‚vierte Gewalt‘ eine zentrale Rolle in Demokratien ein. Sie sind einerseits Echokammern bestehender gesellschaftlicher Dynamiken, andererseits prägen und gestalten sie den öffentlichen Diskurs aktiv mit. Je nach Grad ihrer Unabhängigkeit bewahren sie demokratische Strukturen oder fungieren als verlängerter Arm antidemokratischer Strategien, im Besonderen im Fall der – als demokratische Plattformen geschaffenen – Sozialen Medien. Alice Bota und Philipp Lorenz-Spreen analysieren und diskutieren gemeinsam mit Moderator Carsten Reinemann. 

Kultur und Religion
Das Verhältnis von Religion und Staat hat großen Einfluss auf die Entwicklung von demokratischen Strukturen, was heute besonders anhand von ethnonationalistischen Tendenzen, zum Beispiel in den USA, beobachtet werden kann. Die Vorträge von Noam Zadoff und Çiğdem Akyol, moderiert von Shoshana Liessmann, diskutieren mit Israel und Türkei die Geschichte und Realität zweier unterschiedlicher, aktueller Beispiele im erweiterten europäischen Kontext. 

Die Zukunft der Demokratie
Das Abschlusspanel der Tagung bestreiten Jan-Werner Müller und Georg Diez. Sie diskutieren über die Zukunft der Demokratie und prüfen, wie leistungsfähig demokratische Systeme angesichts von Herausforderungen wie der Klimakrise oder der fortschreitenden Digitalisierung sind.

Das tagesaktuelle Programm mit allen Teilnehmer*innen und Uhrzeiten finden Sie unter nsdoku.de/fragile-demokratien

Parallel zur Tagung findet die Spring School des NS-Dokumentationszentrums statt, die sich an Multiplikator*innen und Lehrer*innen richtet. Diese nehmen sowohl am Tagungsprogramm als auch an begleitenden Workshops teil. Der Fokus der Spring School liegt auf der Frage, welche Rolle Erinnerungskultur für die Demokratie spielt. Informationen zur Spring School unter: nsdoku.de/springschool