Ein Zwangsarbeiterlager für sowjetische Kriegsgefangene in der Schwanseestraße in München-Giesing war Anfang des Jahres 1943 Ausgangspunkt und Zentrale der größten bekannt gewordenen Widerstandsorganisation ausländischer Zwangsarbeiter im Deutschen Reich. Die Organisation nannte sich „Brüderliche Zusammenarbeit der Kriegsgefangenen“ (russisch: Bratskoje Sotrudnitschestwo Wojennoplennych – BSW) und bestand ganz überwiegend aus sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter*innen („Ostarbeitern“). Am Aufbau waren hochrangige Offiziere der Roten Armee führend beteiligt: Roman Petruschel, Karl Osolin, Michail Kondenko, Iwan Korbukow und der Geheimdienstangehörige Josef Feldmann. Viele Angehörige der Widerstandsgruppe hatten die katastrophalen Bedingungen in den Kriegsgefangenenlagern ebenso überlebt wie die „Aussonderungsaktionen“ im Herbst 1941/42, bei denen die Münchner Gestapo fast 500 Gefangene im KZ Dachau exekutiert oder in das KZ Buchenwald verschleppt hatte.
Das Lager Schwanseestraße bestand aus zehn Baracken und war im November 1942 für 1200 sowjetische Kriegsgefangene errichtet worden. Schon bald gab es etwa 20 Widerstandsgruppen in anderen Zwangsarbeits- und Kriegsgefangenenlagern der Stadt und der näheren Umgebung, auch im KZ Dachau. „Ostarbeiterinnen“ übernahmen die Kurierdienste zwischen den einzelnen Lagern. Besondere Bedeutung hatte das Lager 25 in der Hofmannstraße. In dem dortigen Lazarett erhielten geflohene Kriegsgefangene Zivilkleidung und konnten sich dann als „Ostarbeiter“ etwas freier bewegen. Es bildeten sich Gruppen in anderen Städten, vor allem im süddeutschen Raum, in Wien und Prag, aber auch in Berlin und Hamburg. Sie waren militärisch aufgezogen und kommunistisch ausgerichtet, wandten sich aber an alle Nazigegner*innen. Im Frühjahr 1944 existierten polnische, französische, englische und jugoslawische Komitees der BSW.
Ihre Ziele waren: Sammlung von Gleichgesinnten, Kontaktaufnahme zu anderen, deutschen wie ausländischen Widerstandsorganisationen, Bekämpfung der NS-Propaganda unter den aus der Sowjetunion stammen Zwnagsarbeiter*innen, Behinderung der Anwerbung für die mit den Deutschen kollaborierende, russische „Wlassow-Armee“, Schwächung der Rüstungswirtschaft durch Sabotage oder „Arbeitsbummelei“, Nachrichtenbeschaffung für die Alliierten – und die Vorbereitung des bewaffneten Kampfes nach Beginn der erwarteten alliierten Invasion. Im Frühjahr 1943 gelang der BSW die Kontaktaufnahme zu einer deutschen antifaschistischen Gruppe, der Antinazistischen Deutschen Volksfront (ADV).
BSW und Antinazistische Deutsche Volksfront (ADV)
Die ADV war eine antifaschistische Organisation, deren Angehörige aus dem sozialistischen und kommunistischen Milieu stammten. Führende Rollen nahmen die beiden Schlosser Karl Zimmet und Georg Jahres, der Drucker Rupert Huber, der Maschinenbauer Hans Hutzelmann und seine Ehefrau Emma, von Beruf Kontoristin, ein. Zimmet, Huber und die Hutzelmanns kannten einander schon seit Ende der 1920er-Jahre aus ihrer gemeinsamen Zeit in der „Christlich Sozialen Partei“, einer sozialistischen Splitterpartei. Zimmet hatte schon vor Kriegsbeginn Flugblätter verfasst, die sein Bekannter Huber in einer Auflage von 100-200 Stück druckte. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 entstanden in rascher Folge weitere Flugblätter, die die Verbrechen des Regimes anprangerten und zu seinem Sturz aufriefen – anfangs noch mit dem Pseudonym „R. Härter“ oder „Deutsche Antifaschisten“ unterzeichnet.
Die Gruppenaktivitäten beschränkten sich zunächst auf gelegentliche gemeinsame Treffen zum Abhören von Feindsendern. Erst im Frühjahr 1943 wurde aus dem eher lockeren Kreis eine regelrechte Organisation, die ein politisches Programm verfasste und sogar eigene Beitragsmarken erstellte, um finanzielle Grundlagen für die illegale Arbeit zu schaffen. Im Juli 1943 wurde ein Flugblatt erstmals mit „Antinazistische Deutsche Volksfront“ unterzeichnet.
Der Kontakt zwischen beiden Gruppen entstand über Emma Hutzelmann. An ihrer Arbeitsstelle, der Fettfabrik Saumweber, lernte sie Wassili Koslow kennen, der den Kontakt zu Korbukow herstellte, dem Leiter des Münchner Stabes der BSW. Anfangs ging es lediglich um Informationsbeschaffung. Die Hutzelmanns gestatteten einigen Angehörigen der BSW, in ihrer Wohnung in der Margaretenstraße 18/I ausländische Radiosender abzuhören. Doch schnell entwickelten sich weitergehende Ziele. Auf mehreren konspirativen Treffen erarbeiteten beide Gruppen ein gemeinsames Aktions-Programm. Als Dolmetscher fungierte der tschechische Chemiker Karel Mervaert. Nun wurden Flugblätter gedruckt, unter anderem „Der Wecker“, der als regelmäßiger Informationsdienst der ADV erscheinen sollte; es entstanden zwei Ausgaben. In verschiedenen Betrieben versuchten die Gruppen, Zellen zu bilden, u.a. bei Krauss-Maffei und AGFA. In Zimmets Wohnung stand ein Kurzwellensender, um mit Gruppen in anderen Orten in Kontakt zu treten. Auch bereiteten sie sich auf eine bewaffnete Auseinandersetzung mit dem Regime vor und legten Waffenlager an.
Das Schicksal der beiden Widerstandsgruppen
Durch Spitzel informiert, verhaftete die Münchner Gestapo die ersten BSW-Mitglieder im November 1943. In den folgenden Wochen und Monaten wurden 383 sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter*innen festgenommen. Im Wittelsbacher Palais und im KZ Dachau wurden die Verhafteten schwer misshandelt, schon während der Vernehmungen gab es die ersten Todesfälle. Bald kam die Gestapo auch der ADV auf die Spur.
Anfang Januar 1944 wurden etwa 20 Mitglieder verhaftet. In zwei abgetrennten Verfahren, in München vor dem Sondergericht und vor dem Berliner Volksgerichtshof, erhielten die meisten Gefängnis- und Zuchthausstrafen. Huber, Mervaert und Hutzelmann wurden zum Tode verurteilt und am 15.1.1945 hingerichtet. Emma Hutzelmann gelang die Flucht aus der Haft, doch sie starb im Versteck während eines Bombenangriffs. Ihr Bruder, Ludwig Holleis, überlebte die Folterungen nicht und starb noch vor Verhandlungsbeginn in Haft. Jahres hatte schon kurz nach seiner Verhaftung Selbstmord begangen. Nur Zimmet überlebte: Er täuschte erfolgreich Geisteskrankheit vor, seine Gerichtsverhandlung fand bis Kriegsende nicht mehr statt.
Auch das Schicksal der BSW-Angehörigen war grausam: Mindestens sechs überlebten die Folterungen durch die Gestapo nicht. Die übrigen Verhafteten wurden sämtlich in Konzentrationslager eingewiesen. Die SS exekutierte 92 von ihnen am 4.9.1944 im Krematorium des KZ Dachau. Wie viele der Verhafteten überlebten, ist unbekannt. Anders als viele andere Widerstandsgruppen erfuhren insbesondere die Angehörigen der BSW in Deutschland nach 1945 keinerlei Würdigung. Dass es sich um eine vom sowjetischen Geheimdienst gesteuerte, terroristische Organisation gehandelt habe, wurde von ehemaligen Gestapo-Angehörigen auch nach dem Krieg in Spruchkammerverfahren und sogar in einer Publikation verbreitet. In der Zeit des Kalten Krieges, in der kommunistischer Widerstand im Allgemeinen nicht gewürdigt wurde, geriet die BSW in Vergessenheit.